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Summerhill und die Situation 100 Jahre später


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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (2.6 1924-1940: Summerhill in Lyme Regis, seit 1927 in Leiston)
Fortsetzung (3. Hauptmerkmale Summerhills)


2.8 1945-1946: Familiengründung

Nach Frau Neills Tod war klar, dass Neill bald wieder heiraten würde und dabei ebenso sehr eine Mit-Schul-Leiterin wie eine Ehefrau suchte. Die drei fähigsten Lehrerinnen und Hausmütter konkurrierten heftig um Neill: Constance Tracey, Lucy Francis und Ena Wood. Die Schulbewohner spalteten sich in regelrechte Parteien.

Neill scheint anfangs Lucy Francis favorisiert zu haben, für die er 1944 kurz nach dem Tod seiner Ehefrau einen selbstständigen Summerhill-Ableger gründete und auch schon 1936 in ihrer Heimat Südafrika eine Schule zu gründen versucht hatte.[8]

Ena Wood (* 29.5.1910) war gut 26 Jahre jünger als Neill und hatte aus früherer Ehe einen Sohn Peter Wood. Sie war ursprünglich während der Kriegsevakuierung als Koch-Hilfe angestellt worden, hatte dann aber rasch andere Aufgaben übernommen, für die verwirrte Frau Neill gesorgt, galt als die fähigste Hausmutter und wurde schließlich Matron. Neill und Ena Wood verliebten sich sehr heftig ineinander. Schon vier Monate nach Frau Neills Tod war Ena Wood Neills Sekretärin, Vertreterin und erklärte zukünftige Ehefrau. Wenige Tage nach Kriegsende heirateten sie heimlich in London und teilten dies nachträglich den Schulbewohnern mit. Ena Neill hatte es schwer, in der Schule als Neills Ehefrau anerkannt zu werden. Viele befürchteten eifersüchtig, sie könnte ihnen den Ersatzvater Neill wegnehmen. Sie war weniger duldsam mit den vielen, oft aufdringlichen Besuchern, vor denen Neill sich gern in der Werkstatt versteckte, und den zahlreichen Neill-Verehrerinnen.

Bisher hatte Neill kein wirkliches Privatleben gehabt, nun teilte er im Haupthaus eine abgeschlossene Wohnung ab, um ein ungestörteres Privat- und Eheleben zu haben, zumal ihn - 62jährig - der Kinderlärm mehr störte als in jüngeren Tagen. Tochter Zoë wurde am 2.11.1946 geborenen. Der inzwischen 63jährige Vater Neill war äußerst stolz auf sie und bemühte sich, sie völlig frei aufwachsen zu lassen (siehe dazu Kapitel 4.2.4).

Als Zoë ein Jahr alt war, begann Neill das Buch The Problem Family (Die Problem-Familie), und als Zoë vier Jahre alt war, veröffentlichte er The Free Child (Das freie Kind).

Infolge der zu geringen Schülerzahl konnte Summerhill in den 50er Jahren seine Schüler nicht aussuchen und musste zu viele Problemkinder aufnehmen. Zoë musste (wiedie Kinder vieler Heimerzieher) die Eltern mit vielen Dutzend teils schwer gestörten Geschwistern teilen und dabei auch noch deren heftige, häufig in Handlungen umgesetzte Eifersüchte ertragen. Denn die Neills beschäftigten sich als Eltern auch besonders mit ihr und reagierten empfindlicher auf Angriffe auf das eigenes Kind.

Im Alter von zehn bis zwölf durchlief Zoë, so wie viele Summerhill-Kinder, ein antisoziales Stadium, das Neill üblicherweise als Gangster-Stadium bezeichnete: gemeinsam mit einer Gruppe ähnlicher Problemkinder verhielt auch Zoë sich gestört, missachtete sämtliche Regeln und war eine Plage für die ganze Schule. Neill sträubte sich lange, Zoë in eine andere Schule zu schicken, denn er betrieb Summerhill vor allem Zoës wegen weiter, statt sich zur Ruhe zu setzen. Doch das Problem zwischen Elternhaus und Schule schien nur so lösbar.

Neill wollte sie aber (unerklärlicherweise!) nicht auf eine britische Schule schicken, auch nicht zur (von Ena bevorzugten, Summerhill sehr ähnlichen) Kilquhanity House School in Schottland. Er wählte - aus unbekannten Gründen, die nicht einmal seine Frau begriff - die von Paul Geheeb gegründete und geleitete École de l'Humanité in der Schweiz[9]

. Dort ging damals auch Angela Neustätter zur Schule, die Tochter von Neills Stiefsohn Walter.

Im April 1959 zog Zoë in die Schweiz, fühlte sich dort aber gar nicht wohl und wollte auf keinen Fall bleiben: sie fand die Regeln der Schule unlogisch, unsinnig, falsch und dumm und die Freiheit als vorgetäuscht. Neill schrieb selbstkritisch in einem Brief an Edith Geheeb: "Ich werde rot, wenn ich daran denke, dass ich einmal geschrieben habe, dass ein Kind dann an Heimweh leidet, wenn es aus einem schlechten Elternhaus kommt" (Neill in CROALL 1984, 310, Übersetzung von mir). Schließlich reiste Neill in die Schweiz, um die Schule selbst zu sehen. Er wurde vom fast 90jährigen Paul Geheeb warm begrüßt, hielt in den drei Tagen dort (16.-19. September 1959) einen Vortrag über Summerhill und reiste dann mit Zoë ab.

2.9 Niedergang in den 50er Jahren

Neill fiel es schwer, Summerhill nach dem Krieg neu aufzubauen: Er träumte davon, sich zur Ruhe zu setzen. Sein Alter und schlechter Gesundheitszustand waren zunehmend deutlich spürbar, der Pioniergeist war erlahmt, die Beziehungen zum Personal blieben schwierig. Er sah die Welt pessimistisch, litt an Überarbeitung und an den Finanzproblemen der Schule. Während der gesamten 1950er Jahre blieb die Situation schwierig.

Aufgrund des Erziehungsgesetzes von 1944 wurden sämtliche Privatschulen von Schulinspektoren inspiziert, Summerhill erstmals im Juni 1949. Zu Neills Überraschung sahen die Inspektoren Summerhill mit großem Interesse, deutlichem Wohlwollen und großer Sympathie, beinahe mit Neills Augen, ihr Bericht strich die Lebendigkeit, das Selbstbewusstsein, die Initiative, das Verantwortungsgefühl, die Integrität und (sogar!) die gute Disziplin der Kinder heraus. Sie lobten Neills Fähigkeiten und betonten, dass es allen Pädagogen gut täte, diese Schule und ihre faszinierende und wertvolle pädagogische Forschungsarbeit zu sehen. Sie kritisierten aber, dass trotz dieser guten Bedingungen zu wenig gelernt werde.

1949 stand die Schule unmittelbar vor dem Konkurs, da viele Eltern das Schulgeldnicht zahlten. Eine Elterngruppe begann, sich um die Finanzen zu kümmern und für pünktliche Schulgeldzahlungen zu sorgen. Als Summerhill im Herbst 1957 inspiziert wurden,war es heruntergekommen und unterschritt nicht nur beim Unterricht deutlich die ministeriellen Mindeststandards. Es wurde als trübe, ärmlich und unkomfortabel kritisiert.

Aus der Elterngruppe entstand daraufhin die Summerhill Society als eine Art Freunde und Förderer. Sie sollte die Schule in der Öffentlichkeit und gegenüber den Behörden unterstützen und Gelder einwerben, um Lehrergehälter und Schulausstattung zu verbessern.

Während bei der Inspektion im März 1959 noch 44 Kinder in Summerhill lebten, so waren es im Herbst 1960 nur noch 24. Neills hohes Alter war keine Empfehlung, viele Kinder wanderten ab zu ähnlichen Schulen (z. B. der Kilquhanity House School). Neill war in diesem Alter kaum mehr fähig, grundlegend umzulernen. Bei seinen wenigen Besuchen staatlicher Schulen war er zwar höchst beeindruckt von den inzwischen erfolgten enormen Veränderungen, das schlug aber nicht mehr durch auf seine unverändert feststehende, pauschal generalisierende Kritik an staatlichen Schulen. Er schien zunehmend einen scharfen Gegensatz zwischen Summerhill und dem Rest der Welt zur Selbstrechtfertigung zu brauchen.

2.10 Weltruhm der 60er Jahre und Tod 1973

Bis 1960 war Neill in den USA praktisch unbekannt. Der amerikanische Verleger Harold Hart erhielt von Neill freie Hand, aus Teilen von vier alten Büchern Neills eine gut verkäufliche Zusammenstellung zu produzieren: aus The Problem Child (1926), The Problem Parent (1932), That Dreadful School (1937, deutsch 1950) und The Free Child (1953). Hart kombinierte kunstvoll Satzteile, Sätze und Abschnitte aus diesen Büchern zu einem flüssigen, nach Themen gegliederten Text, der eigentlich nicht mehr von Neill, sondern von Hart stammte (und dessen Formulierungen deshalb - zumal in deutscher Übersetzung - nur sehr vorsichtig interpretiert werden dürfen). Auch sprachlich wurde der Text den amerikanischen Gepflogenheiten angepasst.

Am 7. November 1960, genau in der Woche, in der J. F. Kennedy zum Präsidenten gewählt wurde und damit eine neue Ära sich ankündigte, erschien das Buch unter Neills Namen in den USA: Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing (Summerhill: Ein radikaler Ansatz des Aufwachsens von Kindern). Die Übersetzung erschien 1965 fast unbeachtet in der Bundesrepublik unter dem Titel Erziehung in Summerhill im Szczesny-Verlag, bevor es ab Dezember 1969 (während der antiautoritären politischen Bewegung) unter dem verkaufsfördernden Titel Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung - das Beispiel Summerhill bei Rowohlt erschien und eine Millionenauflage erzielte. Bis 1970 erreichte es zwei Millionen Exemplare in USA, 600.000 in der BRD und war außerdem ins Norwegische, Dänische, Finnische, Spanische, Portugiesische, Hebräische, Italienische und Französische übersetzt. Presseberichte in Millionenauflage steigerten die Wirkung noch erheblich.

Die Autorenhonorare und die nun in großer Zahl eintreffenden Schüler aus Amerika retteten die Schule vor der unmittelbar bevorstehenden Schließung und brachten Summerhill finanzielle Sicherheit. Auch die Besucherzahl stieg enorm an.

Neill bereute bald, dass er Hart völlig freie Hand gegeben hatte, denn das Buch enthielt viele völlig veraltete Passagen, mit denen Neill längst nicht mehr übereinstimmte. Dazu zählten insbesondere die FreudÕschen Interpretationen von Träumen und Symbolen, die Neill längst abgelegt hatte. Selbst im deutschen Vorwort von Erich Fromm wird Neill fälschlich als allzu gläubiger Freudianer kritisiert.

Den vielfach (zu recht!) kritisierten, wild spekulativen Schlusszeilen des Buches etwa hätte Neill längst nicht mehr zugestimmt:

    "Was sollte eine Lehrerin tun, wenn ein Junge während des Unterrichts mit seinem Bleistift spielt? Bleistift gleich Penis. Dem Jungen ist verboten worden, mit seinem Penis zu spielen. Therapie: Die Eltern müssen das Onanierverbot aufheben." (NEILL 1969, 338)

Andererseits war Wilhelm Reich, an dessen Ansichten Neill sich seit über 20 Jahren eng anlehnte, im Buch kaum erwähnt, weil Reich als nicht respektabel galt und seine Erwähnung dem Verkauf geschadet hätte.

Das Buch erregte großes Aufsehen und eine enorme Polarisierung. Die Leser tendierten zu entweder überschwänglich positiven (das beste Buch, der wichtigste Einfluss in meinem Leben) oder extrem ablehnenden Meinungs- und Gefühlsäußerungen. Viele Eltern erlebten und bekannten eine regelrechte Bekehrung und Katharsis. Neill fand fast schlagartig internationale Beachtung, er erhielt enorme Mengen Post von ratsuchenden Eltern und Lesern, deren Leben er verändert hatte, von Lehrern, die in Summerhill arbeiten wollten, von Kindern und von Besuchern. Summerhill geriet in den Ruf eines idealen Ortes, Neill galt weithin als pädagogisches Genie. Summerhill wirkte inspirierend auf die Alternativschulbewegung, vor allem aber außerhalb des Schulbereichs, in der Familienund Vorschulerziehung.

Es gab viel unkritische Bewunderung Neills und Summerhills, häufig wurden seine Äußerungen nicht sorgfältig gelesen. Seine Hinweise auf die Grenzen der Freiheit (in der Freiheit des Anderen), sein Betonung, niemand (auch kein Kind!) dürfe sich auf Kosten anderer (etwa der Eltern) entfalten oder andere belästigen, wurden vielfach übersehen. Erzieher sollen sich nicht aufopfern! Die Ehrlichkeit dem Kind gegenüber erfordert, dass der Erzieher dem Kind deutlich mitteilt, wenn es ihm oder anderen lästig fällt. Wer dem Kind alles erlaubt und sich von ihm kommandieren läßt, betrügt es um die Wahrheit. Verwöhnung richtet sich gegen die wirklichen Interessen des Kindes und entspringt meist einem Schuldgefühl des Erziehers!

Neills Name wurde in der Öffentlichkeit und der Massenpresse aber häufig verbunden mit Verwöhnung, Zügellosigkeit (license) und Permissivität, mit tun wozu man gerade Lust hat (woran seine überspitzten Formulierungen mitschuldig sind!).

Bestürzt über das Missverständnis und den Missbrauch der Summerhill-Idee schrieb Neill rasch ein Ergänzungsbüchlein mit einer Auswahl aus typischen Zuschriften und seinen Antworten darauf zusammen und betitelte die 1966 erschienene amerikanische Originalausgabe Freiheit, nicht Zügellosigkeit! (Freedom not License!, deutsch: Das Prinzip Summerhill). Das Büchlein fand ebenfalls reißenden Absatz.

Die sehr rasch ansteigende Schülerzahl erhöhte den Anteil der neuen und jungen und stark gestörten Kinder allzu rasch, sodass der für eine gut funktionierende Selbstregierung nötige Mindestanteil einigermaßen stabiler älterer, an Freiheit gewöhnter Jugendlicher fehlte. Die allzu vielen gestörten Kinder schlugen über die Stränge, dass es anfänglich kaum auszuhalten war, zumal auch Neills Fähigkeiten im hohen Alter nachließen.

Bei der Schulinspektion vom Juni 1968 entkam Summerhill erneut nur knapp der amtlichen Schließung und erhielt sechs Monate Zeit, um Gebäude und Unterricht auf den vorgeschriebenen Mindeststandard zu bringen.

Der Ruhm lockte unerträglich viele Besucher nach Summerhill, oft ganze Busladungen. Besucher drangen mit laufenden Kameras und Kassettenrecordern in die Räume der Kinder ein, öffneten trotz der Proteste deren Schränke und Schubladen, fragten Kinder über ihr Sexualleben aus, schenkten ihnen Süßigkeiten, Getränke, Schnaps und Zigaretten. Einige Kinder reagierten aggressiv oder machten mit dem Verkauf von Souvenirs und Erfrischungen Geschäfte. Die Anwesenheit zahlreicher Fremder in der Versammlung machte eine offene Diskussion persönlicher Meinungen, Wünsche und Bedürfnisse unmöglich. Nach einem Samstagabend mit 280 Besuchern im November 1971 beschlossen die Kinder, keine Besucher mehr zuzulassen. Neill veröffentlichte den Beschluss in einer Anzeige im New Statesman:

    "Die Summerhill-Schüler sind es leid, ein Zoo für wöchentlich 100 Besucher zu sein und haben ein Gesetz gemacht: Keine Besucher mehr! Und ich bin zu alt und zu müde, um Interviews zu geben. - A. S. Neill." (in CROALL 1984, 387, Übersetzung von mir)

Drei von englischen Universitäten ehrenhalber verliehene akademische Grade (ein Master of Education und zwei Ehrendoktortitel) machten öffentlich deutlich, dass man Neill nicht mehr als bedeutungslosen Spinner abtun konnte. Neill trat in Radio und Fernsehen auf, wurde zu Diskussionen, Fernsehsendungen und Shows eingeladen. Er stritt in den Medien hart mit Vertretern konservativer Auffassungen, häufig Kirchenvertretern, über sexuelle Freiheit, über Ehescheidung und Verhütungsmittel, über freie Liebe und über Nacktbaden in Summerhill.

1971 war Neill beteiligt am Buch Childrens Rights (Die Befreiung des Kindes, NEILL, BERG u. a. 1973). Unmittelbar nach der britischen Veröffentlichung seiner Autobiographie im Mai 1973 verschlechterte sich Neills Gesundheit dramatisch. Er starb am 22. September 1973 im Krankenhaus, kurz vor seinem 90. Geburtstag, ruhig im Sessel sitzend, während die Krankenschwester sein Bett bezog. Seine Asche wurde auf dem Friedhof in Leiston beigesetzt.


2.11 Summerhill nach Neill

Neill sorgte sich schon im Krieg, wer Summerhill nach seinem Tod weiterführen würde. Er befürchtete, dass die Behörden nur seinen Tod abwarteten, um dann die Schule amtlich zu schließen. Im Laufe der Zeit gab es mehrere aussichtsreiche Nachfolge-Kandidaten: Lucy Francis, Cyril Eyre, Neills Tochter Zoë und Michael Duane[10]. Ena Neill und ihr Sohn Peter Wood wurden Anfang der 70er Jahre an der Leitung Summerhills beteiligt, nach Neills Tod übernahm Ena Neill offiziell die Leitung, unterstützt von ihrem Sohn. Die häufigen (üblichen!) Voraussagen, dass Summerhill ohne Neill unmöglich sein werde, erwiesen sich als falsch.

Zunächst schien die Schließung wegen der hohen britischen Erbschaftssteuer für Gebäude und Grundstück unumgänglich, doch Neill hatte ohne Wissen seiner Frau die notwendigen £ 27.000 auf einem Konto deponiert. Da Tochter Zoë, die bei dem Tod ihrer Mutter erben würde, zunächst nicht daran interessiert war, eine Schule zu leiten, schien die Schließung nur eine Zeitfrage. Sie heiratete im September 1971 den Bauern Tony Readhead (wie Redhead ausgesprochen) und hat mit ihm vier Kinder. Zoë Readhead ist ausgebildete Reitlehrerin und wohnt auf ihrem ca. 1,5 km von der Schule entfernten Bauernhof. Im September 1985 übernahm sie schließlich doch die Leitung, nachdem sie zuvor eine Zeit lang in der Lewis Wadham Free School[11] im Staat New York gearbeitet hatte. Der Schulprospekt nennt als Eigentümer ASN Limited (etwa: A. S. Neill GmbH) mit drei Direktoren: Zoë und Tony Readhead, Ena Neill.

Summerhill und seine Prinzipien haben sich offenbar nicht wesentlich verändert. Die Anzahl der Schüler schwankt weiterhin etwa um 70, die der Erwachsenen um 15. Ein Drittel der Schüler stammt inzwischen aus Japan; viele Schüler leiden an Lern- oder Verhaltensstörungen, obwohl die Schule sich längst nicht mehr als eine therapeutische begreift. Elfjährige und ältere Kinder werden nicht mehr aufgenommen. Drei wichtige Änderungen sind hervorzuheben:

  • Summerhill versteht sich (eigentlich schon seit den dreißiger Jahren) nicht mehr als therapeutische Einrichtung, betreibt keine Therapie und arbeitet auch nicht mit Therapeuten zusammen. Auch die Leiterin Zoë Readhead (ohne therapeutische Ausbildung) gibt zwar gelegentlich Privatstunden, jedoch als entspannte Gespräche ohne jeden therapeutischen Anspruch (vgl. READHEAD 1996).
  • Neills Nachfolger teilen offenbar nicht Neills unterrichtsfeindliche Haltung, die von fast allen Freunden Summerhills beklagt wurde. Zwar legt die Leiterin (die Reitlehrerin, aber nicht Lehrerin ist) weiterhin keinen besonderen Wert auf den Schulunterricht und Lehrmethoden und betont weiterhin, dass Summerhill eher schließen als verbindlichen Unterrichtsbesuch fordern würde (vgl. READHEAD 1996). Sie hegt aber auch keine Abneigung gegen Unterricht, und das nicht gebremste Engagement der Lehrer reicht offenbar (wohl den Normalschulen vergleichbar) zur Verbesserung des Unterrichtes aus.

    Bei der Übernahme durch Zoë Readhead 1985 wurden Schulgeld und Gehälter verdoppelt, beides ist im Vergleich zu anderen Schulen weiterhin gering. Die neuesten Angaben (HAMMELMANN 1991, 106; ROLLIN 1992, 54 f.) lauten auf £ 5.000 Schulgeld jährlich. Lehrer erhalten zusätzlich zur Verpflegung und Unterkunft gut die Hälfte des staatlichen Gehalts, also ca. £ 400 netto monatlich, wovon man schwerlich eine Familie ernähren kann.

    Die Unterrichtsausstattung wurde sehr stark verbessert, sodass Summerhill nicht nur als Heim, sondern inzwischen auch als Schule (d.h. Bildungseinrichtung) angesehen werden muss. Damit hat sich ein wesentliches Problem und ein wesentlicher Kritikpunkt gelöst:

      "Der Wissenschafts-Bereich ist für eine so kleine Heimschule ungewöhnlich gut ausgestattet. Realschulabschluss und Abitur sind zum Bestandteil des Lebens in Summerhill geworden, und die Beschäftigten behaupten, dass die Auferlegung dieser äußeren Anklänge an konventionelle Praktiken keine schlimme Auswirkung auf Motivation oder Vertrauen hatte" (NEWELL 1981, 20 f., Übersetzung von mir).

  • Summerhill ist nicht mehr jeden Samstagnachmittag für Besucher geöffnet. Ich wurde sehr freundlich, aber rasch und bestimmt hinauskomplimentiert, als ich, aufgrund jahrzehntealter Informationen an einem Samstagnachmittag im April 1992 die Schule besuchen wollte. Besuchstage werde nun in unregelmäßigen Abständen festgesetzt und sind telefonisch[12] in der Schule zu erfragen.

Darüberhinaus wirken sich die Veränderungen der Außenwelt auf Summerhill ebenso wie auf alle anderen Einrichtungen aus:

    "'Keine Schule kann die Angewohnheiten der Außenwelt verändern. Das vergessen die Besucher oft', sagt die alte Mrs. Neill. 'Geld zum Beispiel ist auch für unsere Schüler der größte Anreiz, etwas zu tun. Wieso sollen sie denn anders sein als ihre Eltern?' Auch in diesem Punkt gehen Lehrer und Hauseltern auf die Kinder ein, anstatt ihnen moralisch zu kommen: Selbst der Frühstücksdienst wird den Kindern bezahlt." (ROLLIN 1992, 54 f.)



Fußnoten

[8] Die Entwicklungsgeschichte von Lucy Francis gleicht auffallend der Neills: konventionelle Schulen, Abneigung gegen Zwang und Rohrstock, Enttäuschung über unechte Freiheit der berühmten Reformschulen (Bedales, Montessori), Betreuung eines schwer gestörten Jungen, die sie mit den Worten begann: wenn Du wütend bist, kannst Du zu mir kommen und mir etwas antun. Eine Weile betrieb sie ihre eigene Schule in Hertfordshire. Sie wollte Neill aufgrund seiner Bücher schon in Sonntagberg besuchen, tat dies dann in Lyme. Als sie infolge Wirtschaftskrise erwerbslos wurde, kam sie mit ihrem kleinen Kind, dessen Vater sie nicht hatte heiraten wollen, nach Summerhill (spätestens Mai 1934). Dort betreute und lehrte sie jahrelang die jüngeren Kinder und war Neills inoffizielle Vertreterin und wahrscheinliche Amtsnachfolgerin. Sie sollte auch gemeinsam mit dem Lehrer Cyril Eyre den 1936 geplanten Summerhill-Ableger in ihrer Heimat Südafrika leiten.

Lucy Francis war eine sehr energische Person und mochte und bewunderte Neill sehr. Doch sie hielt wenig von Neills völliger Freiheit des Unterrichtsbesuches und erwartete als Selbstverständlichkeit von ihren kleineren Kindern, dass sie den Unterricht besuchten. Das brachte sie in Konflikt mit Neill, der ihr schließlich nahelegte, die Schule zu verlassen, was sie tat. 1944 eröffnete sie den (nach Neills Heimatdorf benannten!) Summerhill-Ableger Kingsmuir School in Sybil Hedingham/Suffolk und später in West Hoathly/Sussex. Neill schrieb dazu am 30.8. 1944 an Reich:

"Ich bin gerade aus einem Zweit-S'hill zurück, das ich in Essex* gegründet habe; und wenn ich nach Leiston zurückkehre, dann habe ich vor, in ein Gebäude zu ziehen, das etwa auf halbem Weg zwischen beiden Schulen liegt, um auf meine alten Tage noch ein bisschen Privatleben zu haben. Vielleicht sogar eine Familie, obwohl es mit 60 dafür schon etwas spät ist." (Placzek 1989, 190) Schon am 22.5.44 hatte er Reich geschrieben, er habe diese Zweig schule eröffnet (ebd. S. 174)

* "Mit Namen Kingsmuir. Die Schule wurde von Lucy Francis geleitet" ... (Fußnote bei Placzek).

Kingsmuir und Summerhill hielten engen Kontakt, auch einige Schüler und Erwachsene wechselten zwischen den Schulen. Anders als Summerhill nahm Kingsmuir auch von den örtlichen Behörden geschickte Problemkinder auf.

[9] Die Neue Schule in Hellerau orientierte sich an der von Paul Geheeb gegründeten Odenwaldschule. Geheeb floh Mitte der 30er Jahre aus Nazi-Deutschland in die Schweiz, wo er die (noch immer bestehende) École de l'Humanité gründete. Neill hatte sporadisch mit Geheeb korrespondiert.

Die École de l'Humanité unterschied sich wesentlich von Summerhill und hatte viele Züge, die Neill schon in Hellerau und stets seitdem erbittert bekämpft hatte: Die Schule war deutlich religiös geprägt, legte sehr großen Wert auf hohe Kultur, bestand auf sehr frühem Aufstehen und Zubettgehen, kaltem Duschen, Mittagsschlaf, langen Bergwanderungen, der Schweigeminute bei den Mahlzeiten, strikten Moralvorstellungen und dem Verbot von Tanz und Plattenspielern.

[10] Michael Duane war etwa seit 1950 mit Neill befreundet und von ihm beeinflusst. Bekannt wurde er durch seine ungewöhnlichen Erziehungs- und Unterrichtserfolge als Leiter der staatlichen Risinghill-Gesamtschule (1960 - 1965) in einem Londoner Slum. Risinghill wurde nach fünf Jahren von konservativen Politikern, die die freiheitliche Pädagogik Duanes ablehnten, trotz der erbitterten Proteste der Eltern und Schüler (!) unter organisatorischen Vorwänden aufgelöst (vgl. Fu§note 2).

[11] laut Schulprospekt (Summerhill School, o. O., o. J. unpaginiert, vorletzte Seite). Über die Lewis Wadham Schule ist ein Buch erschienen, das aber in keiner bundesdeutschen Bibliothek vorhanden ist. Wer eine schriftliche Genehmigung des Autors vorweisen kann (Copyright!), kann von der Kongressbibliothek in Washington für knapp 100 DM Fotokopien oder Mikrofilme des Buches erhalten. Dasselbe gilt für das Buch desselben Autors über Summerhill: Snitzer, Herb in collaboration with Doris Ransohoff: Today is for Children. Numbers can Wait. New York: Macmillan 1972. [Nebeneintrag im NUC: Lewis Wadham School]. Mit Vorwort von A. S. Neill. Snitzer, Herb: Living at Summerhill. In Photos. New York: Colliers 1968 (first published 1964 under title: Summerhill, a loving world).