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Diplomarbeit 1996: Margit Zellinger: Summerhill heute, Uni Salzburg
Zurück: (SH Meine ersten Eindrücke)
Fortsetzung: (3 Der Weg nach Summerhill)


3. A. S. Neill: Biographie

Wer war Alexander Sutherland Neill? "Einer der radikalsten Erziehungswissenschafter des 20. Jahrhunderts" 1, "ein genialer Erzieher"2 oder "ein Idylliker aus der pädagogischen Provinz"3?

Neill schreibt über sich selbst: "Ich bin in meinen Augen kein Lehrer, kein berühmter Erzieher und weit davon entfernt, ein gescheiter Philosoph zu sein. Ich sehe mich gern als einfachen Zeitgenossen, ... der eine gewisse Begabung darin hat, Wesentliches zu erkennen, ... und der so sehr an das Leben glaubt, daß für ihn, für mich jeder Versuch, es durch moralische Grundsätze, durch Regeln und Disziplin zu verändern, ein Verbrechen gegen die Natur des Kindes ist."4


Foto 11: A. S. Neill (36 kB)

3.1. Kindheit und Jugend

Neill stammt aus einer sehr rigiden schottischen Familie. Er wurde am 17. Oktober 1883 in Forfar, einer schottischen Bezirkshauptstadt, als viertes von acht Kindern geboren. Seine Eltern waren Lehrer, seine Mutter allerdings gab den Beruf auf, um sich ganz der Familie zu widmen. Sein Vater war Schulleiter im 2 km entfernten Kingsmuir.

Neills Mutter war darauf bedacht, daß ihre Kinder immer gestärkte, weiße Krägen trugen. Am Sonntag durften sie nicht wie andere Kinder im Dorf spielen gehen, sondern höchstens einen Rundgang in der Sonntagskleidung machen, und das erst, nachdem sie bestimmte "Verse eines Psalms .... auswendig gelernt hatten."5 Während der Woche war der Vater darauf bedacht, daß seine Kinder Hausaufgaben machten, denn aus ihnen sollten Akademiker werden. Kinder, die Holzhacker werden sollten, bekamen vom Lehrer keine Hausaufgaben. Das Spiel der Neill-Kinder mit den Dorfkindern wurde jeden Abend durch die Pfeife des Vaters unterbrochen, um sie z.B. zum Lernen der lateinische Grammatik anzuhalten. Neill war das viele Lernenmüssen verhaßt. Es gelang ihm auch nicht, sich zu konzentrieren und etwas aufzunehmen. Sein Vater war überzeugt davon, daß aus ihm nichts werden würde.

Auch Neills Großmutter mütterlicherseits wohnte bis zu ihrem Tod bei der Familie. Damals war Neill 14 Jahre alt. Sie war sehr fromm, und wenn Neill ein Schimpfwort gebrauchte, ließ sie ihn niederknien und "Gott um Vergebung bitten"6. Neill schreibt dazu: "Die frühe Angst vor der Hölle muß von ihr gekommen sein" 7. Einige Seiten weiter äußert er sich über sein Verhältnis zu Glaube, Religion und Sexualität: "Wir kannten die Meilensteine auf dem ‘Weg ins Verderben’, ohne daß man sie uns erst nennen mußte: Sex, Stehlen, Lügen, Fluchen und Entheiligung des Tag des Herrn. (Letzteres umfaßte so gut wie alles, was Spaß machte.)"8

Ein einschneidendes Erlebnis dazu hatte Neill im Alter von 6 Jahren, als er mit seiner um ein Jahr jüngeren Schwester Doktorspiele machte. Sie untersuchten einander und wurden von der Mutter erwischt, die beide schlug und niederknien ließ, um Gott um Vergebung zu bitten. Der später heimkommende Vater schlug sie noch einmal und sperrte Neill in ein dunkles Zimmer. "So lernte ich, daß Sex von allen Sünden die abscheulichste war."9
 

3. 2. Studium und Beruf

Mit 14 Jahren wurde Alexander Sutherland Neill Buchhaltungsgehilfe in einer Gasometerfabrik in Edinburgh. Sein Vater hatte beschlossen, ihn in die Arbeitswelt hinauszuschicken, und so arbeitete Alexander in einem "dunklen, übelriechenden Loch von Büro mitten in der Fabrik."10 Er schrieb bittere Briefe nach Hause, daß er lieber für die Beamtenprüfung lernen wolle, als länger inmitten dieses "Gestanks von Lötblei, Farbe und Gas"11 zu arbeiten.

Zu Hause klappte es aber mit dem Lernen wieder nicht, und so beschloß der Vater, daß Neill Tuchhändler werden sollte. Seine Hauptaufgabe hier bestand darin, von 7 Uhr 30 früh bis 8 Uhr abends Päckchen auszutragen. Er bekam große Probleme mit seinen Füßen und mußte auch diesen Beruf aufgeben. Er sollte nun noch einmal versuchen, sich auf die Aufnahme im Verwaltungsdienst vorzubereiten. Seine Konzentrationsfähigkeit war aber genauso schlecht wie früher, und sein Vater gab es auf, ihm etwas beibringen zu wollen.

Schließlich stellte ihn sein Vater an seiner Schule an, da Neill für nichts Besseres geeignet schien. Neill erinnert sich dazu: "‘Es ist hoffnungslos mit dem Jungen’, sagte mein Vater düster. ‘Dann soll er Lehrer werden’, schlug Mutter vor. ‘Dafür könnte es genügen’, sagte Vater grimmig und ohne zu lächeln."12

Neill wurde also als 15-jähriger Lehrer-Praktikant an der Schule seines Vaters in Kingsmuir. Nach zwei Jahren Lehrzeit mußte er eine Prüfung beim Schulrat ablegen. Im Prüfungsbericht des Schulrats stand: "Der Kandidat sei hiermit gewarnt, seine Arbeit ist rundherum schwach."13 Nach Beendigung der 4-jährigen Lehrzeit war noch einmal eine Prüfung zu absolvieren. Neill war unter den Prüflingen einer der schlechtesten. Er wurde nicht ins Lehrerausbildungs-College aufgenommen, sondern mußte als "Ex-Praktikant" noch zwei weitere Prüfungen bestehen. Dann konnte er ein Lehrerdiplom bekommen und als Hilfslehrer anerkannt werden.

Als Ex-Praktikant unterrichtete Neill an verschiedenen Schulen. Mit Widerwillen spielte er den "strengen Zuchtmeister"14. Nachdem er das Abschlußexamen bestanden hatte, war er als Hilfslehrer tätig und fest entschlossen, noch ein Universitätsstudium zu absolvieren.

Die Hürde der Aufnahmeprüfungen schaffte er nach mehreren Anläufen und 1908, im Alter von 25 Jahren, begann er das Universitätsstudium in Edinburgh. Er studierte zunächst ein Jahr Agrarwissenschaft, schließlich Anglistik. Nach 4 Jahren, am 5. Juli 1912, schloß er mit M. A. (Master of Arts) sein Studium ab, wohl wissend, daß er auf keinen Fall Lehrer werden wollte. "Der Gedanke, ich sollte mein Leben als Englisch-Pauker an irgendeiner zweitrangigen Provinzoberschule oder Akademie hinbringen, machte mich schaudern. Nein, das Lehramt würde meine letzte Zuflucht sein. ... Meine Zukunft lag im Journalismus"15. Während seines Studiums war er Herausgeber des Studentenmagazins "The Student". In dieser Zeit entwickelte Neill das erstemal auch Interesse für Politik, soziale Fragen und die Werke einiger damals moderner Schriftsteller. Drei dieser Schriftsteller waren mitbestimmend für seine Einstellung zum Sozialismus und hatten auch großen Einfluß auf seine Lebensphilosophie: H. G. WELLS16, G. B. SHAW17 und H. IBSEN18. Als Jugendlicher las Neill einige von WELLS Kurzgeschichten. Während Neills Studienzeit publizierte WELLS "Ann Veronica", eine Novelle, die sich mit der Freiheit der Frauen beschäftigte. Besonders interessierten Neill die mehr autobiographischen Werke von WELLS, wie z.B. "The history of Mr. Polly and Kipps". Inhalte dieser Geschichten erinnern an Neills Kindheit und Jugend. Mehr als WELLS Ideen über freie Liebe, Religion oder Politik fanden dessen scharf ironische Bemerkungen über die schäbige vornehme Handelswelt bei Neill Anklang19.

Bernhard SHAW attackierte in seinen Werken die meisten etablierten Institutionen der englischen Gesellschaft: Kirche, Familie, Schule etc. SHAWS Kritik artikulierte Neills noch konfuse, aber zutiefst gefühlte Antipathie gegenüber den konventionellen gesellschaftlichen Werten. Shaws Werke brachten Neills Sozialkritik an die Oberfläche. Eines seiner Medien, um soziale Übel aufzuzeigen, war das Drama. Aber es war das Drama bei Ibsen, das Neill begeisterte. Für den Studenten Neill waren Ibsens Werke von viel größerem Interesse als die klassischen Dramen, die er für seine Prüfungen studieren mußte. In einem seiner Artikel im "Student" wagte er die Behauptung, Shakespeare könnte durch das Studium von Ibsens Werke lernen. Sein Professor war ziemlich wütend darüber und warnte ihn, derartiges noch einmal zu publizieren20.

Nach Beendigung des Studiums arbeitete Neill ein Jahr als Redakteur an einer Enzyklopädie mit und ging schließlich nach London, um sich im Journalismus weiter zu versuchen. Er bekam eine Stelle als künstlerischer Assistent einer neuen Zeitung, des "Piccadilly", wo er Kurzgeschichten zu lesen und die besten für die Zeitung auszuwählen hatte. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges führte zur Schließung des "Picadilly" und Neill ging zurück nach Kingsmuir in Schottland. Er hatte, wie bereits erwähnt, gesundheitliche Probleme mit seinen Füßen, die plötzlich wieder schlimmer wurden. Daher war er nicht wehrfähig. Neill bezeichnete die Probleme mit seinen Füßen als "psychologisch bedingten Zustand"21, um sich vor dem Eintritt in die Armee zu schützen, da er im Grunde Angst davor hatte. Er bewarb sich um eine Stelle als stellvertretender Leiter der Gretna Green Schule, da der Leiter dieser Schule zum Militär mußte. Am 15. Oktober 1914 trat er diese Stelle an.

Seine Zeit in Gretna Green, seine Erfahrungen dort, waren für ihn ein intellektueller Wendepunkt. Früher war er noch bereit, sich innerhalb des Schulsystems anzupassen und auch ein strenger Lehrer zu sein. Er gibt zu, seine Schüler auch geschlagen zu haben. Doch zurück von London machte er sich Gedanken über Erziehungsfragen, entwickelte neue Ideen und erprobte sie in Gretna Green. "Es klingt absurd, daß ein Mann, der später als pädagogischer Ketzer bekannt wurde, die Laufbahn des Lehrers einschlug, weil er im Journalismus scheiterte und fürs Militär nicht genügend Mut hatte. Trotzdem machte ich mir in Gretna Green zum erstenmal Gedanken über Erziehungsfragen."22

In dieser kleinen, intimen Schule am Land mit 150 Schülern hatte er gute Möglichkeiten, mit seinen neuen Ideen von der Freiheit des Kindes zu experimentieren. "Es wäre töricht, zu behaupten, ich hätte, wenn ich gewollt hätte, auch als klassischer Pauker weiterarbeiten können, denn das hätte ich niemals fertig gebracht. Nach und nach merkten die Kinder, daß meine Disziplin der reinste Bluff war und daß es mir nicht das geringste ausmachte, ob sie etwas lernten oder nicht. Aus der stillen Schule wurde ein Gartenlokal voll Lärm und Gelächter. Aber wir hielten die üblichen Unterrichtsstunden ab, und sie lernten vermutlich nicht weniger, als wenn sie Angst vor mir gehabt hätten."23

Seine Zeit als Schulleiter in Gretna Green beschreibt er in seinem ersten Buch "A Dominie’s Log", das 1915 erschien. Es enthüllt die wichtigsten Punkte seines Zugangs zu Kindern in einfacher und humorvoller Weise. Dieses Buch verkaufte sich sehr gut. Es war der Beginn seiner Karriere, sowohl als Schriftsteller als auch als Kämpfer für die Freiheit der Kinder.

Seine Einflußnahme auf die Schule nach einjähriger Tätigkeit als Direktor beschreibt Neill folgendermaßen: "I have converted a hard-working school into a playground. And I rejoice. These bairns have had a year of happiness and liberty. They have done what they liked; they have sung their songs while they were working at graphs, they have eaten their sweets while they read their books. They have hung on my arms as we rambled along in search of artistic corners."24

Bereits zu dieser Zeit erfuhr Neill durch einen Zeitungsartikel von der Jaques Dalcroze Schule in Hellerau bei Dresden, an der er selbst 1921 seine erste eigene Schule starten sollte.
 

3. 3. Militärdienst

Vom Militär wurde Neill seiner Füße wegen zunächst als untauglich erklärt, mußte aber 1916 doch in ein Ausbildungslager, wo er wie alle anderen Soldaten von den Vorgesetzten schikaniert wurde. Als bekannt wurde, daß er ein M. A. (Master of Arts) sei, änderte sich das. Er wurde schließlich zum Kompaniechef geholt, weil Männer mit mathematischen Kenntnissen als Offiziere für die Artillerie gebraucht wurden. So begann seine Offizierslaufbahn, seine Ausbildung in verschiedenen Lagern im Kartenlesen, Schußlinienberechnen u.a. Nach der Abschlußprüfung kam er zu einem Offiziersverband und wartete darauf, nach Frankreich geschickt zu werden. Sein Name stand aber nie auf der Liste. Schließlich kam es im Lager zu einer Grippeepidemie, die ihn schlimm erwischte und Nervenzusammenbruch, Schlaflosigkeit und Alpträume zur Folge hatte. Damit endete seine Karriere als Soldat.
 

3. 4. Neill und Homer LANE

Neill wußte nun nicht recht, was er weiter machen sollte. Von einer Leserin seines ersten Buches "A Dominies`s Log" erfuhr er von Homer LANE und John RUSSEL. LANE25 war Begründer des "Little Commonwealth", einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter. RUSSEL war der Rektor der King Alfred School26, die als eine der fortschrittlichsten Schulen galt. Es gab dort keine Noten und keine körperliche Züchtigung.

Neill besuchte LANE noch während seiner Militärausbildung im Little Commonwealth und wurde dort Zeuge einer Heimversammlung. "Dieses Wochenende war vielleicht der bedeutendste Meilenstein in meinem Leben. LANE berichtete mir bis zum frühen Morgen von seinen Fällen. Ich wußte das eine oder andere über Erziehungsideen, aber ich hatte keine Ahnung von Psychologie."27

LANE kam 1913 aus den Vereinigten Staaten nach England und hatte schon früher mit "Selbstregierung" (self-government) experimentiert. Im "Little Commonwealth" gab es ein sogenanntes "Selbstregierungstreffen", bei dem die Jugendlichen ihre Meinung äußern und auch mitbestimmen durften. Es waren etwa 40 bis 50 Kinder (Kleinkinder bis 18-jährige), die vom Jugendamt oder von den Eltern geschickt wurden. Viele von ihnen hatten Bewährungsstrafen abzuleisten. LANE glaubte an die angeborene Güte der Kinder und hatte beachtliche Erfolge im "Little Commonwealth". Seine therapeutischen Maßnahmen waren psychoanalytisch motivierte "paradoxe Sanktionen", die auch Neill später verwendete, wenn er zum Beispiel Schüler zum Einschlagen von Fensterscheiben ermutigte, oder Diebe belohnte. Nach Beendigung seiner Militärzeit wollte Neill dort mitarbeiten. Als es dann soweit war, erfuhr er, daß das Little Commonwealth inzwischen geschlossen worden war und LANE in London lebte.

Da seine Mitarbeit bei LANE nicht möglich war, bewarb er sich bei John RUSSEL und wurde Lehrer an der King Alfred School. Bald jedoch merkte er, daß die Schule weit davon entfernt war, eine "freie" zu sein, sondern von moralischen Normen dominiert war. "Irgend etwas war abgestorben in den Schülern, wirkte tot. Es fehlte ihnen die rechte Lebensfreude"28. Neill schlug vor, die Selbstverwaltung einzuführen, durfte es auch in seinem Bereich versuchen, endete aber damit, daß die Schüler in seiner Stunde die Möglichkeit sahen, "Dampf abzulassen", und RUSSEL ihm schließlich sagte: "Einer von uns beiden muß gehen"29. Somit war er wieder stellenlos.

Seine literarischen Aktivitäten schienen erfolgreicher zu sein als seine erzieherischen. Er hatte bereits zwei "Dominie"-Bücher geschrieben, die viel Interesse fanden. "A Dominie’s Log" (191630), erzählt über seine Zeit als Schulleiter in Gretna Green. "A Dominie Dismissed" (191731), berichtet über seine weitere Geschichte als Dorflehrer.

Neill erhielt 1920 von BEATRIX ENSOR das Angebot, bei der Herausgabe der "New Era", einer internationalen Zeitschrift, in London mitzuarbeiten. Doch schon bald wußte er, daß er diese Aufgabe nicht lange machen würde. Er hatte für sich beschlossen, eine eigene Schule aufzubauen, und war neben seiner Arbeit immer auf der Suche nach einem geeigneten Platz dafür. 1921 war er als Reporter der "New Era" in Europa unterwegs. In Deutschland besuchte er in Hellerau die Familie Neustätter, die Eltern eines seiner früheren Schüler an der King Alfred School. Neill blieb in Deutschland und gründete 1921 mit Christine Bear und Lilian Neustätter die "Internationale Schule" in Hellerau. Dies war gleichzeitig der Beginn von Summerhill, obwohl die Schule erst später (1924) so benannt wurde. (vgl. dazu Kapitel 4)

Neill schrieb 19 Bücher (siehe dazu die Literaturliste) und hielt viel Vorträge auf der ganzen Welt (von Amerika bis Südafrika). In seinem Erziehungs-denken war er nicht von Pädagogen beeinflußt, sondern von Psychologen wie REICH, FREUD, SHEKEL und Homer LANE. Durch LANE kam Neill eigentlich erst zur Psychologie. Vorher wußte er nichts von FREUD und hatte nichts von Kinderpsychologie gehört. LANE öffnete ihm eine neue Welt. Nachdem das "Little Commonwealth" geschlossen worden war, ließ sich LANE als Analytiker in London nieder und bot Neill an, ihn zu analysieren. Er hatte täglich eine Sitzung. Neill schrieb über LANE: "Was er über Freiheit sagte, war das Evangelium, nach dem ich gesucht hatte"32. Neill verdankte LANE nicht nur die Erkenntnisse aus der Analyse, sondern auch die Art des Umgangs mit Kindern. "Sein Grundsatz war: ‘Man muß auf der Seite des Kindes sein’"33.

Neill hatte bereits zwei Bücher geschrieben, bevor er LANE kennenlernte. Es waren, wie er in seiner Autobiographie schreibt, "tastende Versuche auf der Suche nach Freiheit. ...Lane wies mir den Weg, und ich habe das immer dankbar anerkannt."34 LANE starb 1925 vier Jahre, nachdem Neill Summerhill gegründet hatte.
 

3. 5. Neill und Wilhelm REICH

Ein anderer wichtiger Mann in Neills Leben war Wilhelm REICH, den er 1937 kennenlernte, als er in Oslo an der Universität eine Vorlesung hielt und REICH unter den Zuhörern saß. Neill wurde Reichs Schüler und fuhr zwei Jahre lang dreimal jährlich in den Ferien nach Oslo, wo er sich Reichs vegetativer Therapie unterzog. Das sah so aus, daß Neill nackt auf einem Sofa lag und Reich seine Muskel bearbeitete. Neill dazu: "Das war eine anstrengende und oft auch schmerzhafte Therapie, aber innerhalb weniger Wochen fand ich mehr emotionelle Befreiung, als ich je bei LANE, Maurice NICOLL oder STEKEL gefunden habe"35. REICH "vertiefte meine Selbsterkenntnis; er merzte die Überbleibsel schottisch-calvinistischer Anschauung über Sex bei mir aus ... "36

Auf die Schule hatte REICH keinen unmittelbaren Einfluß. Diese leitenden Neill und seine Frau bereits 16 Jahre, als er REICH kennenlernte. Als 1939 der Krieg ausbrach, flüchtete REICH in die USA. Er und Neill schrieben einander viele Jahre. Ein Teil dieser Korrespondenz wurde im Buch "Zeugnisse einer Freundschaft; Der Briefwechsel zwischen Reich und A. S. Neill 1936 -1957" veröffentlicht.

Neill reiste zweimal in die USA (1947, 1948) um dort Vorträge zu halten, an Seminaren teilzunehmen und seinen Freund W. REICH zu besuchen. Nachdem Neill und seine Frau Ena wegen der finanziellen Notlage der Schule und der nervlichen Belastungen einer angesagten Schulinspektion einen gesundheitllichen Zusammenbruch erlitten hatten, bot ihnen REICH an, die Schule in die USA zu verlegen und sie seinem Forschungszentrum "Organon" anzugliedern. Neill lehnte dankend ab.37

Als Neill 1950 wieder zu W. REICH reisen wollte, wurde ihm das Visum verweigert, vermutlich, weil er in seinen Veröffentlichungen seine Sympathie für die Russische Oktoberrevolution und für sozialistische Erziehungsexperimente bekundete38. Neill kritisierte aber auch die Erziehung in der Sowjetunion, weswegen ihm 1937 das Visum für Rußland versagt wurde. "Ich bin vielleicht der einzige Mann, dem sowohl von Amerika wie von Rußland ein Visum verweigert wurde."39

Foto 12: NEILL und sein Freund W. REICH
 

3. 6. Neill und seine familiäre Situation

Eigenartigerweise findet man in Neills Selbstbiographie und in der deutschsprachigen Literatur über Neill und Summerhill 1921 einen Bruch. Bis dahin wird sehr ausführlich über seine Kindheit berichtet, seine Jahre als Lehrer und Student und seine Militärzeit. Ab 1921 wurde hauptsächlich über die Schule berichtet und darüber, wie Neill dort arbeitete und welche Grundsätze und Ziele er verfolgte. Nichts Ausführliches ist über seine erste Frau zu lesen, obwohl sie Mitbegründerin der Schule in Hellerau war. In seiner Autobiographie schreibt Neill wohl über Liebesepisoden, über seine Beziehung zu seiner Frau allerdings schweigt er. Aus seinen Schriften war nicht herauszufinden warum sie keine Kinder zusammen hatten. Neill stand der Institution Ehe skeptisch gegenüber. Lilian NEUSTÄTTER, seine erste Frau, heiratete er "der Schule wegen". Er erklärte: "Ich mußte mich ehrbar und solide geben"40 es war ihm wichtig, der Öffentlichkeit gegenüber eine geregelte Beziehung vorweisen zu können. Ein anderes Motiv war, daß er Lilian NEUSTÄTTER auch möglichst schnell die britische Staatsbürgerschaft zukommen lassen wollte, weil sie sich als Ausländerin regelmäßig bei der Polizei melden mußte. Erst in seinem Buch "Hearts not Heads", 1945, schrieb er das letzte Kapitel als Nachruf auf "Mrs. LINS", wie Lilian von den Kindern immer genannt worden war. Hier würdigte er ihre Leistungen. Ihr organisatorisches Talent hatte wesentlich dazu beigetragen, daß Summerhill die Anfangskrisen überwinden und so lange bestehen konnte.

Jonathan Croall, ein ehemaliger Summerhill Schüler, berichtet in seinem Buch "Neill of Summerhill" über die Leistungen von Lilian Neustätter für den Aufbau der Schule. Sie unterstützte Neill schon, als er noch von seiner Schule träumte und ihr in langen Gesprächen in London davon erzählte. Später half sie Neill immer wieder in seinen Versuchen, die Schule neu zu starten. Sie organisierte das Schülerheim, war Köchin, regelte die Geldangelegenheiten der Schule und unterrichtete Kurzschrift, Maschinschreiben, Geschichte, Deutsch und Englisch, obwohl sie keine Ausbildung dafür hatte. Eine Frau mit viel Energie und Elan, der die Entscheidungsfindung der ganzen Gemeinschaft oft zu schwerfällig und langsam war, und Neill erinnerte sich: "In her heart she never really liked selfgovernment"41. Es konnte vorkommen, daß sie während eines "meetings" Papier herumliegen sah und sagte: "Wir müssen aufräumen." Wenn sie das sagte, standen alle auf und machten es. "She was almost like a House of Lords that overruled everyone else"42. So gab sie zum Beispiel ihre eigenen Regeln aus. Sie verbot den Kindern, die vordere Stiege und Tür des Haupthauses zu benützen. Diese stachelten sich dann gegenseitig auf, es doch zu tun, wenn Mrs. Lins in der Nähe war. "That was considered the most dangerous thing to do in Summerhill"43. Doch die Schüler beschrieben sie u. a. folgendermaßen: "Sie war phantastisch". "Sie war für alle, Lehrer wie Schüler, eine Mutter. Du konntest über alles mit ihr reden, sie hörte zu und verstand dich"44. Eines Tages im Jahr 1927 verließen Neill und Mrs. Lins die Schule und teilten beim Nachhausekommen mit, daß sie verheiratet wären. Es gab keine große Zeremonie, niemand von Summerhill war bei der standesamtlichen Trauung dabei. Neills erste Frau starb 1944, nachdem sie vorher einen Herzinfarkt gehabt hatte.

Ena Wood, seine spätere zweite Frau, lernte Neill bereits 1939 kennen als sie ihren Sohn Peter in Summerhill anmeldete. 1940 kam sie als Küchengehilfin ins Summerhill Team. Das war zu einer Zeit, als die Schule wegen des Krieges von Leiston nach Festiniogh in Nord-Wales übersiedelte. Ena berichtete, daß Mrs. Lins über diese Übersiedlung verärgert war. "Sie war nicht mehr in der Lage, Sachen zu organisieren"45, urteilt Ena. So nahm sie alles in die Hand was die Übersiedlung betraf. In Festiniogh kochte sie für 90 Kinder. Summerhill war zu dieser Zeit überfüllt, weil viele Londoner ihre Kinder vor den Bombenangriffen auf die Hauptstadt in Schutz bringen wollten.

Ena wurde Hausmutter in Summerhill und schließlich Neills "Sekretärin". Im Oktober 1944 schrieb Neill an REICH: "Inzwischen muß ich durch eine schwierige Zeit. Einige Mitarbeiter sind sehr gegen meine Sekretärin, die mir aber in jeder Hinsicht eine Menge bedeutet."46 Einen Monat später schrieb er: "Es ist jetzt schon viel besser, nachdem ich den Mitarbeitern bekanntgegeben habe, daß ich die junge Dame, die meine Sekretärin ist, heiraten werde."47 Neill war damals 61 Jahre alt und Ena 34. Die Hochzeit fand 1945 statt.

1945 ging die Schule auch wieder nach Leiston zurück, wo am 2. Nov. 1946 Zoë, Neills und Enas Tochter geboren wurde. Sie lebten als Familie im Haupthaus der Schule, was für das Kind oft sehr belastend war. Zoë hatte keinen Platz für sich alleine, ihr Spielzeug war immer wieder weg, sie hatte schwere Zeiten mit den anderen Kindern, die ja zunächst alle älter waren als sie. Deshalb zog die Familie 1950 in die "Holy Lodge", einem Haus, das zum Schulgelände gehörte, aber etwas abseits stand. Darin wohnt Ena noch heute. Alexander Sutherland Neill starb 1973. Damals übernahm Ena die Leitung der Schule, später Zoë und deren Mann.
 
 

3.7. Zusammenfassung

A. S. Neill hat als Kind darunter gelitten, daß er Dinge lernen mußte, die ihn nicht interessierten und die er sich auch nicht merken konnte. Er hat gelitten unter der Strenge seiner Eltern und den moralischen Vorschriften der damaligen Zeit. Seine Kindheit und Jugend waren von Mißerfolgen und Angst geprägt, Angst vor der Dunkelheit, vor der Hölle, vor dem Tod, vor Gott u. a. Er hatte Mißerfolge, weil er sich als Schüler nichts merken konnte. Als Bürogehilfe und als Botengänger scheiterte er. Als Lehrerpraktikant war er bei den Prüfungen einer der schlechtesten. Schließlich aber schaffte er die Prüfungen für die Zulassung zum Universitätsstudium und schloß das Studium erfolgreich ab. Seine Dominie-Bücher wurden ein Erfolg. Neill wurde als Schriftsteller bekannt und zu vielen Vorträgen eingeladen. Er lernte, daß ein Mißerfolg in der Kindheit nicht auch ein Mißerfolg für den Rest des Lebens bedeutet.

Seine Mitarbeit an der Zeitschrift "New Era" (1920) in London hat wesentlich dazu beigetragen, daß er sich mit Erziehungsfragen auseinandergesetzt hat. Er schrieb kritische Artikel gegen das damalige Schulsystem und die Lehrer. Beeinflußt hat ihn auch seine Zeit als Schulleiter in Gretna Green (1918). Hier konnte er in der Praxis erproben, was er zuvor an Ideen entwickelt und zum Teil in der Studentenzeitung und bei Vorträgen veröffentlicht hatte.

Mit Summerhill hat Neill eine Schule gegründet, in der das oberste Prinzip "Freiheit" und das Glück der Kinder ist. Niemand sagt ihnen, was und wann sie lernen müssen oder ob sie spielen dürfen. Es gibt keine moralischen Vorschriften. Neill glaubte an das Gute im Kind.

Am wichtigsten für die Gründung und die Art der Führung von Summerhill war zweifellos die Bekanntschaft mit Homer LANE. LANE praktizierte im Little Commonwealth bereits Selbstverwaltung. Er half Neill, seine Ideen vom "Guten" im Kind und von der Freiheit des Kindes zu konkretisieren und in Summerhill umzusetzen.



Fußnoten:


1  vgl. Kim Eun San in Trust Journal 4, Jg. 1989 S. 27
2  vgl. Kim Eun San in Trust Journal 4, Jg. 1989 S. 27
3  ebd. S. 7
4  Neill 1973, S. 210
5  ebd. S. 28
6  ebd. S. 28
7  ebd. S. 15
8  ebd. S . 60
9  ebd. S.  65
10  ebd. S. 71
11  ebd. S. 71
12  ebd. S. 74
13  ebd. S. 75
14  ebd. S. 83
15  ebd. S. 112
16  Herbert Georg WELLS, englischer Schriftsteller und Publizist, geb. 21.9.1866 in London, gest. 13.8.1946 in London. Wells wirkte als fortschrittsgläubiger Optimist mit Schriften über  Gesellschaft, Religion und Geschichte für die Vorbereitung eines sozialistischen Weltstaates.
17  Georg Bernard SHAW, englischer Dramatiker, geb. 26.7.1856, in Dublin, gest. 2.11.1950. Shaw eroberte die Bühnen der Welt mit ketzerischen und witzigen Stücken, in denen er den gesunden Menschenverstand über die Konventionen der Gesellschaft triumphieren ließ. Sein Hauptwerk: Die Heilige Johanna
18  Henrik IBSEN, norwegischer Dramatiker, geb. 20.3.1828, gest. 23.5.1906. Ibsen war der meistgespielte Dramatiker seiner Zeit. Er wollte im Kampf gegen die "Lebenslüge" die neue Gesellschaft schaffen. Die Hauptthemen seiner sogenannten Gesellschaftsdramen sind die  Stellung der Frau in der Ehe und das Sich-selbst-Finden des Menschen in einer von Konventionen beherrschten Welt.
19  vgl. Croall, 1983. S. 47f
20  ebd. S. 49f
21  Neill, 1973. S. 121
22  ebd. S. 122
23  ebd. S. 122
24  Neill, 1916, zit.n. Trust Journal 7, S. 7
"Ich habe eine Schule, in der harte Arbeit zählte, zu einem Spielplatz gemacht, und ich freue  mich. Diese Kinder haben ein Jahr des Glücks und der Freiheit erlebt, sie haben getan was  ihnen Spaß machte, sie haben ihre Lieder gesungen, während sie mit Statistiken arbeiteten, sie haben ihre Süßigkeiten gegessen, während sie Bücher lasen, sie sind an meinen Armen gehangen, während  wir spazieren gingen auf der Suche nach künstlerischen Plätzen".
25  Homer LANE hatte sich in den Vereinigten Staaten durch die Leitung verschiedener Erziehungseinrichtungen einen Namen gemacht. Als Handwerkslehrer erteilte er schwedischen "Slöjd"-Unterricht. Slöjd bedeutet "Handfertigkeit". Die Schüler sollten durch den Umgang mit natürlichen Materialien, wie Textilien oder Holz, Respekt vor handwerklichen Arbeitsweisen entwickeln.
Eine Gruppe von interessierten Strafvollzugsreformern unter der Leitung des Earl of Sandwich bot ihm in England die Möglichkeit, seine Erziehungsexperimente in eigener Regie durchzuführen. Das "Little Commonwealth" befand sich auf einer Farm mit mehreren Gebäuden,  die nach und nach von Kindern und Jugendlichen besiedelt wurden.
26  Eine koedukative Refomschule im Londoner Stadtteil Hampstead
27  Neill, 1960, zit.n. Kühn, 1995, S. 39 f
28  Neill, 1973, S. 140
29  ebd. S. 141
30  Als schottischer Dorfschullehrer ("Dominie") war Neill verpfllichtet, ein "Schul-Logbuch" zu  führen, in dem  An- und Abwesenheit der Schüler und des Personals, sowie besondere  Ereignisse, verzeichnet wurden. "A Dominie`s Log" entstand als inoffizielles Schultagebuch. (vgl. Kühn, 1995, S. 29)
31  In diesem  überwiegend fiktionalen Buch wird der Dorfschullehrer wegen unkonventioneller Erziehungsmethoden entlassen und heiratet seine Angebetete. Im wirklichen Leben  wurde zu jener Zeit Neills Verlobung mit Jessie Irving, auf Betreiben ihrer Mutter, wieder gelöst, und Neill  wurde nicht entlassen, sondern mußte zum Militär.
32  Neill, 1973, S. 140
33  ebd. S. 169
34  ebd. S. 170
35  ebd. S. 173
36  ebd. S. 176
37  vgl. Croall, 1983, S. 57
38  vgl. Kühn, 1995, S. 98
39  Neill in Placzek, 1981, S. 425
40  Neill, 1973, S. 271
41  Neill in Croall, S. 144
42  Mervyn Corkhill (ehem. Schüler) in Croall, S. 145
43  Daphne Oliver (ehem. Schülerin) in Croall, S. 182
44  Croall, 1983, S. 145
45  Ena Neill, 1982, in Summerhill is still not run by adults
46  Neill in Placzek, 1981, S. 192
47  ebd. S. 195



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