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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (4. Neills Psychologie und Politik der Bedürfnisbefriedigung und Freiheit des Kindes)
Fortsetzung (Fazit / Anhang)


5. Radikale Selbstregierung als pädagogische Methode

In diesem Kapitel geht es nicht mehr nur um theoretische Konzepte, Vorstellungen, Ideen, sondern auch um das alltägliche praktische Tun. Nach einer Kurzbeschreibung von Heimselbstregierung folgt eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Begründung der Selbstregierung: insbesondere Delinquenten und schwierige Kinder müssen zum Ungehorsam erzogen werden, denn Zwang und blinder Gehorsam sind für sie zwar oft angenehmer als Freiheit, bewirken aber gerade die Delinquenz.

Bei der Selbstregierung sind merkwürdige Paradoxien (genauer: mehrdeutige Begriffe) zu klären und aufzulösen: Wie kann Selbstregierung der Kinder eine pädagogische Methode von Erziehern sein, wie können Erzieher eine Kinderselbstregierung machen? Es muss klar betont und beschrieben werden, dass (und: wie) Kinder- und Jugend-Selbstregierung - und auch die von Neill angestrebte antipädagogische Ent-Erziehung - zunächst in hohem Maße Sache der Erzieher ist: eine Kinderselbstregierung muss ganz wesentlich von Erziehern gemacht werden, oder sie kann nicht funktionieren!

Eine Beschreibung der vielfältigen, auf den ersten Blick nicht erzieherisch aussehenden, unterstützenden Aufgaben der Erzieher bei der Kinderselbstregierung zeigt eine ganz andere Art erzieherischer Einwirkung: Erzieher, die gar nicht erziehen wollen und wegen ihrer scheinbaren Untätigkeit kritisiert werden (der übliche laissez-faire-Vorwurf gegen Neill), bauen aktiv (beschreibbar) demokratische Heimstrukturen auf, die spezifische Erziehungsmaßnahmen und Erziehungsabsichten ersetzen können. Die indirekte Rückwirkung dieser Strukturen bewirkt etwas ähnliches wie Erziehung, sodass man von aktiver Struktur-bauender statt Maßnahmen-ergreifender Erziehung (!) sprechen kann: einer radikalen Form der demokratischen Erziehung, nicht des laissez-faire!

Eine Beschreibung der konkreten Arbeitsweise und Methode Neills allein aus seinen Schriften wäre kaum möglich, wohl deshalb bleibt die bislang gründlichste theoretische deutschsprachige Darstellung Neills (SCHMIDT-HERRMANN 1987) bei der theoretischen Konzeption stehen und geht nicht auf die Praxis ein. Erst der breitere Überblick bei Einbeziehung der Schriften ähnlich arbeitender und besser beschreibender Kollegen in ähnlichen Kinderrepubliken ermöglicht in der Zusammenschau meine Interpretation. Dieses Kapitel bezieht sich deshalb nicht nur auf Neill und Summerhill, sondern allgemeiner auf diese Art von Selbstregierung.

5.1 Zur Methodik radikaler Selbstregierung in Kinderrepubliken

5.1.1 Aufteilung der Verantwortung auf Erzieher und Kinder

Rein formal gesehen funktioniert die Heimselbstregierung einer Kinderrepublik wie jede andere demokratische Republik auch: das Volk - hier die Heimbewohner - gibt sich Gesetze, in größeren Heimen über Abgeordnete bzw. ein Parlament, in kleinen direkt in der Vollversammlung. Verstöße gegen diese Regeln oder Gesetze werden von einem gewählten Ausschuss oder Gericht oder auch der Vollversammlung verhandelt und unter Umständen den Gesetzen gemäß bestraft. Außerdem werden Amtsinhaber für bestimmte Tätigkeiten gewählt: Protokollführer, Versammlungsleiter, Kassenführer, Richter etc. Mit anderen Worten: Es gibt Legislative, Judikative und Exekutive.

Demokratie ist nicht mit dem Mehrheitsprinzip gleichzusetzen! Das wesentliche Element der Demokratie ist die allgemeine Gleichberechtigung aller Menschen und daraus folgend die Toleranz und der Minderheitenschutz, die Möglichkeit, alle Themen ohne Tabus anzusprechen und frei und offen zu diskutieren. Ein auf Mehrheitsabstimmung beruhendes System ohne die Achtung dieser Gleichheit und Toleranz würde sich rasch in ein Terrorinstrument verwandeln. Lenin und Hitler etwa errichteten ihre Diktaturen durch geschickte Ausnutzung des Mehrheitssystems unter Missachtung von allgemeiner Gleichheit, Minderheitenschutz und Toleranz.

Die Amtsinhaber oder Beamten der Kinderrepubliken heißen oft Stadträte oder Minister, der Vorsitzende Bürgermeister oder Präsident, der Kassenwart Finanzminister, der Speisesaal Restaurant, die Schlafräume Hotel, die Aula kann zur Stadthalle, das Büro kann zum Rathaus und die Lautsprecheranlage kann zum Staatsrundfunk aufsteigen. Diese ungewöhnlichen Äußerlichkeiten taugen hervorragend dazu, reißerische Presseartikel schreiben (Bürgermeister ist erst 14 Jahre oder Ihr Bürgermeister ist schon elf) und etwas Spaß am Staats-Spiel zu haben, darüberhinaus sind sie unwesentlich und verdienen kaum Beachtung. Summerhill verzichtet (wohl als einzige Kinderrepublik) vollständig auf solche überdimensionierten Benennungen.

Es darf kein Irrtum aufkommen: Kinderrepubliken sind Heime, keine souveränen Staaten (manche Autoren bestreiten das!). Anders als in Staaten geht es in Kinderrepubliken nicht (!) um den Kampf um die Macht. Denn die Macht im Heim liegt von vornherein eindeutig bei den Erziehern: wenn diese es wollen, ist ihr Wille Gesetz! Wenn die Erzieher wollen, können sie jede Heim-Selbstregierung unmöglich machen, abschaffen oder durch moralpädagogische Methoden effektiv manipulieren. Dagegen hilft keinerlei Verfassung und keinerlei technische Sicherung.

Heim-Selbstregierung ist dann und nur dann möglich, wenn die Erzieher dies wünschen, wenn sie es zu ihrem Konzept machen. Die Erzieher (bzw. der Heimträger etc, jedenfalls nicht die Kinder) haben das Heim gegründet und das Erziehungskonzept festgelegt, sie allein sind dafür verantwortlich. Die Kinder haben dabei keine Wahl, sie werden nicht gefragt, sondern sie werden zur Selbstregierung gezwungen. Ebenso wie sie nicht gefragt würden, ob sie einen autoritären Vater oder ein kasernenartiges Heim haben möchten. Die Erzieher weigern sich, autoritativ Regeln zu setzen, und erzwingen die Selbstregierung. Sie sind deshalb auch zuständig für den Schutz der Selbstregierung (ihres Konzeptes!) gegen machthungrige Cliquen älterer/kräftigerer Jugendlicher und gegen das Hineinregieren äußerer Instanzen. Damit werden auch politische Sicherungsmaßnahmen wie Verfassungsschutz, Verfassungsgericht und strenge Gewaltenteilung in der Kinderrepublik von vornherein überflüssig.

Die Erwachsenen sind, ebenso wie in jedem anderen Heim, zuständig und verantwortlich für Organisation, Verwaltung, Finanzierung, Wirtschaftsführung, Unterhalt und Schutz der Gebäude und Einrichtung, Einstellung von Personal, Außenbeziehungen des Heims, den jeweiligen Anstaltszweck (Erziehung, Erholung, Therapie etc.), Aufnahmen und Entlassungen von Kindern, die Durchsetzung des staatlichen Rechtes innerhalb des Heims (Rauchverbot, Schulpflicht), den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit (Sicherheitsregeln), einen Mindeststandard an Ordnung und Sauberkeit. Wo immer eine Regel zwingend notwendig ist, muss sie von den Erziehern gemacht werden! Wenn die Selbstbestimmung keine Farce sein soll, dann dürfen nur solche Dinge im Verantwortungsbereich der Kinder liegen, die von ihnen ohne allzu große Gefahr auch frei (und gegebenenfalls auch falsch!) entschieden werden können. Die Verantwortung ist zwischen Erwachsenen und Kindern geteilt. Wer sämtliche Entscheidungen den Kindern überlässt, wäre gezwungen, ihre Entscheidungen massiv zu beeinflussen und zu manipulieren. Gerade die Vertreter radikaler Selbstbestimmung betonen deshalb (paradoxerweise) sehr deutlich die klaren Grenzen der Selbstregierung! Erwachsene müssen den sicheren Rahmen der Heimselbstregierung bereitstellen, gewissermaßen als Bühnenmanager dafür sorgen, dass die Kinder frei und einigermaßen gefahrlos selbstständig auf der Bühne des Heims agieren können.

Der innerhalb dieses Rahmens für die Selbstregierung verbleibende Raum ist groß, er umfasst nahezu den gesamten Heimalltag. Üblicherweise sind daran alle Heimbewohner beteiligt, die Erzieher sind also gleichberechtigt.

Die Erzieher haben keinerlei Befehlsbefugnis oder Strafgewalt mehr! Nur die organisierte Gemeinschaft darf strafen! Allerdings kann und muss der Heimleiter die von ihm erlassenen unbedingt notwendigen Regeln/Gesetze durchsetzen. Die Notwendigkeit dieser grundlegenden Regeln ist im allgemeinen jedermann klar, das heißt aber keineswegs, dass sie auch befolgt werden. Aber es bewirkt, dass die Durchsetzung und Sanktionierung dieser Regeln der von der Selbstregierung eingesetzten Gerichtsinstanz überlassen werden kann und der Heimleiter und die Erzieher sich auf die Anzeige und Anklage von Verstößen beschränken können.

Da niemand mehr aus eigener Machtvollkommenheit ad hoc Recht setzen, Regeln und Ausnahmen definieren darf (allenfalls gewählte Beamte im Rahmen ihres Amtsbereichs), muss alles bis ins Detail in Versammlungen durchgesprochen und beschlossen werden. Demokratie führt zu einem hohen Bedarf an Diskussion über allgemeine Regeln, während in autokratischen Systemen der Machthaber selbst ad hoc die Quelle der Regel und Ausnahme ist und keine Festlegung benötigt.

Das Gericht wird oft auch bei geringfügigen Rechtsverletzungen angerufen, denn auch kleines Unrecht hinnehmen zu müssen, ist bitter. Um im traditionellen Heim zu seinem Recht zu kommen, hilft nur das - verpönte - Verpetzen beim Erzieher oder aber bei kleinen Rechtsverletzungen, mit denen der Erzieher nicht belästigt werden will, entweder die (dann notwendige!) Selbstjustiz oder die resignative Ergebung in die Rechtlosigkeit der Schwachen. Im von David Wills geleiteten Barns House gab es bei nur 30 Kindern 100 Anklagen wöchentlich. Die Aufgabe des Gerichts ist nicht drakonische Abschreckung, sondern die Wiederherstellung des Rechts. Die Strafen sind meist lächerlich geringfügig und haben nichts Abschreckendes, sie sind von anderen Hilfsmaßnahmen oder gar Belohnungen manchmal kaum zu unterscheiden. Nicht Angst und Abschreckung wirken, sondern die unzweideutig und öffentlich ausgedrückte Verurteilung des Verhaltens durch die eigenen Kameraden, die Loyalität zur öffentlichen Meinung der Kameradengruppe, die sich im Gesetz und im Urteil manifestiert. Hier kann ein Regelbrecher nicht auf die sonst übliche Insassen-Solidarität rechnen. Oft geht es nur darum, dem Geschädigten sein Recht zu versichern, ihm das Beileid der Gemeinschaft auszudrücken, festzustellen, dass der Beschuldigte unrecht gehandelt hat und gegebenenfalls einen Schadensausgleich festzulegen. Erzieher verteidigen oft die Übeltäter vor Gericht, nehmen also die entgegengesetzte Rolle ein wie im normalen Heim. Es geht eher um die Verurteilung schädlicher Handlungsweisen als um die Bestrafung von Personen!

Die Diskussion der Probleme, der alternativen Handlungsmöglichkeiten und möglichen Regeln, der Gerichts-Fälle, der Motive der Täter, der schädlichen Wirkungen auf das Opfer und des Für und Wider der Regeln schärft die Vorstellungen von Handlungsfolgen, von richtigem und falschem Verhalten und der Notwendigkeit der getroffenen Regelungen.


5.1.1.1 Autoritative Eingriffe Neills

Die Teilung der Verantwortung zwischen Erziehern und Kindern bedeutet eine klare Verantwortungsübernahme und Autoritätsausübung der Erzieher in ihrem Bereich. Neill stand allgemein im Ruf, keinerlei Autorität auf Kinder auszuüben, und hat an diesem Ruf fleißig mitgewirkt - zu Unrecht!

Neill setzte die eigene Autorität gezielt gegen (vermutete) fremde Zwangsautoritäten, etwa wenn er Kindern ausdrücklich die Onanie erlaubte und ihnen den Unterrichtsbesuch solange verbot, bis sie ihn wirklich wollten, oder Bücher konfiszierte, wenn er glaubte, dass sie unter Zwang gelesen wurden (solchen von Eltern ausgeübten Lesezwang gab und gibt es!). Dies waren ebenso autoritative Eingriffe, wie ein Zwang zum Unterricht und ein Onanieverbot es wären, und keineswegs eine laissez-faire-Haltung!

Auch im Alltag griff Neill autoritativ ein, zwar nicht mit der Amtsautorität des Direktors, wohl aber als Person mit enorm großem Prestige, als guter Bürger, durchaus vergleichbar mit einem der sehr anerkannten älteren Schüler. SEGEFJORD (1971, 21, 44, 124) berichtet, wie Neill lästige Störer in der Versammlung zur Ordnung rief und grob ungehöriges Benehmen (dem Zauberer während der Vorführung die Utensilien zu entwenden) einfach verbot. Streitenden Kindern in der Werkstatt befahl er absolut unwiderstehlich, sofort Hämmer und Messer aus der Hand zu legen.

Neill war keineswegs nur der alles verstehende Psychologe, sondern hatte in Summerhill mehrere Rollen auszufüllen, die in seinen Büchern so kaum deutlich werden. Als Schulleiter musste er gelegentlich auch Amtsautorität ausüben und tat es unmissverständlich. In häufiger gehaltenen scharfen Reden gegen das durch staatliche Vorschrift verbotene Rauchen drohte er allen Rauchern den Schulverweis an:

    "Ich will etwas ziemlich Wichtiges sagen, und ich will kein Lachen darüber hören. Ich habe am Anfang des Schuljahres ein Gesetz über das Rauchen gemacht, für die unter Sechzehnjährigen. [...] Manche von euch meinen, ich wäre ein alter Softie, Neill ist ein bequemer Kerl. Nun, ich werde euch allen was erzählen. (...) Ich werde für die Einhaltung dieses Gesetzes sorgen, wegen meiner eigenen Sicherheit, und ebenso wegen eurer. Glaubt nur nicht, dass ihr hierherkommen könnt und tun könnt, was ihr wollt. Das könnt ihr nicht." (Rede Neills von 1957 in HEMMINGS 1972, 148, Übersetzung und Auslassung [...] von mir, (...) bei Hemmings)

    "Ihr habt die Wahl, ihr könnt auf der Schule bleiben oder abgehen und rauchen, soviel ihr mögt. Ich muss mich an das Gesetz halten. Ich kann euch nicht dafür bestrafen, dass ihr raucht. Ich kann euch nur vor die Wahl stellen. Wenn ihr wollt, könnt ihr das eine Strafe nennen, aber wir müssen uns um meiner und eurer Sicherheit willen an das Gesetz halten." (Rede Neills vom 5.11.1966 in SEGEFJORD 1971, 72 f, mit Verweis auf eine ähnliche Rede von 1964)


Abbildung 26: Neill im Alter von 54 Jahren (ca. 1937)


5.1.2 Selbstregierung als ordnungschaffender Notbehelf

Es gibt Berichte, dass gestörte, geschädigte und verwahrloste Heimkinder erheblich besser mit Demokratie und Republik zurechtkommen als erfahrene erwachsene Berufspolitiker. Doch diese Berichte sind oft zu schön, um wahr zu sein, sind bloßes Wunschdenken. Nicht nur die individuelle Selbstbestimmung, sondern auch die kollektive Selbstregierung blieb tatsächlich meist weit hinter den Hoffnungen und Vorstellungen der Erzieher zurück. Gerade die radikalen Verfechter der Selbstregierung schreiben schonungslos offen von vielfältigen Mängeln, davon, wie schlecht die Heimselbstregierung meist funktioniert. Wer hätte realistischerweise auch etwas anderes erwarten können?!

Summerhill ist hier eine Art Ausnahme, zumindest in den ruhigeren Zeiten, in denen eine hinreichende Zahl älterer, in der Selbstregierung erfahrener, nicht (oder: nicht mehr) gestörter Jugendlicher hier leben (die in den nur kurz bestehenden Heimen von Wills und Lane fehlten).

Insbesondere David Wills (ebenfalls ein Lane-Schüler) machte das deutlich. Gehorsam erschien ihm keineswegs als Tugend, sondern als übles Relikt hierarchischer, autokratischer Strukturen. Ihm ging es darum, solche Gesellschaftsformen zu vermeiden und (im Zweiten Weltkrieg) einen englischen Hitler zu verhindern: Selbstständige freie Bürger einer egalitären demokratischen Gesellschaft durften die Verantwortung für ihre eigene Handlungen nicht an eine äußere Autorität delegieren, sondern mussten eigenständige innere moralische Überzeugungen besitzen und selbstverantwortlich aus innerer Einsicht handeln. Der gute Bürger fügt sich nicht in blindem Gehorsam der Macht und Autorität, der Obrigkeit oder beliebigen Gesetzen, sondern prüft kritisch die sozialen Folgen der Handlung und urteilt innengeleitet nach eigenen Werten und Kriterien. Er ist notfalls auch zum Ungehorsam bereit und in der Lage, zur Rebellion gegen ungerechte Autorität. Freiheit und Demokratie erfordern das Gegenteil von Gehorsam: eine Erziehung zum Ungehorsam, d. h. zur Selbstständigkeit.

In der Erziehung dienen Strafe und Zwang dazu, über Strafangst einen blinden Autoritätsgehorsam zu erreichen. Für die Handlungen des Einzelnen ist nun nicht mehr er selbst, sondern die kontrollierende Autorität verantwortlich. Die mögliche Strafe erscheint nun als die eigentliche Tatfolge, und nicht der durch die Tat angerichtete Schaden, nicht die Leiden der Tat-Opfer: Wer bereit ist, die Strafe zu tragen, kann damit legitim das Recht zu Regelbruch und Verbrechen erkaufen. Der Täter, der sich nicht erwischen lässt, ist ohne Schuld: die Autorität hätte besser aufpassen müssen! Die Richtigkeit des Verhaltens wird identisch mit Entdeckungs- und Strafwahrscheinlichkeit: Strafe erzeugt so Verantwortungslosigkeit und Unmoral. Eine freie demokratische Gesellschaft bedarf daher einer Erziehung zum Ungehorsam (starkes Ich statt Über-Ich), nicht zum Gehorsam.

Wills war sich bewusst, dass sein hochgestecktes anarchistisches Ideal des selbstbestimmten, innengeleiteten, freien Bürgers (der eigentlich keinerlei Gesetze mehr benötigt) nicht nur seine geschädigten Heiminsassen überforderte, sondern auch den an derartige Freiheit nicht gewöhnten Normalbürger: Sie brauchen äußere Gesetze und teilweise auch Sanktionsdrohungen, um ihr eigenes Verhalten regulieren zu können. Wills beklagte gerade die übergroße Gehorsamsbereitschaft seiner delinquenten Jugendlichen, ihre völlige Unfähigkeit, einer Autorität oder auch nur der Gruppenmeinung längere Zeit offen zu widerstehen, ihren Mangel an eigenen inneren Handlungsmaßstäben und ihre Gleichsetzung von straflos bzw. unentdeckt mit richtig. Um in einer freien Gesellschaft leben zu können, mussten sie Selbstverantwortung erlernen!

Die Gewährung fast völliger individueller Freiheit im Heim stieße in der Praxis rasch auf Grenzen. Die oft aggressiven und delinquenten Störungssymptome der Kinder müssen (!) unterdrückt werden, um einerseits den schädlichen Eingriffen von Polizei und Gerichten etc. zuvorzukommen und andererseits zu verhindern, dass Kinder ihre Symptome gegeneinander ausleben und eine hochaggressive und rechtlose Situation entsteht, ein Kampf aller gegen alle, bei dem jeder auf individuelle Selbstjustiz angewiesen ist und in dem keinerlei Sicherheit mehr gewonnen werden kann. Auch die Einbeziehung der Kinder in die Arbeitsteilung des Heims erzwingt eine gewisse Stetigkeit: Der im Winter Fieberkranke mag nicht darauf warten, dass der für den Ofen zuständige Kamerad am Ende des Sommers ein hinreichendes Verantwortungsgefühl entwickelt haben wird.

Der Verzicht auf Zwang und Strafe durch die Erzieher ist insofern für Kinder und Jugendliche sehr unangenehm. Denn Selbstdisziplin ist erheblich anstrengender, als unter äußerlich aufgezwungenen (milden) Regeln zu leben, die man dann zu umgehen versucht, wobei man die Schuld für das eigene Verhalten der Obrigkeit zuschiebt, die besser hätte aufpassen und kontrollieren müssen. Immer wieder versuchten Kinder und Jugendliche, sich von der Selbstdisziplin zu entlasten, indem sie alle Regeln abschafften (Anarchie) oder einen (meist erwachsenen) Diktator suchten, zumal die Erzieher als milde und effektiv bekannt waren.

Da die Kinder und Jugendlichen (ebenso wie die Normalbürger) äußere Verhaltensstützen wie Regeln, Gesetze, Verbote, gelegentlich auch Sanktionsdrohungen benötigten und oft ausdrücklich wünschten, befürwortete Wills (nicht der Abschreckung wegen und gegen seine Überzeugung und Ideale!) kleine Strafen als von außen kommende Verhaltensstützung. Da Autokratie von vornherein ausschied, griff man - als Notbehelf - zur Demokratie mit ihrem System selbstgesetzter Gesetze.

Daneben gibt es einen weiteren, therapeutischen Grund. In der psychoanalytischen Erziehung ist die positive Übertragungsbeziehung das Erziehungs- und Heilmittel schlechthin, d.h. die enge persönliche Liebesbeziehung nach dem Vorbild der Eltern-Kind-Beziehung, in der das Kind dem geliebten Vorbild ähnlich werden will.

Die Bewirkung und Förderung der Übertragung ist darum die wichtigste Aufgabe des Heims, die auf keinen Fall gefährdet werden darf. Jeder Zwang von Seiten der Erzieher würde als Liebesentzug wirken und die Übertragungsbeziehung gefährden. Eltern mit ihrer sehr viel kräftigeren und sichereren Beziehung zum Kind können das riskieren, die Heimerzieher nicht. Eine Minimalordnung mit (milder) Sanktionierung ist unumgänglich. Da die Erzieher zum Schutz der Übertragungsbeziehungen keine Ordnung erzwingen dürfen, bietet sich Selbstregierung als Ausweg an.

Die wesentliche Aufgabe der Selbstregierung ist nicht die Errichtung einer möglichst perfekten effektiven Verwaltung (autokratische Systeme sind dazu effizienter), nicht die Besserung oder (Um-) Erziehung der Delinquenten über ein Strafsystem (wie in der George Junior Republic). Die Heim-Selbstregierung soll lediglich eine notdürftige, d.h. erträgliche und den Vorstellungen der Heimbewohner entsprechende Minimal-Ordnung sichern - und das gelingt mit etlicher Mühe auch. Dabei werden im Laufe der Zeit unterschiedliche Regierungssysteme durchgespielt (Erfahrungslernen).


5.1.3 Anarchie- und Diktaturperioden stützen die Selbstregierung

Kinder versuchen immer wieder, sich von der mühsamen Arbeit der Selbstregierung zu entlasten. Eine zu starke Hilfe durch Erzieher, die die eigentliche Selbstregierung und Eigenaktivität der Kinder ersetzt, wäre unsinnig. Wo die Selbstregierung absolut nicht mehr funktioniert, ist ihre vorübergehende dramatische Aufhebung sinnvoller:

Der Heimleiter kann sie auflösen und sich selbst oder einen anderen zum Diktator (Summerhill, Barns) oder Anstaltsdirektor (Lane im Little Commonwealth) ernennen. Ebenso kommt es vor, dass die Kinder und Jugendlichen selbst hierbei die Initiative ergreifen und den (als milde und effektiv bekannten) Erziehern diktatorische Vollmachten übertrugen. So wählte die Versammlung in Summerhill Neill, einen Lehrer, älteren Schüler oder die Hausmütter zu Diktatoren. Erzieher können mit Hilfsentzug und Provokationen den Zusammenbruch einer wirkungslosen Selbstregierung beschleunigen (Wills in Barns).

Eine andere Beendigung der Selbstregierung (in Barns, im Q-Camp, häufiger in Summerhill) ist Anarchie, die mit Mehrheit beschlossene Aufhebung aller Gesetze (außer den von den Erwachsenen erlassenen grundlegenden Sicherheitsregeln), auch auf Antrag des Leiters oder Anstachelung eines Kindes durch ihn (Wills, Neill). Die Anarchie begann manchmal auch in Form einer gewaltsamen (von Neill erhofften) Revolte mit Betten umstürzen und Scheiben einwerfen.

Die Erzieher konnten an diktatorischer Vollmacht (wie im Normalheim) und völliger Regellosigkeit nicht interessiert sein (Selbstregierung war ihr Konzept), wohl aber an der zeitweiligen praktischen Erprobung einer (bewusst unangenehm streng, unfrei gestalteten) Diktatur und einer rechtlosen Anarchie. Freiheit, Recht und Ordnung kann man erst dann schätzen, wenn man selbst Erfahrung mit Unfreiheit, Zwang, Unordnung und Rechtlosigkeit gemacht hat. Die Kinder sollten die Bedeutung totalitärer Herrschaft kennenlernen, erfahren, dass Ordnung nötig und letztlich weit angenehmer ist. Auch die Anarchie-Perioden waren recht unangenehm, die Kinder schmeckten die Wirkung der Gesetzlosigkeit am eigenen Leib, waren von der Revolte rasch erschöpft und wünschten eine erneute Selbstregierung. Dadurch waren sie motiviert, zur Selbstregierung zurückzukehren bzw. ein neues, besseres Selbstregierungssystem aufzubauen.

    "Ich erinnere mich, dass er [Neill] auf einer Versammlung plötzlich sagte: 'Es wird so langweilig, Gesetze, immer nur Gesetze'. Sie begannen, alle Gesetze durchzugehen und zu sehen, ob sie welche streichen könnten. Aber ein Kind sagte: 'nein nein, dieses Gesetz müssen wir behalten', und ein anderes sagte: 'nein, nein, jenes Gesetz müssen wir behalten'. Und dann sagte Neill: 'Ich schlage vor, dass wir sämtliche Gesetze streichen und ganz neu anfangen'. Und überraschenderweise wurde dies akzeptiert. Aber nach der Versammlung hatten sie diese großartige Gefühlsreaktion, und gingenmit ihren privaten kostbaren Besitztümern - Fahrrädern und dergleichen - zu Bett, weil sie fühlten, dass sie ohne Gesetze nicht leben könnten. Und sie gingen immer wieder zu Neill und sagten: 'Dies ist furchtbar', und er sagte fröhlich: 'Oh, ich finde es wundervoll!' So wählten sie schließlich auf einer anderen Versammlung Neill zum Diktator. Aber das half ihnen nicht, denn als Diktator diktierte er kein einziges Gesetz." (Lucy Francis in CROALL 1984, 178 f., Übersetzung von mir)

HAMMELMANN (1991, 106) und ROLLIN berichten von einer Anarchieperiode Ende 1991, also 18 Jahre nach Neills Tod:

    "Vor kurzem war es wieder mal soweit. Da hatten sie 190 Gesetze, doch nach dem 'General meeting' keines mehr. Erlaubt war, was gefiel. Nicht mal drei Wochen hielten die Schüler ihr selbst gewähltes Chaos durch: Als der teure Plattenspieler im Disco- Raum zusammenbrach, tauchte das erste Gesetz wieder auf: Nur ein auserwähltes Team darf jetzt den Apparat bedienen. Als nächstes wurden die Skateboardfahrer von den Fluren verbannt, weil niemand mehr den Höllenlärm ertragen wollte; dann verschwand der Fußball aus dem Speisesaal, und neulich haben sich die Schüler wieder rigide Schlafenszeiten verordnet: Um acht müssen die Kleinen, um halb zwölf die Großen ins Bett." (ROLLIN 1992, 53)

Auch die bei BERNFELD (1974), WILLS (1941, 1945), Lane (WILLS 1964a) und BAZELEY (1948) beschriebene allererste Selbstregierung ihrer Heime entstand aus einer Anarchiesituation, und Neill plädierte als Herausgeber der New Era für diesen Beginn. Am Anfang steht regelmäßig eine Phase des Chaos: Die Erzieher lehnen es soweit wie überhaupt möglich ab, Autoritäten zu sein, Regeln zu setzen und durchzusetzen. Die an Autorität und Außenkontrolle gewöhnten Kinder setzen zunächst Straffreiheit mit akzeptablem Verhalten gleich, sind durch den großen Freiraum verunsichert und suchen durch immer extremeres Verhalten endlich an Grenzen zu stoßen, an denen die Erzieher wieder das vertraute (d.h. sichere und berechenbare) Verbotsverhalten zeigen. Die Kinder müssen ihre Freiheit - und die Folgen - als real erfahren, bevor sie sich selbst regieren können, die Umgewöhnung an Selbstregierung dauert einige Monate. Diese Phase ist für alle Beteiligten unerträglich, auch für die Kinder, und sie sind bereit, dem ein Ende zu machen. In Besprechungen und Versammlungen (z.B. im Anschluss an das Mittagessen) werden die Unerträglichkeiten von den Kindern zur Sprache gebracht und diskutiert, es entstehen erste Meinungsbilder und Mehrheitsabstimmungen, woraus sich rasch ein Selbstregierungssystem entwickelt.


5.2 Erzieher unterstützen die Selbstregierung

5.2.1 Struktur-bauende statt Maßnahmen-ergreifende Erziehung ist kein untätiges Laissez-faire

Wenn die Selbstregierung nicht von älteren, in der Selbstregierung erfahrenen, nicht gestörten Jugendlichen getragen wird, erweist sie sich sich - nach oft euphorischem Anfang - oft als mühsames Geschäft. Die anfangs des Prestiges wegen angestrebten Ämter erfordern viel Zeit und oft unpopuläre Entscheidungen, die dem Prestige abträglich sind. Bewerber um ein Amt sind darum oft nur schwer zu finden. Vielen Kindern und Jugendlichen (insbesondere geschädigten Heiminsassen) fällt nicht nur die individuelle Selbstregulierung extrem schwer, sondern auch die Übernahme der gemeinsamen Verantwortung für den Erlass einer verbindlichen Regel oder gar Sanktion aus eigenem freien Entschluss. Ohne eine massive Unterstützung durch Erwachsene hätte Selbstregierung wohl in kaum einer Kinderrepublik funktioniert.

Selbstregierung bedeutet nicht untätiges Geschehen-lassen, sondern aktive Erziehertätigkeit, die allerdings weniger Maßnahmen ergreift, sondern eher Strukturen baut und dem Beobachter deshalb nicht als Erziehung ins Auge springt:

Die Maßnahmen traditioneller Erzieher zielen meist auf kurzfristige Verhaltensänderungen, die pädagogische Absicht ist daher deutlich: Der Erzieher lobt, tadelt, belehrt, straft etc. und handelt außerdem in einer betont herausgehobenen Position als Erzieher und ist auch dadurch erkennbar. Neill lehnte eine herausgehobene Position, eine unmittelbare Verhaltensbeeinflussung sowie Erziehung als solche ab und betonte, dass die Natur selbst vieles automatisch regelt, wodurch der Erzieher (oder wie immer man ihn nun nennen will) überflüssig erscheint und in den Verdacht der Untätigkeit, des Laissez-faire, des bloßen reifen und wachsen Lassens geriet: Zu Unrecht!

Dem flüchtigen Betrachter fällt vor allem auf, dass Erzieher das normale Eingreifen unterlassen, aber nicht, was die Erzieher stattdessen tun. Viele Handlungen der Erzieher können sowohl in ihren Intentionen als auch in ihren Wirkungen als pädagogisch bezeichnet werden. Doch eine direkte erzieherische Tätigkeit in selbstregierten Republiken ist tatsächlich schwer zu erkennen: sie verschwindet hinter der so offensichtlichen Tätigkeit der Kinder, die scheinbar alles selber regeln, sodass die Erzieher sich untätig zurücklehnen können (manche Theoretiker behaupten auch eben dies).

Wenn z.B. Neill sich trotz heftiger Bitten von Schülern weigerte, autoritativ gegen einige aggressive Jugendliche vorzugehen, wird ihm das leicht als bloße Untätigkeit ausgelegt, und in einem normalen Heim wäre es das auch; eine Art unterlassener Hilfeleistung. Übersehen wird dabei, dass Neill zuvor Regeln und Strukturen geschaffen hat, mit deren Hilfe die Schüler selbst dieses Problem regeln können und sollen. Der viel bequemere Appell an einen Erwachsenen verstößt gegen die Selbstregierung, gegen das Prinzip, dass Autorität von der so verfassten Gemeinschaft ausgeht und nicht von Erwachsenen usurpiert werden darf. Neill war hier nicht untätig, sondern in anderer Weise aktiv tätig: Er verteidigte konsequent das Selbstregierungsprinzip (und hatte zuvor aktiv das Selbstregierungssystem errichtet).

Die von Neill mit Vorliebe berichtete Unterstützung von Regelbrüchen wären in jedem normalen Heim (zu Recht!) ein Skandal. In seiner Kinderrepublik herrschen jedoch andere Zuständigkeiten: Die Erzieher sind dort nicht unmittelbar verantwortlich für Recht und Ordnung, nicht zuständig für die Sanktionierung von Regelbrüchen. Für Regelsetzung und Durchsetzung ist die Versammlung zuständig.

Erzieher müssen dann nicht unbedingt Vorbild sein, das gibt ihnen größere Handlungsfreiheit: Sie können gefahrlos zum Rechtsbruch auffordern, denn allen Beteiligten (aber nicht allen Beobachtern) ist klar, dass (im Unterschied zu traditionellen Heimen) die Regel trotzdem weiterexistiert und gilt und dass der Erzieher gar nicht befugt ist, irgendeine Regel aufzuheben. Erzieher, die provokativ eine Regel brechen, heben damit die Regel nicht auf und werden von der Versammlung genauso bestraft wie alle anderen auch.

Da Selbstregierung zunächst das Konzept der Erzieher ist (sonst gibt es keine Selbstregierung!), müssen sie diese Selbstregierung auch unterstützen und fördern.

Erzieher müssen ständig für lohnende positive Aufgaben und Herausforderungen sorgen. Sie müssen Probleme umformulieren in Entscheidungsbedarf und müssen aufkommende Resignation bekämpfen, indem sie mehrere (!) realistische Handlungsalternativen aufzeigen und offene Geheimnisse zu öffentlichen Diskussionsthemen machen. Sie müssen ständig dafür sorgen, dass (nicht: wie!) die Kinder agieren, müssen sie motivieren, dass sie sich eine Meinung bilden (nicht: welche Meinung richtig ist) und dass sie die Meinungen in Diskussionen austauschen und schließlich Regeln für Probleme schaffen.[22] Erzieher müssen notfalls dafür sorgen, dass der Beschluss nicht folgenlos vergessen wird (z.B. durch Erinnerung, Anzeigen von Verstößen, provokative eigene Verstöße), sondern möglichst rasch seine (positiven oder negativen) Folgen nach sich zieht (dem kann man nachhelfen) und dass diese Folgen deutlich wahrgenommen werden, dass gegebenenfalls auf diese Folgen wiederum reagiert wird.

Ein Erzieher kann einen Geschädigten mit guten Tips dabei unterstützen, sein Recht durchzusetzen, kann den Widerstand der Geschädigten und Bedrängten gegen einen tyrannischen Jugendlichen organisieren helfen. Er kann auch provokativ beantragen, Schlägereien und Zerstörungen zu erlauben. Er kann durch ein selbst inszeniertes Vergehen wortlos eine Diskussion über die Geltung der Regel, über Erlaubtheit oder Verbot erzwingen.

Neill pflegte in seiner Theatergruppe Situationen aus allen möglichen Blickwinkeln durchspielen zu lassen und verschiedene Lösungsmöglichkeiten als spannende Geschichten zu erzählen. Mit alldem werden zweifellos pädagogische Absichten verfolgt und pädagogische Wirkungen erzielt. Der Zuschauer kann diese Absicht (nur im Kopf des Erziehers) und Wirkung (in Kopf und Psyche der Kinder) aber nicht unmittelbar erkennen, da der Erzieher nicht in herausgehobener Position als Erzieher agiert, sondern äußerlich wie ein normaler Heimbewohner erscheint, der auch mal einen Vorschlag macht, sich auch mal danebenbenimmt, der eine lustige Geschichte erfindet und der, da er anscheinend nichts besonderes tut, pädagogisch scheinbar untätig ist. Denn der Erzieher belehrt nicht, er schafft lediglich (ganz beiläufig) Lernsituationen.

Selbstregierung ist kein uninteressiert-passives Dulden jeglicher beliebigen Kinderaktivität, sondern das Tun der Kinder ist vom Erzieher gewollt, initiiert, geschützt, unterstützt und angeregt: Selbstregierung war sein Konzept, bevor die Kinder kamen, und er wird dafür sorgen, dass die Kinder die Folgen ihres Tuns deutlich wahrnehmen, damit sie daraus lernen. Das alltägliche Zusammenleben in der zuvor geschaffenen erzieherischen Umgebung ist eine ständige Aneinanderreihung bewusster praktischer Versuche, teilweise inszenierter Erfahrungen und ständiger intensiver Diskussion darüber in der Selbstregierungsversammlung.

Es gibt in Summerhill zwar keine eigentliche Erziehungsabsicht und keine eigentlichen Erziehungsziele, aber doch eine Art Äquivalent dazu: Die Erzieher (bzw. Neill) haben das Heim, in dem sie leben, gemäß ihren eigenen Überzeugungen strukturiert, und sie leben gemäß ihren Überzeugungen: Sie predigen nicht, aber sie praktizieren, leben ihre Überzeugungen selbst vor, und diese in das Heimleben eingebauten Wertungen haben Wirkungen. Die allgemeine Gleichheit ist hier Fakt, nicht pädagogisch zu vermittelnd Forderung. Es gibt zwar wenig Belehrung, aber viel Lernen. In Summerhill gibt es keine Erziehung zur Demokratie, denn es wäre höchst undemokratisch, anderen die richtige Meinung vorschreiben zu wollen. Aber es gibt ein tagtägliches Leben in einer funktionierenden Demokratie, die die Vor- und Nachteile von Demokratie (und anderer Herrschaftsformen) praktisch erfahrbar macht. Die zur Demokratie erziehende, jedoch autokratisch strukturierte schulamtliche Normalschule dagegen belehrt darüber, wie Demokratie >funktionieren würde, und lässt dabei gleichzeitig lernen, dass sie in Wirklichkeit nicht funktioniert. Das Medium ist auch hier die eigentliche Botschaft! In Summerhill gibt es keine Erziehung zur Toleranz, doch ein Leben in der von den Erziehern garantierten extrem toleranten Umgebung. Es gibt keine Erziehung zur Achtung anderer Rassen und Nationen, aber ein alltägliches Zusammenleben mit Kindern aus aller Welt. Es gibt keine Moralerziehung oder Friedenserziehung oder Erziehung zur Gewaltfreiheit, aber allwöchentlich praktische Erfahrung mit den Folgen von Fehlverhalten, der Notwendigkeit von Regeln und der demokratischen Regelfindung. Es gibt keine Sexualerziehung, aber einen alltäglichen offenen und ehrlichen Umgang mit Sexualität in all ihren Formen. Es gibt keine Erziehung zur Verantwortung oder zur Selbstständigkeit, aber die Kinder sind für das Heimleben weitestgehend selbst verantwortlich.

Wesentliche Wertungen, die traditionell über Belehrung und Erziehung zu vermittelt werden sollen und in Erziehungszielen beschrieben werden, sind hier bereits in die von Erziehern maßgeblich entwickelte, verantwortete, und beständig gestützte Heim/Schul- Struktur eingebaut: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Gewaltfreiheit, Selbstständigkeit/ Erfahrungslernen.

Die Weigerung der Erzieher, die eigenen Werte und Überzeugungen als einzig wahr und richtig zu lehren, bedeutet keineswegs eine Gleichgültigkeit diesen Werten gegenüber, sondern eine spezifische Lernmethode (statt Be-Lehrmethode!). Die Überzeugungen und Werte sind die Überzeugungen und Werte der Erzieher, die diese für sich selbst realisieren, aber nicht missionarisch aufdrängen. Dazu gehört aber auch die Strukturierung des Lebens im eigenen Heim: Der Erzieher lebt selbst als Demokrat in seinem demokratischen Heim und garantiert und schafft dort tatsächlich demokratische Verhältnisse. Er strukturiert nur die wirkliche, wirkende Umgebung, statt die Wahrheit und Richtigkeit seiner Werte und Ideen (z.B. Demokratie) verbal, missionarisch, pädagogisch zu predigen, dazu zu erziehen.

Er belehrt nicht, sondern ermöglicht Lernen: Er ermutigt innerhalb dieser offenen Atmosphäre nahezu jegliches (!), auch sozialschädliches (Zerstörungen) und unvernünftiges Verhalten, fast jedes Experiment, das nicht allzu gefährlich ist, und lässt es seine Wirkungen deutlich hervorbringen: aus den Folgen der selbst begangenen Fehler wird man lernen. Auf Folgen des Verhaltens wird zwar hingewiesen, trotzdem begangene Fehler sollen aber nicht verhindert (manchmal sogar gefördert) werden.

Noch deutlicher als bei Neill (Unterstützung beim Scheibeneinwerfen, provozierte Anarchieperioden) wird dies bei Lane, der zu Beginn des Little Commonwealth die lautstarken Störer bewusst zu dem Zweck unterstützte, ihr Verhalten auf die Spitze zu treiben und die Revolte der gesamten Gemeinschaft dagegen zu provozieren (vgl. BAZELEY 1948, WILLS 1964a). Einen stets unzufriedenen aggressiven Jugendlichen forderte Lane heraus, das Heim nach seinen Vorstellungen zu verändern, und unterstützte ihn bei seinen Zerstörungen, bis der Jugendliche selbst - ziemlich rasch - die Situation nicht mehr ertrug, denn im Grunde wusste er selbst sehr gut, dass er das Gemeineigentum aller nicht beliebig zerstören durfte, und bezahlte in der Folgezeit seine Zerstörungen ab. Als Heimbewohner trotz viel zu knapper Kasse stets mehr Nachtisch verlangten, beantragte Lane in der Versammlung, jeden Tag üppigsten Nachtisch zu bereiten (einstimmig angenommen!). In der Wochenmitte war die gesamte Haushaltskasse verbraucht, die zweite Wochenhälfte lebte man vom massenhaft eingelagerten Bohnenvorrat - und begriff.

Dies ist nicht (wie oft verstanden) die Erlaubnis beliebiger Willkür, sondern ein durch die Diskussion in der Wochen-Vollversammlung kontrolliertes Verhaltensexperiment. Grundlage dieses Konzeptes ist das große Vertrauen in die natürliche Lernfähigkeit, in das selbstständige eigene erfahrungsgesättigte Urteil der Kinder, darauf, dass in der freien und offenen Atmosphäre des Heims sich anhand der (positiven und negativen) Wirkungen in der Praxis die Wahrheit, das wirklich bessere Regierungssystem, die angemessene und unangemessene Verhaltensweise aus eigener, unbezweifelbarer Erfahrung zeigen und durchsetzen wird. Ein pädagogisches Vorsagen ist nutzlos und überflüssig: es kann die eigene Erfahrung nicht ersetzen.

Wer innerhalb einer solchen Kinderrepublik nicht zu bestimmten richtigen Ideen und Haltungen erziehen will, kann sich problemlos eine fast endlose Meinungs-Toleranz (nicht: beliebige Verhaltens-Toleranz!) leisten, sogar gegenüber offen faschistischen Positionen. Er kann darauf vertrauen (und auch etwas nachhelfen), dass die Qualität von Vorschlägen und Ideen praktisch geprüft wird, und zwar in einer von den Erwachsenen garantierten (nicht abdingbaren!) Grundsicherheit und der jederzeitigen Möglichkeit, auf Mehrheitsbeschluss wieder demokratische Verhältnisse zu installieren.

Der Erzieher strebt hier nicht die Veränderung, Besserung oder Anpassung der Kinder an (das ist unmöglich, denn dem Menschenbild nach ist die Person selbst im Kern immer gut), sondern unterstützt die Selbstanpassung des Kindes an die Realität, unterstützt das Kind dabei, seine untragbaren Handlungsweisen selbst durch gleichwertige alternative Bedürfnisbefriedigungsmethoden zu ersetzen.

Der Erzieher hat hier andere Aufgaben als traditionell: Er soll nicht (!) Inhalte vermitteln, sondern muss Freiräume zum Lernen und Experimentieren schaffen und garantieren, Gewaltfreiheit und Lern-Freiheit sichern, Straf- und Disziplinierungsversuche, Zwang (z.B. zum Unterrichtsbesuch) und Morallehren abwehren. Er muss aktiv physischen und psychischen Schutz, Sicherheit gegen Zwang, Gewalt, Autoritätsansprüche, psychischen Druck, Angriffe und Übergriffe aller Art gewähren und die extrem permissive Atmosphäre schaffen: jegliches Moralisieren (durch Jugendliche oder Erwachsene), jedes Denkverbot und Tabu verhindern, für eine allseitige Offenheit des Denkens, Handelns und Experimentierens wirken und jeden Autoritätsglauben, jede einzig wahre Lehre bekämpfen.

Außerdem muss der Erzieher das Übermaß an Befriedigung psychischer Bedürfnisse sicherstellen und überdeutlich demonstrieren (und dazu diese Bedürfnisse und ihre aktuellen Verfälschungen gründlich kennen) und un-bedingte Zuwendung gewähren (was möglicherweise zu einer therapeutischen Liebesbeziehung (Übertragung) führen kann).

Innerhalb dieser Freiräume muss der Erzieher dann Experimente nicht nur uninteressiert- passiv zulassen, sondern aktiv ermutigen und unterstützen. Auch hier wirken Einflüsse der Erzieher, auch hier werden deutliche Wertungen vorgenommen, aber auf anderen Wegen: nicht über eine Abfolge vieler separater Einzelmaßnahmen, Belehrungen, Erziehungsziele, Pädagogiken mit definierten Einzelzielen, sondern eher dauerhaft-stetig über die Struktur des Heims und eine Art gewährender, schützender, fördernder Haltung der Erzieher.

Der Struktur-Aufbau ist schwerer als pädagogische Handlung erkennbar, die vom Erzieher gezeigte Haltung erscheint eher als persönlicher Charakterzug denn als pädagogische Tätigkeit. Das Prügeln des Rohrstockerziehers dagegen wird eher als zielgerichtete Erziehungsmaßnahme gewertet, nicht als persönlicher Charakterzug oder Ausdruck seiner aggressiven Persönlichkeit. Wo keine Einzelziele und Einzelmaßnahmen beobachtbar sind, erfolgt leicht der laissez-faire-Vorwurf. Doch man wird den Strukturbauenden, Haltung-zeigenden Erzieher kaum pädagogisch wirklich untätig nennen können.

Man könnte bei anderer Begriffsdefinition auch formulieren: zwar pädagogisch passiv (nicht unmittelbar verformend, belehrend), aber in anderer (antipädagogischer?) Artder Einwirkung aktiv (Förderung selbstständigen Lernens).

Jeder Erzieher hinterlässt irgendwelche Wirkungen, er kann nicht völlig neutral und wirkungslos bleiben. Auch bei Neill wirkte letztlich (über Heimstruktur und Haltung der Erzieher) ein deutlich gerichteter Einfluss mit klar erkennbaren, von den Kindern durchweg übernommenen, auch bewusst gewünschten Wertungen und einem klar erkennbaren Endprodukt: der (bereits beschriebenen, siehe Kapitel 3.7) spezifischen Summerhill-Persönlichkeit.

Bei Neill sind diese Einflüsse und Wirkungen eher Folge der sowieso vorhandenen Überzeugungen und Haltungen der Erzieher und nicht Ergebnisse planmäßig gezielter, strategisch vorgeplanter, formender Maßnahmen zu einem vom Erzieher gesetzten Endzweck. Neill will gerade keine einseitige pädagogische Idealwelt im Sinne ROUSSEAUs[23] , in der die Umgebung von Pädagogen völlig beherrscht und so vorstrukturiert ist, dass ausschließlich gewünschte Lerneffekte möglich sind. Neill gibt das Lernergebnis nicht vor, sondern breitet möglichst alle Möglichkeiten, Meinungen und Richtungen unzensiert vor den Kindern aus, das gesamte Spektrum des Lebens. Er organisiert ihre Erprobung und Diskussion und lässt im Vertrauen auf die angeborene Lernfähigkeit des Kindes das Ergebnis offen. Schon in Hellerau forderte er:

    "Eine Schule braucht Konflikt, vor den Kindern müssen sämtliche mögliche Haltungen zum Leben ausgebreitet werden. Mein ideales Kollegium wäre folgendes: Sozialist mit bolschewistischer Tendenz; Römischer Katholik; Ästhet mit einem Hass auf Tabak, Alkohol, Foxtrott und Charlie Chaplin; Herr, der Psychologie für eine Seuche hält, und eine Dame, die an die Erbsünde glaubt." (NEILL 1923a, 133, Übersetzung von mir)


5.2.2 Die magische Wirkung der genialen Erzieherpersönlichkeit

Neill wurde häufig als geborener Erzieher und große, geniale Erzieherpersönlichkeit mit einer magischen Wirkung bezeichnet, ganz ähnlich W.R. George und T.M. Osborne in der George Junior Republic und H. Lane im Little Commonwealth. Wobei auch Gegner Neill das persönliche Genie nicht absprachen. Wo persönliche Zauberkraft (Magie) und angeborenes Genie als Ursache angenommen werden, kann man getrost die Hände in den Schoß legen und in Ruhe das Erscheinen des nächsten Genies abwarten, ohne über Veränderung der eigenen Praxis oder der Institutionen nachdenken zu müssen: Darüber, dass Summerhill ohne das Genie Neill undurchführbar sei, bestand ein (nun seit 25 Jahren widerlegter) weitgehender Konsens.

Bei den vier genannten Erziehern rühmten Besucher normalerweise die unnachahmliche (!) Persönlichkeit des großen Mannes, während dieser sich vergeblich gegen derlei Anschuldigungen wehrte und darauf bestand, eine neue, beschreibbare (!) und nachahmbare Methode (!) entdeckt und praktiziert zu haben, und die ihm unterstellte quasi hypnotische Zwangswirkung empört und entschieden zurückwies.

Eine große Erzieherpersönlichkeit kann man den genannten vier Erziehern nicht absprechen, sie schufen bedeutendes Neues von dauerhafter Geltung. Ihre besonders große Fähigkeit, ihre Wirkung und Faszination auf andere Menschen ist vielfach beschrieben. Die Zurückführung eines großen Erziehungserfolges auf eine große Erzieherpersönlichkeit ist nicht falsch, sie ist aber lediglich eine Pseudo-Erklärung: große Wirkung wird - rein quantitativ - mit großer Wirkkraft erklärt, ohne dass diese Wirkkraft Persönlichkeit näher beschrieben würde. Es gilt, die Wirkkraft qualitativ zu beschreiben, nicht bloß ihre große Quantität (Genie) zu beteuern.

Persönlichkeit und Methode scheinen keine Gegensätze zu sein, sondern zwei Seiten derselben Sache: auf der einen Seite die buchstäbliche Ver-Körperung und praktische Durchführung der Erziehungs- und Lebensgrundsätze durch eine Person, auf der anderen Seite die theoretisch-abstrakte Darstellung der wirkenden Erziehungs- und Lebensgrundsätze. Vermutlich waren die Erzieher nicht an sich genial, sondern nur für ihre ureigenste, in der eigenen Person verkörperten Methode.

George, Osborne, Lane und Neill waren Autodidakten. Lane und Neill waren zwar psychologisch sehr belesen, sie waren jedoch absolut keine Wissenschaftler, Theoretiker oder Methodiker, sondern verwendeten ausgewählte wissenschaftliche Erkenntnisse, indem sie sie in ihre persönliche Philosophie einbauten. Das Problem bei einem derart stark von Personen bestimmten genialen pädagogischen Vorgehen ist, dass trotz erfolgreicher guter Praxis oft die theoretische Beschreibung zu schwach entwickelt, zu wenig systematisch in Worte gefasst ist. Erst der fachlich gebildete WILLS (1941, 1945, 1964a) hat die Handlungsweisen von Neill, Lane (und Wills) klarer und systematischer formuliert und beschrieben.


Neill bei einem Elterntag 1937, als ihm scherzhaft ein Loorber-
kranz aufgesetzt wurde. Die Fotografie wurde von Adolphe Fer-
iérs Sohn Claude gemacht, der damals in Summerhill mitarbei-
tete

Andererseits hat gerade die stark persönliche Färbung zur Faszination beigetragen. Die große Faszination scheint (unabhängig von Inhalten) aus den durch vielfache Auseinandersetzungen homogen stimmig durchgearbeiteten, miteinander übereinstimmenden Werten, Ansichten, Überzeugungen, Erklärungen, Forderungen, Gefühlen und Handlungen herzurühren, die zu tiefen, ganzheitlichen Überzeugungen, zur sicheren persönlichen Weltanschauung mit festem, berechenbarem, klarem Standpunkt und hoher Verhaltenssicherheit geworden sind. Die Überzeugungen sind kaum mehr falsifizierbar (man könnte sie deshalb unwissenschaftlich oder ideologisch nennen) und bleiben nicht unverbindlich, sondern werden engagiert praktisch gelebt: die Personen stehen mit rückhaltlosem Engagement mit ihrem ganzen Lebenslauf und ganzen Besitz dafür ein, geradeheraus, ohne Taktiererei, und haben häufig auch teuer dafür zahlen müssen. Daher wirken sie besonders glaubwürdig, vertrauenswürdig und echt. Eben dies trifft bei den genannten vier Erziehern zu.

Von magischer Wirkung spricht man dann, wenn man tatsächliche Wirkkräfte einer Person wahrnimmt, für die man keine Erklärung hat, und sie deshalb vage der persönlichen Zauberkraft zuschreibt. Die über Neill berichteten eindrucksvollen Beispiele magischer Wirkungen lassen sich aus seiner großen psychologischen Kenntnis seiner Kinder und Jugendlichen erklären. Neill agierte großteils als verstehender, akzeptierender Psychologe. Er war ein stiller, zurückhaltender, nie bedrohlicher, handwerklich geschickter Mann, der, während er schweigend seine eigene Arbeit tat, freundlich und endlos geduldig Wohlwollen und Sympathie ausstrahlte. Er war kein auf Änderung und Anpassung sinnender, Maßnahmen ergreifender Pädagoge. Jeder konnte ihm, etwa in einer

Privatstunde<(i>, im Vertrauen jegliche Untat mitteilen, ohne kritisiert zu werden, ohne bei der Versammlung angezeigt zu werden. Kinder besprachen ihre Geschwistermordphantasien mit ihm, er beteiligte sich gezielt an einigen Untaten von Kindern.

Neills Fähigkeiten waren die eines erfahrenen Psychotherapeuten: Durch mehrere eigene Psychotherapien bei zum Teil bedeutenden Therapeuten (Lane, Stekel, Reich), durch intensive Lektüre psychoanalytischer Literatur sowie durch jahrzehntelange eigene Beobachtung und kindertherapeutische Praxis in Summerhill besaß Neill eine hervorragende und großteils intuitive, mitfühlende, instinktartige Sensibilität und Verständnisfähigkeit für die kindliche Psyche. Er konnte die Probleme und unbewussten Motive erspüren, erfühlen und verstehen und Menschen - völlig unbedrohlich - durchschauen. Seine Haupttätigkeit in Summerhill war es, zu verstehen, die Interessen, Motive, Stimmungen der Bewohner zu analysieren und zu akzeptieren.

Seine Verständnis befähigte ihn zu scheinbar magischen Wirkungen: Er kannte in der Versammlung plötzlich überraschend die Wahrheit, war in der Lage, mit einem beiläufig geäußerten treffenden Wort im richtigen Moment gezielt große Wirkung hervorzurufen, etwa - zur Verblüffung der staunenden Zuschauer - einen noch unentdeckten Dieb unvermittelt zur Herausgabe seiner Beute zu bewegen oder die Stimmung der Versammlung zu wenden. Viele seiner Interventionen schienen nach dem Alltagsverständnis paradox zu sein, setzten bei genauer Betrachtung aber logisch (und keineswegs paradox!) an den unbewussten Motiven an und wurden in der psychoanalytischen Pädagogik häufiger als erfolgreich beschrieben. Sie versetzte die in anderen Kategorien denkenden Laien regelmäßig in großes Erstaunen. Etwa die Verhinderung des Fortlaufens durch Erleichterung des Fortlaufens (Lane, Neill, auch Makarenko), die Beteiligung des Erziehers am Fehlverhalten, die Belohnung statt Bestrafung von Fehlverhalten (bestimmte Diebstähle, Bettnässen), die Herausforderung zu Fehlverhalten (Zerstörungen) etc.

Erwähnt wird auch Neills Fähigkeit zu wirken, ohne zu handeln, d.h. durch scheinbar untätige Anwesenheit, gerade durch demonstratives Nichthandeln deutliche Wirkungen hervorzurufen, indem er erlaubte, frei zu sein. Etwa wenn er Kindern zusah, wie sie Dinge taten, die sie selbst für verboten hielten und ohne Neills stillschweigend zustimmendes Zusehen nicht hätten billigen können und nicht getan hätten.

Diese besonderen genialen und magischen Fähigkeiten Neills waren für die Wirkung seiner Erziehung zweifellos nützlich, aber wohl nicht ursächlich oder wesentlich. Neill selbst beurteilte die Wirkung der freien Atmosphäre stets weitaus höher als solche spezifischen therapeutischen Vorgehensweisen. Seine therapeutisch nicht weiter interessierte Tochter leitet die Schule offenbar ebenfalls erfolgreich.



Fußnoten

[22] Genau das entspricht der ursprünglichen Erziehungsstil-Definition für den demokratischen Erziehungsstil bei Lewin und Lewin (1982) sowie bei Lippitt und White (1977): der demokratische Erzieher sollte gemeinsame Entscheidungen der Gruppe aktiv fördern, der Laissez-faire-Erzieher sollte dafür sorgen, dass jedes Individuum für sich allein und unbeeinflusst durch die Gruppe und die anderen Individuen entscheidet.

[23] "In der gepflegten Erziehung befiehlt der Lehrer und glaubt dadurch zu herrschen. In Wirklichkeit ist es das Kind, das herrscht." ... "Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt, euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Kummer - liegt nicht alles in euren Händen, ohne dass es davon weiß? Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht für es vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne dass ihr wißt, was es sagen will." (Rousseau 1963, 265 f.).

Neill schrieb 1972, ein Jahr vor seinem Tod: "Nachdem ich 50 Jahre lang für einen Nachfolger Rousseaus gehalten wurde, habe ich gerade 'Emile' gelesen, mit einiger Enttäuschung, denn der Schmutzkerl wollte für seinen Zögling Freiheit in den Grenzen, die ihm sein Tutor setzt." (in Croall 1983, 172, hier deutsch zitiert nach Kühn 1995, 123).