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Wiss. Hausarbeit, 1. Staatsex. 1996, B. Ahrens, PH Heidelberg
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Forwärts: Die Pädagogik A.S. Neills


  1. Bestimmt das Sein das Bewußtsein? - Neills Leben als Grundlage seiner Pädagogik

    2. 1. Biographie Neills

    2. 1. 1. Kindheit und Jugend

Ich halte es für angebracht, etwas ausführlicher auf die Biographie von A.S. Neill einzugehen, denn die Darstellung seiner Pädagogik und die damit zusammenhängende Schulgründung Summerhill lassen gewisse Parallelen zu seinem Leben erkennen. Im folgenden werden nun wichtige Lebensdaten aufgelistet, die für seine spätere Erziehungskonzeption wichtig sind.

Alexander Sutherland Neill wurde am 17. Oktober 1883 als viertes von acht Kindern in Forfar, der Bezirkshauptstadt der schottischen Grafschaft Angus, geboren. Sein Vater, George Neill, arbeitete in Kingsmuir als Schulleiter, weil "er einen guten Kopf hatte" (Neill 1972, 14). Er stammte aus einer Bergarbeiterfamilie. Seine Mutter hieß Mary Sutherland. Trotz finanzieller Nöte wurde die einzige Tochter zur Lehrerin ausgebildet und arbeitete an einer Schule in Leith, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Nach der Hochzeit gab sie ihre Stellung auf, da im damaligen Schottland verheiratete Frauen keinen Unterricht erteilen durften (vgl. Croall 1983, 8).

Seine Mutter galt als eine stolze Frau, die peinlich darauf bedacht war, den höheren sozialen Status der Familie zu dokumentieren. Anzumerken ist, daß die Situation einer Lehrerfamilie im ländlichen Schottland im neunzehnten Jahrhundert von ständigem Geldmangel gekennzeichnet war. Trotzdem fühlte sich ein Schulleiterehepaar den "besseren Kreisen" (Kühn 1995, 7) einer Gemeinde zugehörig, was sich zum Beispiel darin äußerte, daß die Neill-Kinder die einzigen Kinder im Dorf waren, die auch an Werktagen steife Kragen tragen mußten (vgl. Neill 1972, 21).

Neills Vater fügte sich den Ambitionen seiner Frau, obwohl dieser sie mit einer gewissen Skepsis betrachtete. "Als er sich einmal am Ringwerfen beteiligen wollte, schritt meine Mutter ein: ,George Neill, denke an deine Stellung! Wie kannst du so tief sinken, mit Landarbeitern und Eisenbahnern zu spielen.' Daß Mutter solchen Nachdruck auf gesellschaftliche Stellung legte, engte uns, fürchte ich, ein. Wenn im Sommer die ganze Schule barfuß ging, mußten wir heiße Strümpfe und Schuhe tragen - und steifgestärkte Kragen." (Neill 1972, 23). Dennoch bemühten sich die Neill-Kinder um eine Anpassung im elterlichen Haus sowie im außerelterlichen Bereich. "Zu Hause mußten wir Englisch sprechen, aber draußen sprachen wir natürlich breitestes Forfarshire." (Neill 1972, 23).

Schon in jungen Jahren waren Neill die sonntäglichen Kirchgänge eine Qual. "Wir wußten, daß anderthalb Stunden äußerste Langeweile vor uns lagen, anderthalb Stunden des Geradesitzens auf einer harten Kirchenbank [...] anderthalb Stunden des Lauschens auf langweilige Psalme und Hymnen und eine scheinbar endlose Predigt von Dr. Caie." (Neill 1972, 21).

Neill konnte nicht gut lernen und interessierte sich demnach auch nicht für den Unterricht, was den Vater zu dem Schluß kommen ließ, daß aus dem Jungen nichts werden würde (vgl. Neill 1972, 43). Er las selten ein Buch, und auch in späteren Jahren hielt er sich lieber in seiner Werkstatt auf, als ein Buch zu lesen. Sein Vater machte sich nichts aus ihm. "Er war oft grausam zu mir, und ich entwickelte eine ausgespochene Angst vor ihm, eine Angst, die ich auch als Mann nie ganz überwand." (Neill 1972, 22).

Den Kindern war es zunächst auch nicht gestattet zu arbeiten. Doch die ökonomischen Umstände machten es einige Jahre später notwendig, daß auch Neill bei der Kartoffelernte helfen mußte, was ihm nicht gefiel. "Es kam der Tag, da die ökonomischen Umstände stärker wurden als der Snobismus. Mit dreizehn wurde ich in die Erdbeeren und in die Kartoffeln geschickt - ich haßte die Schufterei." (Neill 1972, 23f). Bereits in Neills erstem Buch "A Dominie's Log" (Das Tagebuch eines Schulmeisters, im Jahre 1918 geschrieben) rekapitulierte er seine Empfindungen während der Kartoffelernte ("Tattie holidays"), indem er von den "ten days of misery" spricht und ferner schreibt "I seldom had time to straighten my back. I had but one thought all day: When will that sun get down to the west." (Neill 1918, 131).

Neill war der einzige, der im Dorf zur Schule ging. Bereits mit viereinhalb Jahren besuchte Neill die Schule seines Vaters, so daß er den zwei Meilen langen Weg von Forfar nach Kingsmuir gemeinsam mit seinem Vater zu Fuß zurücklegte, bis die Familie 1889 in das neu errichtete Schulhaus in Kingsmuir einzog. Seine Geschwister gingen auf die Akademie von Forfar, die sie auf die spätere Universitätsausbildung vorbereitete. Sein Bruder Wille besuchte bereits mit 16 Jahren die Universität.

Sein Vater machte häufig Gebrauch vom Riemen, denn der Unterricht an einer schottischen Dorfschule war durch Zwang und Disziplin geprägt. Die eigenen Kinder wurden genauso hart bestraft wie die anderen Schulkinder. Die Einkünfte des Schulleiters richteten sich nach dem Schulerfolg seiner Schüler und Schülerinnen, den der Schulrat in regelmäßig stattfindenden Schulinspektionen ermittelte. Die Prügelstrafen häuften sich vor den Inspektionstagen, was die Furcht des Vaters vor dem Urteil des Schulrates deutlich machte. "Der Tag, an dem der Schulrat kam, war für meinen Vater eine Pein. Ich sehe noch sein weißes, angestrengtes Gesicht vor mir und wie er aus dem Fenster sah, um den Schulrat und seinen Assistenten dabei zu beobachten, wenn sie morgens vom Bahnhof kamen. Vaters offensichtliche Furcht wirkte ansteckend auf uns, und wir zitterten mit ihm vor den mächtigen Autoritäten." (Neill 1972, 50). Der dem Leben pessimistisch gegenüberstehende Vater empfand es als quälend, für seine gewissenhaft ausgeführte Arbeit nur einen sehr geringen Lohn zu erhalten (vgl. Neill 1972, 51).

Die Kinder der Familie Neill wurden nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause streng erzogen. Dies zeigte sich beispielsweise darin, daß der Vater pünktlich zur jeweils selben Zeit in seine Trillerpfeife blies, um die Kinder zu ihren Hausaufgaben hereinzurufen. Neill, der das unbegabteste der Kinder war, tat sich am schwersten und war häufig der letzte, der wieder zum Spielen hinaus durfte (vgl. Kühn 1995, 12).

Sex, Stehlen, Lügen, Fluchen und die Entheiligung des "Tages des Herrn" (vgl. Neill 1972, 60) waren tabuisierte Themen in seiner Kindheit. Im Alter von sechs Jahren wurden er und seine Schwester Clunie beim Erkunden ihrer Geschlechtsteile erwischt, weshalb er eine heftige Prügelstrafe vom Vater bezog (vgl. Neill 1972, 65). So wurde Sex von ihm mit Sünde assoziiert, was er erst allmählich überwand.

Die Kindheit Neills war sehr stark vom schottischen Calvinismus geprägt, der auf die Erziehung und Bildung in Schottland einen steten Einfluß nahm. Noch bis 1872 waren alle Schulgründungen und die Gestaltung der Lehrpläne auf Repräsentanten der Kirche oder religiös motivierte Bürger zurückzuführen, und diese Tradition lebte während Neills Schulzeit und weit darüber hinaus noch in Schottland fort.

Im Alter von 14 Jahren, als seine Schulzeit endete, wurde Neill - auf Anweisung seines Vaters - als Buchhaltungsgehilfe bei der Firma W.& B. - Cowan, Ltd., einer Gaszählerfabrik in Edinburgh, eingestellt. Oft hatte er Heimweh, die Arbeitsverhältnisse waren schlecht, sein Verdienst gering, und nach sieben Monaten kehrte er dann nach Hause zurück. Nun sollte Neill nach den Plänen seines Vaters Tuchhändler werden und fing eine Lehre bei dem Tuchwarenhändler Anderson & Sturrock an, wo seine Hauptaufgabe darin bestand, Päckchen auszutragen. Diese Stellung mußte er jedoch bald wieder aufgeben, weil sich die Gelenke seiner Zehen entzündeten und schließlich steif wurden und er das "auf den Beinen sein" und den weiten Nachhauseweg nicht mehr ertragen konnte (vgl. Neill 1972, 74).

    2. 1. 2. Erste Lehrjahre

Da es mit Neill hoffnungslos schien, beschlossen seine Eltern, daß er den Lehrerberuf ergreifen sollte. "Dafür könnte es genügen" (Neill 1972, 74), wie der Vater dann bemerkte und der fünfzehnjährige Neill wurde für vier Jahre als Lehrerpraktikant ("pupil teacher") bei seinem Vater angestellt. Diese sehr typische Lehrerausbildung in England und Schottland kann mit einem Tutorensystem verglichen werden, in dem ausgewählte ältere Schüler und Schülerinnen die jüngeren unterrichteten. So war er erneut Schüler seines strengen Vaters.

Während dieser Tätigkeit wurde ihm die Tatsache vor Augen geführt, daß man etwas am besten lernt, wenn man es lehrt, und diese Erkenntnis bewirkte ein langsames Abflachen seines Desinteresses am Lernen. Obwohl er das Verhalten seines Vater kopierte, behandelte dieser ihn wie einen Schüler und nicht wie einen angehenden Lehrer. Die Tatsache, daß er seine erste Prüfung nach dem zweiten Lehrjahr als Praktikant eher schlecht absolvierte, empfand sein Vater als beschämend. Als er dann gegen Ende des vierten Jahres beim "normal exam", welches entscheidet, ob man ein richtiger Student wird und dann für weitere zwei Jahre nach Glasgow oder Edinburgh an die Universität geschickt wird, mit einer drei durchfiel, war die Enttäuschung seitens des Vaters um so größer. "Ich erinnere mich, daß es 104 Kandidaten gab. Ich wurde 103. auf der Liste und konnte nicht hinein. Natürlich habe ich eine schlechte Meinung über die akademische Lehrerausbildung." (zit. n. Kühn 1995, 18). Da nun die Aufnahme an das Lehrerausbildungs-"College" unmöglich war, wurde er ein sogenannter Ex-Praktikant ("ex-pupil-teacher"). Diese Lehrerausbildung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eher fachpraktisch ist und sogenannte "Hilfslehrer" ausbildet, die die "niedrigsten Würmer im Garten der Bildung" darstellen (Neill 1972, 76), weil ihr akademisches Wissen nicht ausreichend ist.

Nach seiner Praktikantenzeit bewarb er sich nun als "ex-pupil-teacher" an einer Schule in Bonnyring bei Edinburgh. Neill muß während der vierjährigen Ausbildungszeit bei seinem Vater Interesse an der Lehrerrolle gefunden haben, und außerdem schloß er sich damit der Auffassung seines Vaters an, daß der Lehrerberuf die einzige Möglichkeit für ihn sei, einer Beschäftigung nachzugehen. Neill blieb dort aber nur zwei Monate, weil die Erziehungsmethoden sehr streng waren. "Mir wurde befohlen, jedes Kind, das auch nur flüstere, zu schlagen." ( Neill 1972, 83). Danach ging er für drei Jahre als "strenger Zuchtmeister" (Neill 1972, 83) nach Kingskettle in der Grafschaft Fife, wo die Disziplin noch strenger war als in Bonnyrigg. "Das Klassenzimmer von Calder, dem Schulleiter, war von dem meinen nur durch eine Glaswand getrennt, und sein scharfes Auge sah alles, was bei mir vorging." (Neill 1972, 83). Diese Zeit war von Angst begleitet. Neill behauptete sogar, daß nicht einmal sein Vater so streng gewesen war, wie der dortige Schulleiter. Abgestoßen von der militärisch strengen Disziplin versuchte er wenigstens in der Abwesenheit seines Schulleiters in Krankheitsfällen, seinen Schülern und Schülerinnen eine gewisse Freiheit zu geben.

Wesentlich glücklichere Jahre erlebte Neill während seiner Anstellung in Newport - nahe der Industriestadt Dundee, wo er 1906 die Stelle eines Konrektors antrat. Verantwortlich dafür war wohl weniger die strenge Disziplin des Schulleiters Willshers. Hier errang Neill eine gewisse Eigenständigkeit bezüglich seiner Lehrmethoden. So fanden zum Beispiel Naturexkursionen statt. "Willshers Disziplin war unbeschwert - es scherte ihn wenig, wieviel die Kinder schwatzten -, und vom ersten Tag an liebte ich die Schule. Die zwei Jahre in diesem südlichen Vorort von Dundee waren vielleicht die glücklichsten Jahre, die ich bis dahin erlebt hatte." (Neill 1972, 91). In dieser Atmosphäre baute Neill ein sehr großes Selbstbewußtsein auf. Mittlerweile hatte Neill sein Abschlußexamen in der Lehrerausbildung bestanden, und er legte ebenso die zweite Hälfte der Aufnahmeprüfung zur Universität ab, denn er hatte sich nun entschieden, ein Hochschulstudium aufzunehmen, um nicht weiterhin an schottischen Dorfschulen unterrichten zu müssen.

    2. 1. 3. Studium und erste akademische Beschäftigungen

1908 beschäftigte Neill sich mit dem Gedanken, an die Universität in St.-Andrews in Schottland zu gehen, nachdem er die dafür notwendigen Aufnahmeprüfungen bestanden hatte, doch wieder einmal bewirkte der Einfluß seines Vaters, daß er an die Universität nach Edinburgh ging, um Agrarwissenschaft zu studieren. "Der Umstand, daß ich bereit war, Agrarwissenschaft zu studieren, zeigt, wie unstet ich war. Ich interessierte mich nicht für Landwirtschaft und wußte, daß ich mich nie dafür interessieren würde. Ich akzeptierte den Vorschlag, diese Laufbahn einzuschlagen, wie man eine Aufforderung zum Tennisspielen annimmt - weil man gerade nichts Besseres vorhat." (Neill 1972, 99). Bereits nach einem Jahr des Studiums wechselte er seinen Studiengang. "Naturwissenschaften [waren] nicht meine Berufung, und ich wechselte zu Englisch" (zit. n. Kühn 1995, 22). Diesem Studiengang brachte er mehr Begeisterung entgegen. Literarisch beschäftigte er sich mit Wells, Shaw, Shakespeare, Spenser, Chaucer, Pope, Dryden u.a.. Als Student wandte Neill sich sozialistischen Ideen zu und brachte schließlich die Studentenzeitschrift "Student" heraus, die auch schon sein Bruder veröffentlicht hatte, was ihm nicht nur Respekt bei den Studenten verschaffte, sondern auch eine gewisse journalistische Übung bot. In den hier veröffentlichten Artikeln wurden die universitäre Form der Lehre und die allgemein gängigen Erziehungsmethoden abgelehnt: "Wir haben uns widerwillig dafür entschieden, unsere Professoren für alles andere als gute Lehrer anzusehen. Viele von ihnen sind tatsächlich überhaupt keine Lehrer, sie sind ausschließlich Vorleser. Im zwanzigsten Jahrhundert sind Vorlesungen ein Anachronismus." (zit. n. Kühn 1995, 22).

Als Neill seine akademische Ausbildung zum Master of Arts am 5. Juli 1912 zu seiner eigenen Überraschung mit dem guten Abschluß "Second Class Honours" abgeschlossen hatte, war für ihn klar, daß er den Lehrerberuf nicht ausüben wollte. "Nein, das Lehramt würde meine letzte Zuflucht sein, wenn alle anderen Stricke rissen." (Neill 1972, 112). Sein Interesse galt einer journalistischen Laufbahn. So nahm er eine Stellung bei T.C. & E.C. Jacks an, einem Verlag in Edinburgh, der eine einbändige Enzyklopädie herausbringen wollte. Neill wurde Redakteur und seine Aufgabe bestand darin, Beiträge zu redigieren. Im Rahmen dieser Tätigkeit zog er dann nach London um. Auch als die Arbeit beendet und er kurzfristig ohne Anstellung war, betonte er noch einmal, das einzige, was er nicht wolle, wäre "nach Schottland zurückkehren und Lehrer werden" (Neill 1972, 116). Also blieb er weiterhin im journalistischen Bereich und war als künstlerischer Assistent für das neugegründete "Piccadilly Magazine" tätig, was jedoch niemals erschienen ist, da die Redaktion sich nach Kriegsausbruch auflöste.

    2. 1. 4. Neill als Schulleiter und seine Kontakte mit der neuen Erziehungsbewegung

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, nahm Neill am 15. Oktober 1914 wider Erwarten die Stelle des stellvertretenden Schulleiters von Gretna Green an, um sich wohl auch vor dem Eintritt in die Armee zu schützen. Neill bezeichnete es selbst als Absurdität, daß er als "pädagogischer Ketzer [...] die Laufbahn des Lehrers einschlug, weil [er] im Journalismus scheiterte und fürs Militär nicht genügend Mut hatte" (Neill 1972, 122). Der bisherige Rektor der örtlichen Schule hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, und Neill übernahm nun die Leitung der schottischen Dorfschule, die von 150 Kindern besucht wurde. Hier begann er zu schreiben und beschäftigte sich zum ersten Mal mit Erziehungsfragen. Er machte wenig Gebrauch von den disziplinarischen Maßnahmen. Die Sinnlosigkeit mancher verpflichtender Themen in den einzelnen Fächern, weckte in ihm die Idee, daß Schüler und Schülerinnen, die sich nicht für den Unterricht interessierten, den Klassenraum verlassen und die weniger populären Fächer vernachlässigen durften. Es wurden Ausflüge in die Natur unternommen und Lehrbücher durch ausgewählte Literatur ersetzt. Anstöße für die Entwicklung seiner pädagogischen Ideen bekam Neill sicherlich in Gretna Green, die er als inoffizielles Schultagebuch in dem Buch "A Dominie's Log" festhielt.

Noch im Frühjahr 1917 wurde Neill zur Musterung befohlen und als kriegstauglich gemustert. Er durchlief unterschiedliche militärische Stationen, bis er schließlich wegen einer schweren Grippeerkrankung aus dem Militärdienst entlassen werden mußte.

Während der Zeit seiner Militärausbildung erfuhr Neill von dem amerikanischem Erzieher Homer Lane und seiner Besserungsanstalt für jugendliche Verbrecher mit dem Namen "Little Commonwealth", wo er sich nun bewarb. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Schule bereits geschlossen, und so bewarb er sich an der "King Alfred School" von John Russell, wo er eine Anstellung als Lehrer bekam. Diese koedukative Reformschule im Londoner Stadtteil Hampstead war gekennzeichnet durch die Abschaffung von Noten und Prügelstrafe. Neills berühmtestes Experiment an der dortigen Schule war die Einführung des "Self-government" nach Homer Lanes Vorbild, was jedoch noch in seinem Anfangsstadium war. Als es zu Protesten innerhalb des Lehrerkollegiums hinsichtlich der Selbstverwaltungssitzungen über die einzelnen Lehrer und Lehrerinnen kam, legte ihm John Russell nahe, die Arbeit an dieser Schule niederzulegen.

    2. 1. 5. "New Era"

Als er die "King Alfred School" verlassen mußte, entschied er sich gemeinsam mit Beatrice Ensor im Frühjahr 1920, die Zeitschrift "Education of the New Era" herauszugeben. Er konnte sich mit einer breiten Themenwahl beschäftigen und übte heftig Kritik an dem bestehendem Schulsystem. Während dieser Zeit mußte auch Neill sich mit der international bekanntwerdenden Montessori-Pädagogik beschäftigten. Die Einstellung zu Maria Montessoris Erziehungsmodell lehnte Neill jedoch gefühlsmäßig ab. "Nein, die Montessori-Welt ist zu wissenschaftlich für mich. Sie ist zu ordentlich, zu didaktisch. Der Name ,didaktischer Apparat' macht mir Angst." (Croall 1983, 105). An anderer Stelle behauptet Neill, daß "das Montessori-System, wunderbar, wie es ist, kein künstlerischer Weg [ist], das Kind über sein tun lernen zu lassen. Es hat nichts Kreatives an sich." (zit. n. Kühn 1995, 49). Als Mitherausgeber der Zeitschrift "New Era" gewann er einen größeren Bekanntheitsgrad und wurde zu Vorträgen eingeladen, die Themen wie Mechanismen des Denkens, Psychoanalyse, das Unterbewußtsein des Kindes, die Psychologie des Prügelpädagogen, "Self-government" und Massenpsychologie beinhalteten. "Ich hatte ein unheimliches Gefühl für das Publikum bei Vorträgen; wenn ich auf das Podium stieg, wußte ich nicht, ob ich bei den Zuhörern Zustimmung finden würde oder nicht [...]. Einer meiner Tricks war, eine lustige Geschichte zu erzählen, sobald die Leute gelangweilte Gesichter machten oder mit Papier raschelten." (Neill 1972, 22f).

Überall in Europa entstanden damals Reformschulen, die ihren Ursprung in der Kritik an den veralteten Erziehungsidealen des etablierten Bildungswesen hatten. Merkmale dieser neuen Schulen - meistens private Internatsschulen oder Schulen in sozialen Brennpunkten der Städte - waren beispielsweise die Einführung von Koedukation, die Loslösung von festen Stunden- und Fachschemata, die Auflösung von Klassen- und Jahrgangsverbänden, das Ersetzen von Lehrbüchern durch teilweise selbst erstellte Nachschlagewerke oder die Einrichtung von Schuldruckereien und Schulgärten.

Als Neill im Jahre 1921 wegen einer Konferenz, auf der er einen Vortrag über Erziehung hielt, nach Salzburg reiste, führte es ihn anschließend nach Hellerau, einem Vorort Dresdens, wohin ihn Lilian Neustätter eingeladen hatte, eine Australierin, die er bereits 1918 während seiner Tätigkeit an der "King Alfred School" in London kennengelernt hatte. In Hellerau gab es die "Jaques-Dalcroze"-Schule, deren Betrieb Neill in einem Bericht für die New Era beschrieb, wofür er eigentlich auf den Kontinent gereist war.

Angeregt durch neue Gedanken in einer Zeit, in die experimentelle Erprobungen unterschiedlichster neuer pädagogischer und auch psychologischer Erkenntnisse fallen, entschlossen sich Karl Baer, ein Architekt, und seine amerikanische Frau Christine, eine Schülerin von Emile Jaques-Dalcroze, eine Rhythmik-Schule in Hellerau zu gründen. Christiane Baer gab Neill die Chance, in dieser "Neuen deutschen Schule" eine internationale Schule nach seinen Vorstellungen zu gründen. Bereits 1921 kristallisierten sich in Hellerau bestimmte Elemente heraus, die Neills Erziehungsstil bis zu seinem Lebensende bestimmen sollte. So nahm er beispielsweise die Form des "Self-government" wieder auf. Außerdem war die Teilnahme am Unterricht freigestellt. Auch die sogenannten "Private lessons" fanden hier ihren Ursprung, auf die ich später noch genauer eingehen werde. "Brillante Unterrichtsmethoden" lehnte Neill jedoch schon hier ab. "Das Interesse sollte aus dem Kind selbst kommen, und dieses Dinge-interessant-machen ist falsch." (zit. n. Kühn 1995, 54). Seine Idealvorstellungen in bezug auf das Lehrerkollegium ließen sich hier nur schwer realisieren. Sowohl Lehrkräfte als auch Schüler und Schülerinnen waren in dem Schulheim untergebracht, deren Geschäftsführung von Lilian Neustätter übernommen wurde. In Hellerau entstand sein viertes Buch mit dem Titel "A Dominie Abroad", das von den Erlebnissen in Deutschland berichtet. Als jedoch 1923 ein kommunistischer Putsch einen Bürgerkrieg in Sachsen ausbrechen ließ und immer mehr Eltern ihre Schüler und Schülerinnen von dieser Schule holten, mußte die Schule ihren Betrieb einstellen.

Ein ehemaliges Kloster auf dem Sonntagberg in Österreich erschien Neill dann geeignet für die Fortsetzung des Schulbetriebs. Lilian Neustätter übernahm weiterhin die Leitung des Schulheims. "Regulärer Unterricht fand an dieser Schule nicht statt - wenn die Kinder Fragen hatten, wurde eine Gruppe gebildet, die sich mit bestimmten Sachverhalten auseinandersetzte. Es wurden einfache Fotoapparate gebastelt oder mit Ton keramische Experimente vorgenommen." (Croall 1983, 128).

Doch dort stieß diese Schule auf heftigen Widerstand der Bevölkerung und seitens der Schulbehörde. Gründe hierfür waren, daß weder Religionsunterricht noch Leibesübungen oder hauswirtschaftlicher Unterricht erteilt wurde, was für österreichische Schulen verpflichtend war. Die Dorfbewohner monierten aufs heftigste, daß Mädchen sich im Badeanzug in der Sonne badeten und auch Schüler nackt auf dem Schulgelände herumliefen. Daraufhin wurde entschieden, die Schule nach England zu verlegen.

    2. 1. 6. "Summerhill"

Ende 1924 reiste Neill mit einer kleinen Gruppe nach England. Er kaufte sich zunächst ein Haus in Lyme Regis in der Grafschaft Dorset. Das Haus wurde Summerhill genannt. In der Oktoberausgabe der Zeitschrift "New Era" erschien die folgende Notiz: "A.S. Neill [...] hat seine Internationale Schule heimgebracht und sich in Summerhill, Lyme Regis, niedergelassen. Er spezialisiert sich auf Problemkinder und sagt, daß er Jungen und Mädchen aufnehmen will, die an anderen Schule beschwerlich, faul, träge, antisozial sind. Standhaft weigert er sich, Kompromisse einzugehen." (zit. n. Kühn 1995, 64). Die Schule setzte sich zunächst aus fünf Schüler und Schülerinnen zusammen, die bereits auf dem Sonntagberg in Österreich dabeigewesen waren, und von denen nur drei die Schulgebühren bezahlten. 1926 erschien Neills achtes Buch "The Problem Child", was die Popularität seiner Schule schlagartig erhöhte. Er versuchte mit diesem Buch zu verdeutlichen, daß die moralbetonte Erziehung der Eltern die Erziehung der Kinder nachhaltig beeinflusse. Die Veröffentlichung des Buches bewirkte zum einen ein Ansteigen der Zahl der Schüler und Schülerinnen und zum anderen ein Ansteigen der Problemkinder. Die "Private lessons", Einzelgespräche mit den Schüler und Schülerinnen, wurden hier von Neill aufgenommen. Auch wurden bereits in den ersten Gründerjahren die einmal wöchentlich stattfindenden Schulversammlungen durchgeführt. Neill, der der Institution Ehe eher skeptisch gegenüberstand, heiratete Lilian Neustätter "der Schule wegen: ich mußte mich ehrbar und solide geben." (Neill 1972, 271). Sie unterrichtete nicht nur Fächer wie Stenographie, Schreibmaschinenschreiben, Geschichte, Deutsch und Englisch, sondern sie regelte auch die finanziellen Angelegenheiten. Desweiteren kümmerte sie sich um die "Hausmütter", die im Zusammenhang mit der steigenden Schülerzahl eingestellt wurden.

1927 wurde die Schule nach Leiston der Grafschaft Suffolk verlegt. "Ich bedauerte es nicht, als der Mietvertrag auslief. Ich kaufte mir einen alten rundnasigen Morris Cowley und reiste entlang der Südküste auf der Suche nach einem Haus. Ich sah einige Schönheiten, die bis zu 20 000 Pfund kosten sollten. Dann erweiterte ich meine Suche auf die Ostküste, und das Haus in Leiston war das letze auf meiner Liste. Der Preis betrug nur 3250 Pfund, und wir nahmen für den Kauf eine Hypothek auf." (zit. n. Kühn 1995, 68f). Die Schule zählte nun bereits 31 Schüler und Schülerinnen. Die durch die Herausgabe weiterer Bücher Neills und seine Vortragsreisen hervorgerufene Popularität bewirkten, daß 1932 eine Warteliste für die Aufnahme in Summerhill bestand (vgl. Croall 1983, 7)

Als der Zweite Weltkrieg einsetzte, wurde das Schulgebäude in Leiston requiriert und ein "Notquartier" in Festiniog in Nord-Wales gefunden, wo Neill und die Schüler und Schülerinnen fünf Jahre lang lebten. "Vor Bomben sind wir in Wales zwar sicher, aber das Wetter ist ständig regnerisch und schwächt den Tatendrang, und man ist isoliert von Kultur und Gesellschaft." (zit. n. Kühn 1995, 84). Diese Zeit verbindet Neill mit vielen negativen Erinnerungen. Zum einen empörten sich die Dorfbewohner über ihr "heidnisches Benehmen" (vgl. Neill 1972, 155), zum anderen verstarb seine Frau an den Folgen eines Schlaganfalles. Neill behauptete, daß diese Schule kein richtiges Summerhill war, denn Eltern schickten ihre Kinder dorthin, um sie in Sicherheit vor dem Krieg zu wissen. Nach dem Krieg wurden diese Kinder wieder zurückgeholt.

1945 kehrte Neill zurück nach Summerhill. "Vielleicht war der froheste Tag in meinem Leben der, an dem ich 1945 nach dem verhängnisvollen Zwischenspiel in Wales nach Leiston zurückkehrte. Die Schule war in einem schlimmen Zustand. Die Armee hatte sie fünf Jahre lang gehabt und in dieser Zeit mehr Schaden angerichtet, als die Kinder in 25 Jahren angerichtet hätten, aber das alles machte nichts aus." (Neill 1972, 183).

Er hat diesen Schritt nie bereut, denn wie er schreibt, ist das Klima erfrischend und "die elf Morgen Land stellen ein Paradies für die Kinder dar" (Neill 1972, 185). Hier heiratete er dann Ena Wood, die ursprünglich als Küchengehilfin nach Festiniog gekommen war und bald zu Neills "Sekretärin" avancierte. Zu diesem Zeitpunkt war Neill 61 und Ena 34 Jahre alt.

Neill behauptet, daß er in keinem anderen Land Summerhill hätte gründen können, da England zu den freiesten Ländern zählt. Englische Schulen, ob öffentlich oder privat, unterstehen der Kontrolle des Erziehungsministeriums. 1949 wurde die Schule zum ersten Mal von Schulinspektoren kontrolliert. Der Bericht der Schulinspektoren ist in seinem Werk "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" erschienen. Die Aufgabe der Schulinspektoren war es, sich über schulische Dinge und den Unterricht zu informieren. Das Ministerium für Erziehung und Wissenschaft toleriert Schulen wie Summerhill, erkennt sie aber nicht öffentlich an. Solche Besuche beunruhigten Neill immer sehr stark, da die Inspektoren eher bemüht sind, ein Bild vom Wissensstand der Schüler und Schülerinnen zu erhalten, als sich über Zufriedenheit, Glück, Aufrichtigkeit, Ausgeglichenheit und Toleranz der Kinder zu informieren, wie es sich Neill sehr gewünscht hätte. Wenn eine Privatschule in England als leistungsfähig gelten möchte, muß sie die staatliche Anerkennung beantragen, und erst eine Inspektion entscheidet über die Gewährung. Neill hat diesen Antrag nie gestellt, weil es mit seiner Grundeinstellung nicht vereinbar gewesen wäre. Er vertrat die Position, "daß man nichts wirklich Wichtiges lehren kann. Mathematik, Englisch, Französisch ja, aber nicht Güte, Liebe, Aufrichtigkeit." (Neill 1972, 194). Aus diesem Grund betrachtete Neill die staatlichen Inspektoren als unfähig, seine Schule überhaupt beurteilen zu können, da die von ihnen angelegten Kriterien bezüglich der Qualität des Unterrichts allesamt den "weniger wichtigen" zuzuordnen wären. Da diese Inspektoren jedoch in der Lage gewesen sind, Summerhill zu schließen, mußte er gezwungenermaßen mit ihnen kooperieren und verhielt sich kompromißbereit, indem er sich an Bestimmungen und Vorschriften hielt, die zum Beispiel das Schulgebäude betrafen.

    2. 2. Sozialpädagogische und psychoanalytische Mentoren

    2. 2. 1. Homer Lane

Die Ansichten des anglo-amerikanischen Erziehers und Psychologen Homer Lane (1875-1925) übten einen sehr großen Einfluß auf Neill aus. Wie aus dem zweiten Teil seiner Autobiographie hervorgeht, hat nichts so stark sein Leben beeinflußt wie Lane (vgl. Neill 1972, 168). Er lernte von ihm eine andere, ihm bis dahin unbekannte Art des Umgangs mit Kindern (vgl. Neill 1972, 169). Nach seiner Begegnung mit Lane spricht Neill von einer "neuen Welt", die er durch Lane kennengelernt hatte (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 13).

Obwohl Lane einen nachhaltigen Einfluß auf Neill und seine Schule Summerhill ausübte und Parallelen beider Konzepte unübersehbar sind, wird dem Laneschen Erziehungskonzept wenig Bedeutung zugesprochen. Außer in den von Neill publizierten und ins Deutsche übersetzten Büchern findet man kaum einen Hinweis auf Lanes Erziehungsexperiment. Deshalb halte ich es für angebracht, auf Lanes Erziehungsmodell und seine Grundlagen einzugehen.

Lane war zunächst als Slöjd-Lehrer tätig, wodurch er erstmals mit reformpädagogischen Ansätzen in Berührung kam. 1907 gründete er die "Ford Republik", ein Rehabilitationszentrum mit selbstverwalteter Gemeinschaft für Jugendliche. Lane vertrat die Auffassung, daß die straffällig gewordenen Jugendlichen statt eine Haftstrafe im Gefängnis abzusitzen, ihre Angelegenheiten und die der Gemeinschaft in Freiheit und eigener Verantwortung zu regeln lernen sollten.

1913 ging Lane nach England, um beim Aufbau des von George Montagu, dem späteren Lord Sandwich, gegründeten Heimes "Little Commonwealth" (ein Heim für 40 bis 50 verwahrloste Jugendliche) mitzuhelfen, dessen Leitung er bis zu dessen Schließung im Jahre 1918 übernahm. Danach ließ sich Lane in London als Psychotherapeut nieder. Grund für die Schließung war die Tatsache, daß Lane angeblich Geldgeschenke von einer Patientin annahm. Außerdem soll er straffällig gewordene Mädchen verführt haben. Später mußte er sich sogar wegen der Verführung von Patientinnen vor Gericht behaupten. Sein Name wurde dadurch eher mit dem gesellschaftlichen Skandal als mit seinen Erfolgen bei der Arbeit mit straffällig gewordenen Kindern in Verbindung gebracht.

Lane führte als einer der ersten Jugendkriminalität auf eine harte, lieblose Erziehung zurück. Ferner vertrat er die Auffassung, jugendliche Delinquenten seien durch Lob und Zuwendung und nicht durch Strafe zu bessern. Er glaubte an ihre "guten" Eigenschaften und schenkte ihnen Vertrauen. Durch den Verzicht von Zwang und durch das Prinzip der Selbstverwaltung der Gemeinschaft sollte den Jugendlichen die Gelegenheit zur Resozialisierung gegeben werden.

Da Lane der Ansicht war, daß jeder Lehrer sich einer Analyse unterziehen sollte (vgl. Neill 1972, 168), beschloß auch Neill, sich von Lane analysieren zu lassen. Er behauptete später, daß diese Analysen ihn nie emotional berührten, vielmehr lernte er von Lane den Umgang mit Kindern. "Sein Grundsatz war: Man muß auf der Seite des Kindes sein." (Neill 1972, 169).

Lanes Menschenbild ist optimistischer Natur. Er verneint die angeborene Sündhaftigkeit und bejaht die Güte des Menschen. "Lane was given to saying that he believed in original goodness, and not original sin." (Croall 1983, 82).

In dem aggressiven Verhalten krimineller Jugendlicher sah Lane ein Produkt fehlerhaft entwickelter Eigenschaften. In diesem Sinne lehnte Lane es ab, bei diesen Jugendlichen von "Unmoral" zu sprechen und pflegte zu sagen, daß hinter jeder bösen Tat immer ein gutes Motiv stecke (vgl. Neill 1969, 144). Die unterschiedlichen Vergehen eines Menschen betrachtete Lane als äußere Anzeichen für die soziale und gesellschaftliche Desorientierung, in die dieser Mensch hineingeraten war. In Lanes "Little Commonwealth" galt es deshalb Vertrauen, Verantwortung und den Glauben an sich und in den anderen in jenen Menschen zu stärken, die diesen Glauben nie entfaltet bzw. wieder verloren hatten.

Die Theorie, die Lanes Erziehungsmethoden zugrundeliegt, entwickelte sich aus seinen praktischen Erfahrungen mit straffälligen Jugendlichen und soll im folgenden kurz dargestellt werden.

Lanes erste Erfahrungen mit Kriminellen zeigten ihm, daß der Mensch von Natur aus gut sei, und erst durch mangelnde Freiheit in der Kindheit in die Dissozialität gerät. Daraus resultierte, daß den straffällig gewordenen Kindern zunächst ihre Selbstachtung und Selbstvertrauen durch soziale Anerkennung wiedergegeben werden müsse. Lane führte die Selbstverwaltung ein, in der jeder einzelne für die Aufgabe und das Bestehen der Gemeinschaft verantwortlich ist. Bei dem Versuch der Resozialisierung von straffälligen Jugendlichen hat Lane auf Zwang und Strafe verzichtet. Besonders auffallend ist die Tatsache, daß Lane bei dem Umgang mit den Jugendlichen darauf bedacht war, die Erziehungsmethode des "Wohlwollens und der Liebe" anzuwenden. Dies setzt voraus, daß der Erwachsene sich prinzipiell "auf die Seite des Kindes stellt", d.h. den Heranwachsenden grundsätzlich als Gleichberechtigten anerkennt und ihm Liebe und Anerkennung entgegenbringt.

Lane "kurierte" seine Jugendlichen häufig, indem er versuchte, ihre Straftaten in einem zumutbaren Rahmen zu übertreffen, um ein besseres Vertrauensverhältnis zu den Jugendlichen aufzubauen. Diesem Vorgehen liegen folgende Auffassungen zugrunde: Er ging davon aus, daß ein fortwährender Konflikt zwischen den Forderungen der Triebe und der Gesellschaft besteht. Nach Lane sind die triebhaften Wünsche von der Natur und gleichzeitig von Gott geschaffen und deshalb müssen sie gut sein. Die Natur bezeichnet er demnach als "Mother nature". "Mother Law" bezeichnet dagegen die Korrektur durch die Gesellschaft und das Ausüben der elterlichen Funktion. Beide Tendenzen stehen im Widerspruch. Leicht kann ein Konflikt zwischen den triebhaften Wünschen und den Forderungen der Gesellschaft entstehen, sobald beispielsweise elterliche Verbote von strengen "Moralpredigten" begleitet sind. Moralisierendes Verhalten seitens der Eltern beinhaltet zwei Gefahren: Zum einen werden Angst und Haß beim Heranwachsenden hervorgerufen und zum anderen könnte beim Kind die Überzeugung hervorgerufen werden, daß der eigene Weg, das Abweichen von den Vorstellungen der Eltern, mit dem Verlust der elterlichen Liebe verbunden ist (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 25).

Lane vertrat die Auffassung, daß Kinder, die in den frühen Jahren ihrer Kindheit in den Genuß einer Erziehung kamen, die auf jegliche Angsterzeugung und moralischen Druck verzichtete, weder neurotisch noch straffällig werden. Eine freie Atmosphäre war für Lane unerläßlich, denn ohne sie kann keine pädagogische Beeinflussung in Richtung Gemeinschaft stattfinden. Was Freiheit für Lane bedeutete, soll mit dem folgenden Beispiel sichtbar gemacht werden. Dabei ist eine auffallende Parallelität zu Neill erkennbar.

"Ein Junge riß aus dem "Little Commonwealth" aus. Lane lief ihm nach und holte ihn ein. Der Junge, der an Schläge gewohnt war, hob schützend seinen Arm. Lane lächelte und drückte ihm Geld in die Hand. ,Wofür?' stammelte der Junge. ,Nimm den Zug nach Hause', sagte Lane, ,Du brauchst nicht zu gehen'. Der Junge kehrte am gleichen Abend ins Commonwealth zurück." (Neill 1969, 254). Das Prinzip der Freiheit kannte jedoch auch hier seine Grenzen, denn es existierten Regeln, die für alle verbindlich waren und in der einmal wöchentlich stattfindenden Versammlung gemeinsam besprochen und aufgestellt worden waren. Zuwiderhandlungen wurden damit geahndet, daß der Betroffene solange nicht an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilhaben konnte, bis er sich selbst wieder entschloß, eine für die Gemeinschaft nützliche Tätigkeit aufzunehmen. So fügte sich jeder in die Notwendigkeit des Zusammenlebens wieder ein, wenn er im "Little Commonwealth" bleiben wollte.

Die Auffassung, daß das Kind sich nur in Freiheit entwickeln kann, vertrat auch Neill.

Eines der wichtigsten Prinzipien des Erziehungskonzepts nach Lane war die Selbstverwaltung ("self-government"). Sie wurde in einer Gemeinschaft praktiziert, die nach demokratischen Gesichtspunkten aufgebaut war. Das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden war gleichberechtigt. Eine in einer Gemeinschaft festgelegte Verfassung sollte grob das Zusammenleben regeln und koordinieren. Die Angelegenheiten, die die Jugendlichen betrafen, wurden so in der Versammlung von ihnen selbst geregelt.

Nachdem Neill seinen Plan, im "Little Commonwealth" zu unterrichten, wegen dessen Schließung nicht verwirklichen konnte, nahm er Lanes Angebot, sich von ihm analysieren zu lassen, an. Wie aus Neills Autobiographie hervorgeht, ist eine positive Beeinflussung durch Lanes Erziehungsmethoden zu erkennen, und nicht - wie zu erwarten - durch seine Analyse. Neill vertrat nämlich die Auffassung, daß Lane besser geeignet war, "sich mit aus der Bahn geworfenen Kindern zu beschäftigen", als "mit neurotischen Erwachsenen (Neill 1972, 169). Lanes Methoden bezüglich Kindererziehung stellten für Neill eine "Offenbarung" dar (Neill 1972, 169).

Die Bekanntschaft mit Lane führte dazu, daß Neill nicht nur Erkenntnisse über die pädagogische Psychologie, sondern auch über die Psychoanalyse gewann. So wurde Neill der Anreiz gegeben, seine bis dahin vage formulierten Erziehungsgedanken zu vertiefen und wissenschaftlich zu unterlegen. Die Heranführung Neills an die Psychoanalyse wird als eine bedeutende Leistung Lanes angesehen. "Perhaps Lane's most important action was to introduce Neill to the revolutionary ideas of Sigmund Freud and his fellow-psychoanalysts in Vienna." (zit. n. Croall 1983, 85). An anderer Stelle wird der Einfluß Lanes auf die Erziehungsvorstellungen von Neill nochmals deutlich: "Neill's two years as a pupil of Lane gave him both the momentum and the inspiration to clarify his goal, which was now to work with children the Little Commonwealth way." (Croall 1983, 96).

Dazu Neill: "He [Lane] came along amongst a rather dull set of people with set ideas, people who knew, or thought they knew, what a child should be. [...] He was the first man who simply said, we don't know a damm thing about children upon them. That's what I got from Lane." (Croall 1983, 96).

In dieser Äußerung wird deutlich, daß das Verstehen der Kinder durch Beobachtungen erfolgt und daß Erziehung gelernt werden muß. Diese Haltung gegenüber dem Heranwachsenden sollte in der Folge für Neill eine bedeutende Stellung einnehmen.

    2. 2. 2. Sigmund Freud

Durch Lanes Heranführung an Freuds wissenschaftliche Arbeiten setzte sich Neill erstmals mit der Tiefenpsychologie auseinander, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll.

Die Theorie der Tiefenpsychologie besagte, daß Kindheitserlebnisse eine wichtige Rolle im späteren Leben spielen, d.h., daß die Eindrücke, die das Kind innerhalb der Familie sammelt, die Bildung seines Charakters und die Gestaltung seiner Persönlichkeit maßgeblich beeinflussen. Ein seelisch kranker Mensch wäre also ein Produkt unverarbeiteter Kindheitserlebnisse.

Auch Neill war der Auffassung, daß ein enger Bezug zwischen neurotischen Fehlentwicklungen und frühen Kindheitserlebnissen besteht. "Neill was one of those who, from observation as much as from intellectual conviction, believed that adult neuroses could be put down to experiences in early childhood." (Croall 1983, 151). Für Neill waren folgende Faktoren Auslöser von Neurosen: Strenge, unrealistische und überhöhte moralische Anforderungen, Unaufrichtigkeit der Eltern in bezug auf sexuelle Fragen und unnötige Strafen.

Freud meinte, daß Kindheitserlebnisse einen kontinuierlichen Einfluß -zu gleichen Teilen bewußt wie unbewußt- auf das menschliche Handeln ausüben. Diese Entdeckung des Unbewußten bezeichnete Freud als die dritte Ernüchterung der Menschheit. Welche Konsequenzen dies für die Pädagogik Neills hatte, formulierte er wie folgt: "Freud sagt, das Unbewußte sei unendlich viel wichtiger als das Bewußte. Ich sagte mir deshalb: ,In meiner Schule wird es keine Mißbilligung, keine Strafen, keine Moralpredigten geben'." (Neill 1969, 270). Fehlverhalten soll in diesem Sinne als Irrtum, nicht als Böswilligkeit gesehen werden. Daraus ergab sich für Neill, daß es sinnlos sei, ein Kind für seine Fehler zu bestrafen oder Moralpredigten zu halten, weil die Triebe des Handelns dem Kind nicht bekannt bzw. unbewußt wären. Neill lehnte die strafende Haltung eines Erziehers ab und forderte ihn statt dessen auf, zu versuchen, das Kind und den Grund des Fehlverhaltens zu verstehen. "Wenn man mit Kindern zu tun hat, muß man sich der Tiefenpsychologie bedienen. Es geht darum, die verborgenen Motive ihres Verhaltens zu finden. Ein bestimmter Junge verhält sich asozial. Aber warum? Die Symptome sind unübersehbar, denn sie fallen einem auf die Nerven. Vielleicht tyrannisiert er andere, vielleicht stiehlt er, vielleicht ist er ein Sadist. Was sind die Gründe dafür? Der gereizte Lehrer tobt und straft, aber wenn er sich ausgetobt hat, ist das Problem nach wie vor ungelöst." (Neill 1969, 268).

Freud vertrat die Auffassung, daß der Sexualtrieb eine zentrale Bedeutung für das seelische Gleichgewicht des Menschen einnimmt und daß infolge verfehlter Sexualerziehung und mangelnder Aufklärung der menschliche Sexualtrieb verkümmern kann. Unaufgeklärte Menschen können damit nach Freud an seelischen Störungen leiden. Daraus resultierend forderte Freud ein Erziehungsklima, in der Sexualität nicht als etwas "Niedriges" und "Verabscheuenswürdiges" dargestellt wird (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 49).

Wie Freud betrachtete auch Neill lange Zeit die Sexualität als die stärkste Triebkraft im menschlichen Verhalten (vgl. Neill 1969, 198). Auch er glaubte, daß eine traditionell moralische und sexualverdrängende Erziehung zu Neurosen bei Kindern führen könne. Neill kritisierte die gängige Moralerziehung und ließ die sexuelle Aufklärung zu einem zentralen Punkt seiner Erziehungskonzeption werden. Kindliches Fehlverhalten war seiner Meinung nach oft die Folge von sexueller Unterdrückung. "Freud hat nachgewiesen, daß jeder Neurose sexuelle Verdrängung zugrunde liegt. Ich sagte mir deshalb: Ich werde eine Schule gründen, in der es keine sexuelle Verdrängung gibt." (Neill 1969, 270).

    2. 2. 2. Wilhelm Reich

Seit Mitte der dreißiger Jahre unternahm Neill Vortragsreisen nach Schweden und Norwegen, wo er begeisterte Zuhörer fand. Neill begegnete Wilhelm Reich zum ersten Mal im Jahre 1937. "Ich hielt eine Vorlesung an der Osloer Universität, und danach sagte der Professor zu mir: ,Heute abend war ein berühmter Mann unter Ihren Zuhörern, Wilhelm Reich'. ,Mein Gott', sagte ich, ,ich habe gerade auf dem Schiff seine ,Massenpsychologie des Faschismus' gelesen'. Ich rief Reich an, und er lud mich zum Essen ein. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht hinein, und ich war fasziniert." (Neill 1972, 175).

Reich, der frühzeitig aus Österreich vor den Nationalsozialisten geflohen war, ließ sich als Analytiker in Norwegen nieder. Er war ein Schüler Freuds, löste sich jedoch 1933 von dessen Lehre und ging in der Psychoanalyse eigene Wege. Reich stellte die Verbindung zwischen Psychoanalyse und marxistischer Gesellschaftskritik her. Er vertrat die Auffassung, daß der Kommunismus zu einem bürokratischen Staat erstarren würde, wenn er keine sexuelle Revolution erfahren würde. Reich glaubte außerdem erkannt zu haben, daß die Unterdrückung jugendlicher Sexualität ein Mittel der herrschenden Klasse sei, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Neill entschied sich im November 1937, sich einer Analyse bei Wilhelm Reich in Norwegen zu unterziehen. Gründe hierfür war sicherlich zum einen die Sympathie, die er Reich entgegenbrachte, und zum anderen auch die Übereinstimmung seiner Vorstellungen mit denen von Reich. Reich hatte festgestellt, daß Muskelverspannungen mit emotionalen Funktionen verknüpft sind. Daraus entwickelte sich die sogenannte Vegetotherapie. Anfangs therapierte Reich seine Patienten, indem er ihnen diese Verknüpfung erklärte, und später wendete er gezielte Massagen an. "Er sagte, ich könnte nur etwas lernen, wenn ich mich seiner vegetativen Therapie unterzöge, was bedeutete, daß ich nackt auf dem Sofa lag, während er meine steifen Muskeln bearbeitete. [...] Es war eine anstrengende und oft auch schmerzhafte Therapie, aber innerhalb weniger Wochen fand ich mehr emotionale Befreiung, als ich je bei Lane, Maurice Nicoll oder Stekel gefunden hatte". (Neill 1972, 173). Jeden weiteren Aufenthalt in Norwegen nutzte Neill, um sich von Reich therapieren zu lassen, bis Reich 1939 in die USA emigrierte und ein intensiver Briefwechsel aus dem Patient-Therapeut-Verhältnis eine tiefe Freundschaft entstehen ließ. "Meine Verbindung mit Reich wirkte sich jedoch nicht auf meine Schularbeit aus. Summerhill hatte schon sechsundzwanzig Jahre bestanden", schrieb Neill 1967, "als ich ihn kennenlernte, und das Zusammentreffen änderte an der Schule direkt nichts" ( zit. n. Kühn 1995, 80).

Es ist jedoch bekannt, daß Neill die Techniken der "Vegeto-Therapie" im Kriegsverlauf an Summerhill-Schüler und Schülerinnen versuchte zu praktizieren. Neill schrieb in einem Brief an Reich: "Ich veg-therapiere 4 Mädchen und 4 Jungen, alles Jugendliche. Oft wünsche ich mir, ich könnte deinen Rat einholen, aber ich glaube, es ist besser, daß es nicht geht." (zit. n. Placzek 1982, 183). Die Anwendung derartiger Therapiepraktiken konnte jedoch nicht konsequent durchgeführt werden, denn im religiösen Wales hätte es die Schließung der Schule bedeutet, wenn solche Praktiken an die Öffentlichkeit gedrungen wären. "Es gibt da Probleme. Als Laie darf ich keine nackten Jungen oder Mädchen im Badeanzug behandeln - es kann mir zumindest übles Gerede einbringen -, und sie mit Schichten von Kleidung bedeckt zu behandeln ist unbefriedigend. Ein größeres Problem ist meine Unkenntnis der Anatomie. Ich könnte leicht eine geschwollene Drüse am Hals für eine Muskelverspannung halten." (zit. n. Placzek, 1982, 360). Außerdem benutzte Neill in Summerhill einen von Reich konstruierten "Orgon-Akkumulator", eine mit Blech ausgeschlagene Kiste, in die man sich unbekleidet setzen sollte, um - wie Reich experimentell nachzuweisen versuchte - durch bioelektrische Kräfte positive Einwirkungen auf den Organismus zu erfahren (vgl. Kühn 1995, 94). Neill unterzog eine kurze Zeit Lehrer sowie Schüler und Schülerinnen dieser Therapie.

Die Therapie durch Reich hatte für Neill einen sehr hohen persönlichen Nutzen: "Er erweiterte meinen Gesichtskreis und vertiefte meine Selbsterkenntnis; er merzte die Überbleibsel schottisch-calvinistischer Anschauungen über Sex bei mir aus, indem er mir zeigte, daß meine Bejahung sexueller Spiele unter Kindern eine nur vom Verstand und nicht vom Gefühl bestimmte Bejahung gewesen war." (Neill 1972, 176).

Reich wurde im Mai 1956 wegen "Mißachtung des Gerichts" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, denn er hatte einem früheren Gerichtsentscheid nicht Folge geleistet, seine Bücher und Apparaturen zu vernichten. Er wurde während der kommunistischen "Hexenjagd" in der McCarthy-Ära als "Kommunist" bezeichnet und in Haft genommen und starb am 3. November 1956 in seiner Zelle an Herzversagen.

Auf einige grundlegende Gedanken Reichs und deren theoretischen Verbindungen zu Neills Erziehungstheorie wird im folgenden eingegangen werden.

Zum besseren Verständnis der Reichschen Theorie muß zunächst ihre Divergenz zu Freud näher beleuchtet werden. Einer der grundlegenden Punkte, in denen die Auffassungen von Freud und Reich nicht übereinstimmten, war die Frage des Menschenbildes, insbesondere der Natur der menschlichen Aggression. Freud behauptete, daß die Aggression ein angeborener Trieb sei und daß die Beziehung zur Zivilisation und zu sich selbst am besten als ein Konflikt zwischen den konkurrierenden Trieben des Thanatos (Tod) und Eros (Liebe) und der Realität beschrieben werden könne (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 57). Die soziale Ordnung könne somit nach Freud nur auf dem Weg der Repression und Kontrolle der aggressiven Todestriebe durch autoritäre Institutionen aufrechterhalten werden. Reich distanzierte sich 1933 von dem Konzept des Todestriebes. Er vertrat die Auffassung, daß Gewalt und aggressive Charakterzüge aus einer autoritären und sexualfeindlichen Kindererziehung resultierten. Sexualtriebe und der Wunsch nach deren Befriedigung bildeten zentrale Punkte in dem Konzept von Reich. Hier findet eine Anlehnung an das Freudsche Triebmodell (Libidotheorie) statt, das besagt, daß die aus den sexuellen Funktionsstörungen resultierenden Energiestauungen den Schlüssel zum Verständnis der Neurose sind. Nach Reich ist der Mensch von Natur aus friedlich und liebend; das zentrale Moment individuellen Glücks war für ihn allerdings fast ausschließlich sexueller Natur. In seinem Buch "Die Funktion des Orgasmus" (1927) versucht Reich darzulegen, daß bei einem geregelten Sexualleben mit orgastischer Befriedigung weder aggressive Charakterzüge noch irgendeine Art von Neurose entstehen könnten.

Nach Reich ist die ökonomische Dysfunktion der Libido als Ursache einer Neurose anzusehen (vgl. Skidelsky 1969, 146). Diese Libido-Energie hielt Reich für eine physikalische Energie, die er "Orgon-Energie" nannte. Nach Reich entstehen Neurosen durch einen Stau dieser Orgon-Energie, wodurch eine sexuelle Befriedigung verhindert wird. Diese aufgestaute Sexualenergie wird verwendet, um jenen neurotischen Charakter zu entwickeln, den Reich für die westliche Gesellschaft als typisch bezeichnet. Die Charakterstruktur eines neurotischen Individuums mache sich aber nicht nur psychisch sondern auch physisch bemerkbar, nämlich in Muskelverspannungen. Reichs Therapie bezog sich so zum einen auf die Beseitigung der Muskelverspannungen (Vegetotherapie) und zum anderen auf die Wiederherstellung der Orgasmuspotenz durch den "Orgonkasten", der die "Bionen oder Teilchen dieser Orgon-Energie einzufangen vermochte" (vgl. Skidelsky 1969, 147).

Neill kritisiert in seiner Autobiographie dagegen, daß Reich der sexuellen Frage eine zu große Bedeutung beimißt, dabei jedoch die Bedeutung für die Kindererziehung vernachlässigte. "Reich schrieb über das sexuelle Elend der Jugendlichen, aber ich meine, das war eine Übertreibung, zumindest was den Mittelstand betrifft." (Neill 1972, 273).

Nach Reich führt die Unfähigkeit, Lust zu empfinden und zu erleben, zu einer rigiden, autoritären Charakterstruktur. Dies sei eine Folge des Aufeinandertreffens von natürlichen Instinkten eines Kindes und der eine restriktive Erziehung begleitenden Frustrationen. Reichs Absicht war es, diese rigiden Charakterstrukturen durch einen sich selbst regulierenden Charakter zu ersetzen. Sein Ziel war die Abschaffung von Gewalt und Feindseligkeit im Charakter der Menschen.

Die Prinzipien der Selbstregulierung wurden erstmals von Reichs engem Mitarbeiter Tage Philipson explizit formuliert. Danach soll bereits ein Säugling als ein Individuum mit eigenen und gleichen Rechten angesehen werden, dessen organisatorische Rhythmen respektiert werden müßten. Es müsse eine Säuglingspflege und Kindererziehung stattfinden, die die größtmögliche Rücksichtnahme auf die natürlichen Rhythmen des kindlichen Lebens in bezug auf Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schlaf, Spiel, Sauberkeit und Bewegung ermöglicht. Ein Kind, dessen Grundbedürfnisse befriedigt würden, lernte mit unausweichlichen Frustrationen besser umzugehen, als ein Kind, das seinen Rhythmus verloren und seine natürlichen Gefühle zu unterdrücken gelernt hatte (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 60).

Die Theorie der Selbstregulation entwickelte Reich als Alternative zur erzieherischen Zwangsmoral. Ferner sah er eine Verhinderung von neurotischen Fehlentwicklungen in der Prophylaxe, d.h. in einer freiheitlichen und sexualbejahenden Erziehung der Kinder. Für Reich lag die zentrale Erziehungsaufgabe des 20. Jahrhunderts in der sexuellen Befreiung, d.h. einer Abschaffung der patriarchalischen Familie und einer freien Sexualerziehung und -aufklärung. Die Begegnung mit Neill bestärkte Reichs Bemühungen um eine Neurosenprophylaxe, denn er glaubte seine Ideen in Neills "Private lessons" wiedererkannt zu haben. Neill aber verneinte einen Reichschen Einfluß auf die Pädagogik von Summerhill.

Nach Reich muß die Erziehung durch die Familie als unvollkommen beschrieben und als Ursache für die Ausbildung starrer Chrakterstrukturen angesehen werden. Diese Ansicht vertrat in Aufsätzen auch Neill, dennoch sah Neill die Familie als günstige Institution für die Kleinkinder-Erziehung an. Reich hingegen forderte, die Familienstruktur nach Möglichkeit durch eine Kollektiverziehung zu ersetzen, weil ein Kind in den ersten vier Lebensjahren eine sichere Bezugsperson brauche, da dies für das Werden der Persönlichkeit von besonderer Bedeutung sei. Er geht von dem Menschen als einen prinzipiell gutmütige Wesen aus, den die Gesellschaft in soziale Schranken weist. In der Befreiung der Gesellschaft von der Zwangsehe und der patriarchalischen Familie, die durch repressive Mechanismen teils wirtschaftlicher und teils sexueller Natur geprägt sind, sieht Reich eine sinnvolle Prophylaxe. Die von Reich angestrebte Gesellschaft sollte frei organisiert und weder durch politische Parteien noch Politiker gelenkt werden, sondern die Formierung sozialer Organisation sollte direkt in die nötigen Arbeitsaktivitäten einfließen, was Reich als die sich selbst regulierende "Arbeitsdemokratie" bezeichnete.

Die in Summerhill verwirklichte Form der Selbstverwaltung weist Ähnlichkeiten zu der von Reich angestrebten freien Organisation der selbstregulierenden Arbeitsdemokratie auf. Die Kinder in Summerhill haben das Recht und die Aufgabe, die meisten wichtigen das Leben in der Schule betreffenden Entscheidungen selbst zu treffen, ohne sich autoritärer Kontrolle unterwerfen zu müssen.

Die Arbeiten Reichs beeinflußten Neill in der Weise, daß er sich nicht mehr gezwungen fühlte, mit Problemkindern arbeiten zu müssen. Bislang hatte sich Neill ausschließlich auf die Heilung beschränkt, nun verlagerte sich sein Interesse mehr auf die Prophylaxe. Er erkannte, daß es sinnlos war, sich mit Kindern zu beschäftigen, die bereits irreparabel durch das Fehlverhalten der Eltern beschädigt worden waren. Er sah seine Aufgabe nun darin, die Kinder vor einer Fehlbehandlung zu schützen.

Die Biographie Neills legt die Vermutung nahe, daß seine Sozialisation und sein weiterer Lebensweg in erster Linie die Genese seines Erziehungskonzepts initiierte. Insofern ließe sich sagen, daß das Sein Neills von elementarer Bedeutung für seine Bewußtseinsbildung gewesen war. Die Quintessenz der Neillschen Bewußtseinsbildung ist sicherlich die Pädagogik Neills, die im nächsten Kapitel ausführlicher betrachtet wird.



Wiss. Hausarbeit, 1. Staatsex. 1996, B. Ahrens, PH Heidelberg
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Forwärts: Die Pädagogik A.S. Neills