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Summerhill und die Situation 100 Jahre später


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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (2.8 1945-1946: Familiengründung)
Fortsetzung (4. Neills Psychologie und Politik der Bed/uuml;rfnisbefriedigung und Freiheit des Kindes)


3. Hauptmerkmale Summerhills

Die Summerhill-Erziehung führt anscheinend auch zu einem deutlich anderen Jugend-Verlauf: APPLETON (1995, 35) bemerkt (nach siebenjähriger Erfahrung als Summerhill-Hausvater), dass die normale Gesellschaft mit Kindern einigermaßen gut zurecht kommt, aber große Probleme mit Jugendlichen hat. In Summerhill dagegen sind die kleineren Kinder schwierig und die Jugendlichen unproblematisch: In den ersten paar Trimestern in Summerhill legen Kinder ihre anerzogenen guten Manieren ab, tyrannisieren, stehlen, sind eine Plage für ihre Umgebung. Ihre Vergehen werden vor die Versammlung gebracht und (per Mehrheitsbeschluss) gerügt oder milde bestraft (oft Entzug des Nachtischs an einem oder zwei Tagen), jedoch nicht moralisch verurteilt und (abgesehen von den erwähnten milden Strafen) geduldig ertragen - im Wissen darum, dass jeder in Summerhill so begann und nach wenigen Jahren schließlich von selbst damit aufhörte.

Im Jugendalter zeigen sie durchweg ein großes freiwilliges Engagement für die Gemeinschaft. Ältere Jugendliche besetzen die meisten der arbeitsintensiven Ämter (Ombudsperson, Versammlungsvorsitz, Schriftführer, beddies officer, in den Komitees für die Tanzabende, das Schulcafe und die Trimesterend-Party etc.), während sie gleichzeitig intensiv für die staatlichen Schul-Abschluss-Prufüngen lernen. Die Jugendlichen (und nicht die Erwachsenen!) werden von den Kleinen als Vorbilder bewundert und sind die eigentlichen Träger der Selbstregierung, sie (und nicht die Erwachsenen) vertreten die Position der Vernunft, denn sie haben mittlerweile jahrelang Erfahrung gesammelt und kennen die Wirkungen von Gesetzlosigkeit und allzu später Schlafenszeit.

Nach dem Verlassen Summerhills haben Jugendliche oft Probleme mit der so völlig andersartigen normalen Umwelt. Die normalen Altersgenossen werden häufig als sehr unreif empfunden: Sie arbeiten und lernen nur unter Zwang, bekämpfen alle Autoritäten, mischen Liebe und Beherrschen durcheinander und zeigen oft ein widersprüchliches, lüsternmoralistisches Verhältnis zur Sexualität, bedrängen etwa ein Mädchen und verachten es dann, wenn es dem sexuellen Drängen schließlich nachgibt.

3.1 Selbstregierung

Obwohl die Selbstregierung eines der hervorstechendsten Merkmale Summerhills ist, wird sie kaum detailliert beschrieben, im Gegensatz zu manchen anderen Kinderrepubliken, von denen vorwiegend Formfragen berichtet werden. Dies liegt auch an der ungeheuren Einfachheit Summerhills sowie an der ständigen Veränderung der Einzelheiten.

Etwa seit Anfang der 30er Jahre - bis heute - besteht die Schulvollversammlung aller Kinder und Erwachsenen am Samstagabend. Zuvor wurden Versammlungen der wenigen Bewohner unregelmäßig bei Bedarf abgehalten. Sie diskutiert alle Angelegenheiten des Gemeinschaftslebens und beschließt mit Stimmenmehrheit die Gesetze, auch Strafgesetze. Alle Mitglieder der Schule, vom sechsjährigen Kind bis zum Direktor, haben dabei die gleichen Stimm- und Rederechte und unterliegen in gleicher Weise den Gesetzen und Strafandrohungen.

Konfrontationen zwischen Kindern einerseits und Erwachsenen andererseits sind in den Versammlungen sehr selten, eher debattieren die auf alle Seiten verteilten Erwachsenen hitzig gegeneinander. An der Diskussion und Formulierung der durchweg sehr vernünftigen Regeln haben ältere Jugendliche und Erwachsene einen bedeutenden Anteil, die Jüngeren lernen aus ihren Argumentationen, abgestimmt wird schließlich mit Mehrheit. Die erlassenen Regeln sind weitaus detaillierter als jede Schulordnung und sie müssen es sein, denn hier haben Erwachsene keine Befugnis, von sich aus Recht zu setzen, d.h. je nach Situation Regeln und Anordnungen zu erlassen.

Da die Zahl der Gesetze leicht weit über hundert liegen kann und die Gesetze sehr schnell wechseln, werden sie in der Literatur nie genau aufgelistet, sondern bestenfalls sehr grob umrissen. Ein Großteil der Informationen stammt aus den 30er Jahren (nämlich aus Theorie und Praxis), scheint aber kaum veraltet zu sein (vgl. neuerdings auch ZELLINGER 1996 und APPLETON 1995). Eine der umfangreichsten Auflistungen von Gesetzen in Summerhill stammt aus dem letzten Quartal 1966:

  1. "Wer von den Bäumen große Äste absägen will, braucht dazu Neills Erlaubnis.
  2. Spielen mit Wasser ist im Haus verboten. (Wohlgemerkt: das Verbot gilt nur im Haus. Im Freien darf man spritzen und plantschen, soviel man will. Wasserplantschen gehört zu den Grundrechten des Kindes.)
  3. Es ist verboten, in der Bibliothek zu rauchen, zu spielen, zu essen oder zu trinken.
  4. Niemand unter 16 Jahren darf Zigaretten rauchen. (Über Pfeifenrauchen, Schnupf- oder Kautabak sagt das Gesetz nichts; offensichtlich hält man dies nicht für wahrscheinlich.)
  5. Alkoholgenuss ist verboten.
  6. Wer das Schulgelände für längere Zeit verlässt, soll einem Erwachsenen sagen, wo er hingeht.
  7. Per Anhalter mit Kraftfahrzeugen mitzufahren ist nicht gestattet.
  8. Kein Kind darf allein schwimmen. Bei jedem Bad muss ein Rettungsschwimmer dabeisein.
  9. Keinerlei Spiel mit Feuer (einschließlich Feuerwerkskörpern) in irgendeinem Gebäude.
  10. Niemand unter 12 Jahren darf Streichhölzer oder ein Feuerzeug besitzen.
  11. Nur wer 14 oder älter ist, darf das Feuer im Kamin und/oder die Kerzen anzünden.
  12. Das Werfen mit Steinen ist verboten.
  13. Stöcke mit Nägeln sind verboten.
  14. Feststehende Messer müssen einem Erwachsenen vorgelegt werden.
  15. Niemand unter 14 Jahren darf ein Messer besitzen. Alle Messer müssen vorgelegt werden." (SEGEFJORD 1971, 27)

Der Kleidungsverkauf ist verboten, weil die Kleidung gegebenenfalls von den Eltern wiederbeschafft werden müsste. Besuchern ist es verboten, den Kindern Geld oder Branntwein zu schenken. Niemand darf von einem Kleineren Geld leihen. Im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter haben Kinder nichts zu suchen, außer zur Musik am Samstagabend. Gesetze verbieten Diebstahl und Tyrannisieren, die unerlaubte Benutzung eines fremden Fahrrades und Essen auf den Fußboden zu werfen. Um Summerhill einen Rest von Reputation zu erhalten, erließ die Versammlung strenge Regeln über das Verhalten in der Stadt und achtete streng auf ihre Einhaltung: nicht fluchen, ordentliche Kleidung, bei der Nationalhymne im Kino aufstehen.

Zum Schutz vor den Jugendlichen der Stadt haben die Kinder hochdifferenzierte Regeln entwickelt, wieviele Kinder welchen Alters und Geschlechts (reine Jungengruppen werden eher angegriffen!) mit oder ohne Fahrrad zusammen die Stadt besuchen dürfen (vgl. APPLETON 1995, 60f.).

Die Vollversammlung wählt ebenso Komitees für Sport, für Theater und für das Trimesterabschlußfest sowie Beamte (officers) zur Kontrolle der am häufigsten vorkommenden Vergehen. Ihre Aufgabe sind die Aufsicht über ordentliches Benehmen in der Stadt, die Kontrolle der Schlafenszeit und des Verbots, auf Dächer und verbotene Bäume zu klettern. Die Beamten fordern bei Regelübertretungen die gesetzlich definierten Bußen ein, etwa Geldbußen, Speisesaalhelfer-Dienste oder Kinoverbote. Die Liste der bei standardisierten Massenvergehen ertappten Übeltäter wird in der Versammlung nur noch kurz verlesen, die Versammlung ist Berufungsinstanz und verhandelt außerdem die darüber hinausgehenden Fälle. Zeitweise versuchte man verschiedene unterschiedliche Systeme von Gerichten (Jury; Tribunal) und gewählten Regierungen, wobei der Anstoß zur Änderung des jeweiligen Systems meist von den Kindern selbst kam. So gab es Mitte der 30er Jahre eine jeweils zu Trimesterbeginn gewählte Regierung aus fünf älteren Schülern, die über gutes Betragen außerhalb der Schulgrenzen wachten und urteilten (Verwaltung, Justizkabinett oder die Großen Fünf genannt). Der wöchentlich wechselnde Versammlungsleiter wurde 1936 gewählt, 1960 vom Vorgänger ernannt und außerdem ein Schriftführer bestellt. Unklar ist, ob die jetzt übliche Teilung in ein gesetzgebendes Meeting am Samstagabend und ein rechtsprechendes Tribunal am Freitagabend durchgängig seit den 30er Jahren bestand.

Der jeweilige Stand der Gesetze und das Funktionieren der Selbstregierung sind abhängig von den Fähigkeiten und Schwierigkeiten der jeweiligen Bewohner und müssen schon darum schnell wechseln: Gibt es viele gestörte, junge und neue Kinder und nur wenige länger anwesende, an Freiheit gewöhnte, psychisch gesunde ältere Jugendliche, die die Selbstregierung wesentlich tragen, so wird das Leben in Summerhill schwierig, etwa wenn mehrere langjährige Schüler gleichzeitig abgehen.

SEGEFJORD (1971, 146; vgl. NEILL 1969, 146-148) zeigt das am Beispiel des Türenverschließens: Immer wieder gibt es lange Zeiten, in denen absolut keinerlei Notwendigkeit besteht, Arbeitsräume zu verschließen. Nachdem kleinere Kinder im Theater einiges zerstört hatten, wurde mit Schülermehrheit in der Versammlung beschlossen, es abzuschließen, ebenso den Zeichensaal und das Labor. Diese Notwendigkeit wurde eingesehen, nachdem eine Zerstörung geschehen war (Erfahrungslernen), wäre aber vermutlich bekämpft worden, wenn es von Erwachsenen aus nicht einsehbaren Gründen (es ist ja noch nie etwas passiert) vorgeschrieben worden wäre. Wenn absehbar ist, dass ein Verbot nicht mehr benötigt wird, kann es wieder entfallen.

Eine Beschreibung der praktischen Funktionsweise der Summerhill-Selbstregierung eineinhalb Jahrzehnte nach Neills Tod ist ungewöhnlich konkret. Abgesehen von den inzwischen eingeführten Ombudsmen (Anwälte und Schiedsrichter bei kleineren Streitigkeiten) hat sich kaum etwas geändert:

    "Hier werden die sozialen Aktivitäten durch eine Vielzahl von Komitees koordiniert, die gewöhnlich jeweils fünf Mitglieder umfassen. Diese werden durch 'das Herumgehenlassen des Buches' gewählt: zum einen, um die Kandidaten aufzustellen und zum anderen, um für jedes Mitglied der Gemeinschaft seine Stimme abgeben zu können. Die Selbstverwaltung zeigt sich in Summerhill in vier Einrichtungen: den 'Komitees', den 'Ombudsmännern', dem 'Tribunal' und dem 'Meeting'." ...

    "Dem Meeting obliegt die Rechtsprechung über alle Bereiche des Schullebens mit Ausnahme der von Gesundheit, Sicherheit und Verwaltung, für die allein die Direktorin zuständig ist. Verhängt das Meeting eine Strafe, so kann jeder von jedem bestraft werden, ohne dass eine bestimmte Gruppe das Monopol zur Aufrechterhaltung der Ordnung beanspruchen kann. Alle Strafen müssen jedoch von der ganzen Gemeinschaft im Tribunal bestätigt werden mit Ausnahme (aus praktischen Gründen) derer wegen Verstößen gegen die Schlafenszeiten. Da es oft zur Schlafenszeit zu laut ist, sorgen freiwillige 'Schlaf-Offiziere' dafür, dass die anderen Kinder ruhig zu Bett gehen. Diese sind berechtigt, Verstöße gegen die Schlafenszeiten zu bestrafen, ohne auf das wöchentliche Tribunal warten zu müssen; jeder kann aber im Meeting gegen jede Strafe Berufung einlegen. Im Meeting können auch alle Schul'offiziellen' - Vorsitzende, Ombudsmänner, Schlafoffiziere und Komiteemitglieder - aus ihren Ämtern entlassen werden. Alle diese Posten sind weder mit einer Vergütung noch mit Privilegien oder Autorität verbunden. Diese Regelung des gemeinschaftlichen Lebens gewährleistet, dass die Erwachsenen niemals eine disziplinierende Rolle spielen müssen: Die ganze Gemeinschaft hält die Ordnung aufrecht." (STEPHENS 1988, 30)

NEWELL (1981) beschreibt eine Tribunal-Sitzung:

    "Sie wurden sehr pünktlich vom zehnjährigen Vorsitzenden Mark Collins zur Ordnunggerufen. Er fragte, wer auf die Tagesordnung wolle, und hatte die nach Erwachsenenmaßstäben sehr effiziente einstündige Versammlung gut im Griff. Die Disziplin war bemerkenswert, die Redner suchten den Blick des Vorsitzenden, bevor sie sprachen, und längeres Aneinandervorbeireden, welches sich zwei Sechsjährige sowie Ena und ein Sechzehnjähriger leisteten, wurde geschickt beendet. Es wurden sehr viele Angelegenheiten erledigt." (NEWELL 1981, 20, Übersetzung von mir)


3.2 Summerhill als Schule und Neills Abneigung gegen Unterricht

Ein verbreiteter linker Kritikpunkt an Summerhill war, dass es als Privatschule Schulgeld erhebt und damit nur Kindern begüterter Eltern offensteht. Die Betrachtung Summerhills als Schule, ein Vergleich mit den staatlich finanzierten öffentlichen Schulen trifft nicht den Kern und führt leicht zu einer falschen Bewertung, denn Summerhill wurde nicht wegen seines Unterrichts gegründet und besucht. Kognitives Lernen und Wissensvermittlung galten zu Lebzeiten Neills als bestenfalls (!) mittelmäßig. Der wesentliche Punkt an Summerhill ist die Art der (Heim-) Erziehung, des (Heim-) Lebens dort: das ungemein freie und tolerante Klima, die Freiwilligkeit des Schulsystems, die Art des Umgangs miteinander, die Selbstregierung. Für jedes (!) Heim (Schulheim, Waisenheim, Fürsorgeheim etc.) ist es vollkommen normal, hohe Gebühren zu erheben (sogenannte Pflegesätze). Teuer ist nicht so sehr der Unterricht als vielmehr Unterkunft, Verpflegung sowie ganztägige Betreuung: eben das Heim. Das soziale Klassenproblem besteht weniger in diesem Pflegesatz/ Schulgeld, sondern eher darin, dass diese Heimkosten nicht (wie die Unterrichtskosten oder die Heimkosten bei Fürsorgeerziehung) gesamtgesellschaftlich umgelegt werden, sondern individuell von den Eltern gezahlt werden müssen. Dafür aber kann man das einzelne Heim kaum verantwortlich machen.

Es wird häufiger berichtet, dass keineswegs wohlhabende Eltern das Schulgeld nur durch äußerste Anstrengung und Verzicht aufbringen konnten. Gelegentlich wurde das Schulgeld für ärmere Kinder aus öffentlichen Kassen (local council) gezahlt (in den 50er Jahren: LUCAS 1993, 8) oder Kinder, an denen zuvor schon die jahrelangen Bemühungen der Erziehungsbehörden gescheitert waren, von den Behörden nach Summerhill geschickt (Ende der 80er Jahre, vgl. APPLETON 1995, 97), obwohl Summerhill sich längst nicht mehr therapeutisch versteht. Das widerspricht dem verbreiteten Bild einer Schule für wohlhabende bürgerliche Mittelschichtkinder.

Die Bezeichnung school für Heime ist in England übrigens völlig normal: Was in Deutschland als Heim mit Heimschule gilt, ist in England eine Schule mit Schulheim, etwa eine Sonderschule für Schwererziehbare oder Delinquente.

Neill legte schon seit dem Ersten Weltkrieg auf Schulunterricht wenig Wert: wenn die Emotionen frei sind, würde der Intellekt schon selbst für sich sorgen.

Der Unterrichtsbesuch in Summerhill war und ist freiwillig.[13] Das Meiden der Schule in den ersten Wochen in Summerhill war weit verbreitet, die Dauer variierte je nach "Stärke des Hasses, den ihnen die vorherige Schule eingegeben hat" (NEILL 1969, 23) und lag durchschnittlich bei drei Monaten. Danach besuchte die Mehrheit eine ganze Reihe von Unterrichtsstunden, wenn auch meist weniger als in Pflichtschulen üblich. Eine Minderheit besuchte nur wenige Unterrichtsstunden, und einige wenige Kinder besuchten monatelang keinen Unterricht, nur verschwindend wenige Kinder in der Geschichte Summerhills (eher krankhafte Ausnahmen) besuchten jahrelang keinen Unterricht. Unterrichtsbesuch darf allerdings nicht mit Lernen verwechselt werden, auch Kinder, die jahrelang keinen Unterricht besuchten, haben später die Universität absolviert (siehe die Beispiele in Kapitel 3.7).

Der Unterricht war zu Neills Lebzeiten im allgemeinen deutlich unterdurchschnittlich.

Dem steht allerdings die Beschreibung einiger hervorragender Lehrer gegenüber. Auch Neill wird teils als miserabler, teils als hervorragender Lehrer beschrieben. Der Stundenplan wies zwar Fächer aus, faktisch aber besuchten Kinder den Lehrer in seiner kombinierten Wohn-, Schlaf- und Klassenzimmer-Behelfshütte und machten oft, was sie gerade interessierte: lasen Literatur im Kunstunterricht oder befassten sich mit Hauswirtschaft und Pfannkuchenbacken im Erdkundeunterricht.

Wichtigstes Einstellungskriterium für Lehrer war die Übereinstimmung mit der Lebensweise in Summerhill: dass der Lehrer Kinder mochte, mit ihnen zurechtkam, die Gleichheit aller Schulmitglieder und die Selbstregierung der Schule durch die Vollversammlung akzeptierte, keinen besonderen Respekt als Erwachsener oder als Lehrer forderte. Außerdem musste er bereit sein, für Unterkunft, Verpflegung und ein Taschengeld zu arbeiten. Eine Lehrer-Ausbildung war dabei völlig unwichtig. Häufig wuchsen Freunde, Besucher, zahlende Gäste oder Ex-Schüler eher in die Lehrertätigkeit hinein. Die Lehrmethoden waren Neill unwichtig. Lehrer unterrichteten keineswegs die Fächer, die sie studiert hatten: Frau Neill (Mrs. Lins, ohne Lehrerausbildung) lehrte Geschichte, weshalb der ausgebildete Geschichtslehrer nicht Geschichte, sondern Englisch, Latein, Mathematik und Gärtnerei unterrichtete, was er alles nie studiert hatte.

Die bei Neill-Freunden, Summerhill-Lehrern und ehemaligen Summerhill-Schülern sehr weit verbreitete und immer wieder vorgebrachte häufigste Kritik an Neill war zweifellos Neills Geringschätzung von Wissen und intellektuellem Lernen. Die Förderung oder Nicht-Förderung der Schulbildung war auch der Haupt-Unterschied zwischen Summerhill und der ebenfalls selbstregierten Beacon Hill School, die von Bertrand und Dora Russell geleitet wurde. Die Verbesserung des Unterrichts ist die einzig wesentliche Änderung in Summerhill nach Neills Tod.

Viele Eltern machten sich Sorgen über die Schulbildung. Homer Lanes Witwe Mabel sorgte sich 1927, dass ihre (mindestens zwölfjährige) Adoptivtochter Olive Lane in Summerhill zwar glücklich sei, aber noch immer nicht richtig schreiben könne und irgendwann den Lebensunterhalt verdienen müsse. Ähnlich erging es Summerhill-Lehrern und Hausmüttern mit ihren Kindern, manche Eltern schickten ihr Kind schließlich auf andere Schulen.

Neills persönliche Einstellung zum Lernen ging weit über die Freiheit hinaus, zu lernen oder nicht zu lernen. Er hatte als Schüler, Student und Lehrer das Schullernen als Paukzwang erlebt, eine heftige Abneigung gegen Unterricht und alles Buch-Lernen erworben. Er hielt Bücher (im Gegensatz zu Werkzeugen und Theaterutensilien) für die unwichtigsten Dinge in einer Schule, obwohl er selbst begeistert große Mengen psychologischer, politischer und biographischer Werke sowie schöne Literatur las und auch die Mathematik liebte. Dass Kinder die Dichterwerke verschmähten und Abenteuer- und Kriminalgeschichten bevorzugten, wertete er als Zeichen ihrer Freiheit. Seine Ehefrau Mrs. Lins, die in Summerhill eine ebenso große Rolle wie Neill spielte, schätzte dagegen Bücher sehr hoch und Werkzeug gering (ein Ausgleich, der von Kritikern meist übersehen wurde).

Etliche Lehrer meinten, dass Neill die Kinder zumindest nicht ständig ermutigen sollte, dem Unterricht fernzubleiben, und verlangten erfolgreich, dass Kinder, die sich zu einem Kurs entschlossen hatten, diesen regelmäßig besuchen und bei Nichtteilnahme zumindest Bescheid sagen sollten.

Neill dagegen kritisierte, die aktiven Lehrer seien zu dynamisch, nähmen den Kindern die Initiative, machten sie zu abhängigen Jüngern, beeinflussten die Kinder zuviel. Die Kinderaktivitäten seien nicht eigene Aktivitäten der Kinder, sondern angeregt und abhängig vom Lehrer, seien Aktivitäten um ihres Lehrers willen, der die Kinder forme statt sie aus eigenem Antrieb nur für sich selbst arbeiten zu lassen.

Neill würdigte die Unterrichts-Produkte, die begeisterte Kinder ihm stolz zeigten, keines Blickes. Bei einem lernenden oder lesenden Kind argwöhnte er häufig einen Zwang (oft wohl begründet: APPLETON (1995) beschreibt einige Fälle aus den liberalen 1990er Jahren, in denen Summerhill-Kinder von ihren Eltern mit Drohungen zum Lernen gezwungen wurden). Es kam vor, dass Neill das Buch konfiszierte und das Kind aufforderte, etwas zu tun. Es entstand die groteske Situation, dass Lehrer und Schüler gemeinsam Neill dazu zwangen, für bessere Unterrichtsbedingungen zu sorgen:

Eine Gruppe lernbegabter Kinder, die ihre ganze Schulzeit in Summerhill verbracht hatte, forderte während der Kriegs-Evakuierung in Wales entschieden Hausaufgaben und mehr und besseren Unterricht, um ihre Prüfungen zu bestehen, und setzte dies in der Versammlung gegen Neill durch. Zur Vorbereitung verlangten sie testhalber ein Probe- Examen unter strengen Bedingungen, was Neill völlig entsetzte. In dramatischen Konfrontationen erzwangen die Schüler gegen Neills erbitterten Widerstand mehr Unterricht und die Beschaffung von Lehrbüchern. Als einer der besseren Lehrer die Schule verließ, zwangen sie Neill zur prompten Einstellung eines Ersatzes. Diese neue Lehrerin Stella Hagan berichtete, dass die Kinder sie bereits frühmorgens weckten, um ihr Fragen zu stellen, unter der Dusche und beim Frühstück weiterfragten und Wochenendausflüge und Kinobesuche in historische, botanische, politische etc. Exkursionen verwandelten. Neill kritisierte, die Lehrerin zwinge die Kinder zum Lernen, doch die Versammlung bestätigte ihre Sichtweise: dass die Kinder sie zum Lehren zwangen. Schließlich verließ die Lehrerin Summerhill.

Kinder waren von Shakespeares Macbeth so begeistert, dass sie darauf bestanden, unbedingt dieses (und kein selbstgeschriebenes) Stück beim Trimester-Abschluss aufzuführen. Neill sperrte sich lange und verlegte die Aufführung dieses allzu üblichen Schulstükkes schließlich als zu beschämend auf den Tag vor dem offiziellen Trimesterabschluß, woraufhin die Kinder ihre Eltern heimlich ebenfalls einen Tag früher einluden.

Die Förderung des Unterrichts scheint der einzige Punkt zu sein, an dem die heutige Schulleiterin (Neills Tochter Zo‘) sehr deutlich von Neills Haltung abweicht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Haltung von David Wills, ebenfalls ein Lane-Schüler, Kinderrepublikgründer und Freund Neills. Er setzte sich an diesem einzigen Punkt deutlich von Neill ab und bestand darauf, dass die Kinder seines Heims in Barns zum Unterricht gehen müssen, weil sie nur dann im Leben zurechtkommen würden, jede andere Behauptung sei Selbstbetrug. Trotzdem lehnte er jeden Zwang ab: Die klare, begründete Forderung an die Kinder verbunden mit der Tatsache, dass alle anderen Kinder ebenfalls den Unterricht besuchen, muss ausreichen. Wo Kinder sich dennoch weigern, sei dies ein Hinweis auf eine gestörte Beziehung zum Erzieher, die durch Zwang nur verschlimmert werden könne.

Dass einige Schüler (aus einer Gesamtzahl von nur einigen hundert) mehr oder weniger als Analphabeten die Schule verließen, klingt erschreckend, und auch Neills Beteuerung, sie kämen im Leben zurecht, beruhigt zunächst nur wenig. Die konkrete ausführliche Lebensbeschreibung des Ex-Schülers Freer Spreckley (LUCAS 1993) ergibt dagegen ein völlig anderes, sehr positives Bild, das zumindest mit meinen Vorstellungen (oder Vorurteilen) von Analphabeten nicht zusammenpasst. Als wichtigste in Summerhill erworbene Fähigkeit nennt er lernen, wie man lernt und bescheinigt sich - ebenso wie viele Summerhillians - eine in Summerhill erworbene deutlich überdurchschnittliche Lernfähigkeit. In den vor Summerhill vier oder fünf Jahre lang besuchten fünf staatlichen Schulen hatte er ebenfalls nicht lesen und schreiben gelernt, jedoch eine Abneigung gegen Unterricht erworben, und als Jugendlicher empfand er keinerlei Notwendigkeit zum Lesen und Schreiben. Als er einige Jahre nach dem Verlassen Summerhills unter seinem Analphabetismus zu leiden begann, erlernte er (als Bauarbeiter in Australien) beides selbständig innerhalb weniger Monate. Er arbeitete jahrzehntelang in verschiedenen Community- und Genossenschaftsprojekten und ist mittlerweile Berater eines Forschungsunternehmens.

Die Freiwilligkeit des Unterrichtsbesuches in Summerhill ist keine Verabsolutierung der kindlichen Entscheidungsfreiheit, sondern Folge einer geringeren Bewertung kognitiven Lernens und muss in diesem Zusammenhang gesehen und diskutiert werden!

Sowohl Neill wie Zoë Readhead und Matthew Appleton betonen nachdrücklich, dass Erwachsene die letztendliche Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder haben und - aus besserer Einsicht - die Notwendigkeiten (z. B. in Gesundheitsfragen) auch gegen den Willen des Kindes durchsetzen müssen.

Sie gehen davon aus, dass individuelles Glück der einzige Lebenszweck des Menschen ist. Kognitives Lernen, Schulwissen und Prüfungen haben dem zu dienen. Schulwissen ist nur von untergeordneter Bedeutung und lässt sich bei Bedarf jederzeit nachholen, eine Angst- und zwangfreie Kindheit, die (emotionale) Grundlage eines glücklichen Lebens, lässt sich dagegen nicht mehr nachholen. Durch intensives, langjähriges Ausleben des Spielbedürfnisses wird dieses Spielbedürfnis überwunden und gibt Raum für ein wirklich konzentriertes, eigenmotiviertes Lernen. Da Summerhill nicht zum Lernen zwingt, also nur aus eigenem inneren Antrieb gelernt wird, ist die Lernmotivation und Lernfähigkeit bedeutend größer als normalerweise. Ein solches Lernen benötigt daher nur einen Bruchteil der Zeit, den die Regelschule benötigt. Tatsächlich eignen sich Summerhillschüler einen großen Teil des Schulwissens in intensiver Arbeit in den letzten beiden Schuljahren an.

Lernzwang dagegen zerstört die Grundlage des Lernens, nämlich die innere Lernmotivation und das Interesse am Gelernten, und ist deshalb extrem kontraproduktiv. Er führt außerdem zur Rebellion gegen den Zwang und bewirkt unmittelbar die Lernabneigung und die Disziplinprobleme in der Pflichtschule. Die äußere Verführung (Motivierung) zum Lernen (Lernspiele, Belohnungen) ist lediglich eine versteckte, listigere Form der Angriffs auf die innere Lernmotivation, mit grundsätzlich ähnlichen Folgen.

Die Freiheit des Unterrichtsbesuchs ist also keine willkürliche Festlegung oder Übertreibung, sondern folgt zwingend aus den Grundannahmen Summerhills und ist deshalb nicht verhandelbar. Summerhill betont immer wieder, es werde eher schließen als eine Lernpflicht einführen.

Abgesehen von Banalitäten (kleine Klassen, andere Lehrer-Schüler Beziehung) lassen sich aus Summerhill kaum realistische Hinweise zur Reform der Normalschule ableiten, sondern allenfalls ein Muster zur völligen Von-Grund-auf-neu-Konstruktion von Schule. Summerhill ist letztlich keine Schule, sondern eine Lebensform, die der Lebensform der Außenwelt direkt entgegengesetzt ist.


3.3 Therapie, 'PL' und ihre Wandlungen

Neills Haupttätigkeit war nicht Unterrichten, sondern (neben diversen Handwerks-, Garten-, Autoren- Vortrags- und Verwaltungstätigkeiten) zunächst Therapie, zumindest bis er sie in den Dreißiger Jahren stark reduzierte. Er gab den therapeutischen Privatunterricht (PL = Private Lessons) nie ganz auf, veränderte ihn aber deutlich, was aber nicht im Einzelnen dokumentiert ist. Er nahm wohl im Lauf der Zeit die Form entspannter Gespräche an, die er bei seiner Tochter noch heute hat. Neill betonte aber stets die heilende Wirkung der freien Atmosphäre gegenüber der Wirkung des therapeutischen Privatunterrichtes. 1934 richtete Neill einen Spielanalyse-Raum ein, der auch eine von der Handarbeitslehrerin eigens gefertigte, mit Geschlechtsorganen versehene Puppen-Familie enthielt: er gab dem Kind eine geeignete Puppe und wartete ab.

Anfänglich benutzte Neill freudianische Deutungen, über die er sich in späteren Jahren drastisch lustig machte. Zeitweise praktizierte er Reich'sche Massagetechniken, allerdings unter großen Schwierigkeiten: er durfte seine Schüler nicht nackt massieren und verstand auch zu wenig von Anatomie. Anscheinend spielte das absolute Akzeptieren der Wünsche und Gefühle in diesen Therapiesitzungen eine große Rolle: z.B. diskutierte Neill die Geschwistermordpläne eines Mädchens (Wunschphantasien, keine realen Vorbereitungen!). Gelegentlich wurde dieses Akzeptieren praktisch in Handlung umgesetzt: in Neills Beteiligung an Vergehen wie dem Einwerfen von Scheiben in der Schule.

Ein erheblicher Teil der Summerhill-Schüler war stark gestört, war gewalttätig, inkontinent, hysterisch, tyrannisch. Delinquente Störungen der Kinder belasteten auch das Verhältnis der Umgebung zur Schule. Manche Kinder stahlen in den Läden der Stadt. Ein Mädchen prägte Münzen in der Metallwerkstatt der Schule und kaufte damit in der Stadt Schokolade und Zigaretten, ein soeben aufgenommener Junge stahl das Altartuch der Kirche und benutzt es in seinem Zimmer als Teppich. Neill bemühte sich stets, den Schaden außergerichtlich zu begleichen: das Mädchen wurde vom Schulgericht bestraft und musste den Schaden bezahlen, der Junge das Altartuch zurückerstatten und schleunigst in sein Heimatland zurückkehren.

Die Schulversammlung überließ Neill meist gern die offenbar psychologisch bedingten Fälle, weil sie den Kindern oft unheimlich waren. Manchmal zog Neill solche Fälle auch gegen den Willen der empörten Versammlung an sich, die Neill Favoritismus vorwarf, weil er den Übeltäter seiner verdienten Strafe entzog. Die Privatstunden standen so in einem gewissem Gegensatz zur Selbstregierung. Die in der PLerhaltene Informationen musste Neill strikt geheimhalten und auch bei Verhandlungen über Vergehen ruhig die Selbstverteidigungs-Lügengeschichte des Täters mit anhören und verbergen, dass er den Täter kannte.

Infolge der veralteten und bewusst einseitigen Textauswahl für Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung entstand immer wieder der falsche Eindruck, Neill sei Freudianer. Selbst im Vorwort zu diesem Buch wird Neill von Erich Fromm fälschlich als Freudianer bezeichnet und vorwiegend deshalb kritisiert.

Anfänglich (ab Anfang 1919) übernahm Neill von Lane eine mehr oder weniger freudianische Sichtweise (in Lane'scher Abwandlung!) und sah sich auch selbst als Freudianer. Doch schon Lane war kein orthodoxer Freudianer gewesen, und bereits in London (1919-21) lehnte Neill wesentliche Elemente der Freud'schen Lehre ab, etwa den sexuellen Ursprung des Ödipuskomplexes und die Traum- und Symboldeutungen. Das hinderte ihn allerdings nicht an eigenen sehr plumpen, unglaubwürdigen, nicht überzeugenden sexuell-symbolischen Deutungen von Kinderproblemen und allzu simplen Berichten über Sofortheilungen (vgl. NEILL 1969, 148, 214 ff., 236, 338). In späterer Zeit machte er sich über derartige Deutungen drastisch lustig. Er verglich sie mit Wortspielen und Kreuzworträtseln und bezeichnete einige Freud'sche Thesen respektlos als völligen Blödsinn und hirnverbrannte Analyse. Ahnlich bespottete er auch ein Werk der Freudianerin Melanie Klein: voll von Kastration und Analcharakteristika und Mutters Penis und was nicht alles (vgl. NEILL 1982, 169, 251, 343; CROALL 1984, 316). Neill betonte stattdessen die Bedeutung von Umweltereignissen und tendierte ab 1920 (wie vermutlich auch Lane) stärker zu den Macht-Theorien Alfred Adlers, die nicht den Sexualtrieb, sondern die soziale Orientierung im Menschen betonten, und mischte sie, bis er Reich kennenlernte, mit Freud'schen, Stekel'schen und anderen Theorieelementen. NEILLs (1982, 207) Behauptung, er selbst sei durch Adler nicht beeinflusst, ist nicht überzeugend: seine Konzentration auf Probleme der Autorität und seine gelegentliche Argumentation mit Minderwertigkeitskomplexen passen eher zu Adler als zu Freud.

Die Begegnung mit Reich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre veränderte Neills Haltung zur Psychotherapie radikal. Neill lernte, dass individuelle Psychotherapie wenig bewirkt, solange eine unfreie Gesellschaft durch Unterdrückung ständig neue Störungen bei allen ihren Mitgliedern produzierte: Psychologie musste Prophylaxe sein, sich mit den gesellschaftlichen Umständen beschäftigen und eine gesunde gesellschaftliche Umgebung, individuelle Freiheit und freie gesellschaftlich- politische Verhältnisse fordern und schaffen helfen (vgl. NEILL 1982, 321 f.). Er verlor das Interesse an Psychoanalyse und individueller psychotherapeutischer Heilung. Sein Hauptinteresse lag nun bei der Prophylaxe, der Schaffung einer freien Umgebung, ähnlich wie schon bei Lane, der Freud durch die Prophylaxe noch übertreffen wollte.

Neills starkes politisches Engagement insbesondere in den 30er Jahren und die nachfolgende enttäuschte Abwendung von der Politik dürfte mit dieser Hoffnung auf Neurosen- Prophylaxe durch gesellschaftliche Befreiung zusammenhängen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Therapie über viele Jahre eine große Rolle für Neills Selbstverständnis und sein Denken spielte. Da das späte Summerhill praktisch ohne PL sich kaum vom frühen Summerhill mit PL unterscheidet, kann die Therapie kein wirklich wesentliches Element gewesen sein. Wesentlich und grundlegend ist allerdings die alles durchziehende, ursprünglich aus dem therapeutischen Bereich stammende alltägliche verstehende Haltung.


3.4 Kunst und Kreativität

In Neills Kreativitätsschule sollten die Kinder sich handwerklich und künstlerisch ausdrücken, sich mit Tonerde, Theater, Malerei Zeichnen, Photographie, Buchbinden, Holzarbeiten und Metall-Treibarbeiten befassen (alles Dinge, die auch Neill persönlich stark interessierten). Die Lehrausstattung Summerhills war zwar gering, doch die Schule besaß von Anfang an eine Werkstatt, einen Malraum und ein regelrechtes Theater. Neill war ein begeisterter und geschickter Handwerker und Zeichner und hatte in Leiston seine von der Schulwerkstatt getrennte eigene Werkstatt.

Neill war ein sehr guter Schauspieler und außergewöhnlich guter und eindrucksvoller Erzähler. In seinen bei den Kindern sehr begehrten spannenden Abenteuergeschichten traten die Kinder der Ausländerabteilung in Hellerau bzw. die Summerhill-Bewohner als Hauptpersonen auf, und die Kritik der Zuhörer bestimmte den Handlungsverlauf mit. Zwei seiner Geschichten wurden als (ziemlich ähnliche) Kinderbücher veröffentlicht: A Dominies Five (1924) und Die Grüne Wolke (englisch 1938). In beiden Büchern erleben die Kinder wilde, lustvoll-aggressive Abenteuer mit Löwen und Maschinengewehren. Mit den Geschichten ermutigte und förderte Neill demonstrativ das (sonst oft verpönte) lustvolle Ausagieren von Aggressionen in der Phantasie: In ihren Phantasien (dort und nur dort!) durften sie auch hemmungslos, lustvoll und ohne Schuld töten.

Seine Begeisterung für das Theaterspielen übertrug sich von selbst auf viele Kinder. Er schrieb Theaterstücke und brachte allein dadurch viele Kinder ebenfalls zum Stückeschreiben. Er legte verbindlich fest, dass nur in Summerhill geschriebene Stücke gespielt werden, aber Stücke von Erwachsenen nur dann, wenn es an von Kindern geschriebenen Theaterstücken mangelt. An den Sonntagabenden fand stets Neills Spontantheater (Neill's spontaneous acting) statt.

Dies Theaterspiel und die von Neill erzählten Abenteuergeschichten trugen auch therapeutische Züge und sollten Mut, Selbstvertrauen und Kreativität der Kinder verbessern. Scheuen Kindern gab er die Rollen mutiger Helden, auch um ihnen Wertschätzung und Zuneigung zu demonstrieren. Die angepassten erhielten Schurkenrollen, Neill selbst glänzte meist durch Feigheit und Faulheit.

Abbildung 19: Schülerin beim Anfertigen von Dekoration für eine Trimesterabschlussparty


3.5 Sexualität

Neill war praktisch von Anfang an ein Vorkämpfer freier Sexualität, wobei die Entwicklung bemerkenswert ist. Schon 1915 träumte er von einer Schule mit Sexualaufklärung. 1921 wollte er auch den kleinen Kindern die schlichte volle Wahrheit sagen, sofern sie danach fragten. 1926 fordert er offene Gespräche über Masturbation als einer ganz natürlichen und unschädlichen Sache, bei der erst das Verbot Schuldgefühle und damit Probleme erzeuge. 1936 befürwortete er auch die geschlechtliche Betätigung jugendlicher Paare, bemühte sich aber anscheinend zunächst, die in Summerhill herrschende sexuelle Freiheit nicht allzu bekannt werden zu lassen. Neill befürchtete, dass bei aktiver Unterstützung jugendlichen Sexuallebens seine Schule amtlich geschlossen würde.

Die jüngeren Jungen und Mädchen (unter elf Jahren) wohnten ganz selbstverständlich in gemeinsamen Zimmern (was die Schulinspektoren neuerdings kritisieren), die älteren getrennt. Doch schon in Lyme Regis schliefen Kinder gelegentlich besuchsweise zusammen, fast alle hatten ihre Affären und Ältere teilten oft das Bett miteinander, obwohl Geschlechtsverkehr eher die Ausnahme war und es meist beim Petting blieb. Auch die seltenen Affären zwischen älteren Schülern und Erwachsenen (Eltern, Lehrer) sowie Affären mit Dorfjugendlichen galten nicht als Problem. Einige Lehrer brachten das Thema während des Zweiten Weltkrieges mehrfach vor die Vollversammlung, doch Neill weigerte sich stets, einzuschreiten: er wollte es nicht verbieten. Während Neill hoffnungsvoll wegsah, tendierte seine Frau dazu, die Jungen aus den Mädchenbetten zu werfen.

Neills freien Ansichten standen im Gegensatz zu den Ansichten der Umgebung Summerhills. Eine seiner Hauptsorgen war, dass ein Mädchen durch das freie Sexleben schwanger werden könnte. Weil Sex unter 16 gesetzlich nicht erlaubt war und die meisten Eltern dagegen waren, konnte Neill den Jugendlichen keine Empfängnisverhütungsmittel geben und musste sich mit der Warnung vor den Folgen einer Schwangerschaft begnügen. Während der Kriegsevakuierung bat er einige Eltern, Pessare für ihre Töchter zu besorgen, was die Eltern aber fast immer ablehnten: Einige Eltern meldeten stattdessen ihre Töchter ab.

Neill betonte in der Öffentlichkeit, dass er von Schwangerschaften in seiner Schule nichts wisse. In einem Brief vom 14. Oktober 1950 an Reich meldete er allerdings die erste Schwangerschaft und kündigte zornig an, zu traditionellen Methoden zurückzukehren:

    "Ein Paar kam erst spät nach S'hill. Ich bejahte ihre Liebesbeziehung. In den Ferien sind sie zusammen, und sie wird schwanger ... und macht mich dafür verantwortlich. Der erste Fall dieser Art in 30 Jahren. Ich werde zur alten Methode zurückkehren und es einfach ablehnen, unzuverlässige Jugendliche zu unterstützen und damit, d. h. durch übles Gerede, Hass und Angst, mein Leben zu gefährden. Nein, man kann nur bei jenen Kindern 'auf deren Seite' sein, die Freiheit von Anfang an gehabt haben.Die anderen werden einen einfach ausnutzen. Und in meinem Alter ist es einfach zuviel für mich, noch Verantwortung für jene zu übernehmen, die sie nicht einmal für verteidigenswert halten." (in PLACZEK 1989, 432; Hervorhebung und "..." dort, vgl. auch ebd. 465, 558)

Vielleicht infolge der Schwangerschaft nahm er später anscheinend pragmatisch eine etwas striktere Haltung ein und erließ ein nicht näher erläutertes Verbot:

    "Ich befürworte schon seit vielen Jahren ein Sexualleben für Heranwachsende, für alle Paare, die weit genug dafür sind, aber ich musste in der Schule ein Verbot* erlassen, weil selbst Summerhill sich vom Establishment mit seiner viktorianischen Moralanschauung nicht ganz befreien kann. Ich konnte nichts anderes tun, als den Kindern offen meine Einstellung klarzumachen, und sie erkannten auch, dass ich keinen moralischen Standpunkt vertrat." ... "Das äußerste, was wir in Summerhill tun konnten, war, Selbstbefriedigung als natürlichen Vorgang darzustellen und so die Schuldgefühle bei ängstlichen Kindern zu mindern." (NEILL 1982, 272 f.) * Deutsch im Original.

    "Dazu ein Beispiel. Zwei Jugendliche im Alter von fünfzehn verliebten sich ineinander. Sie kamen zu mir und fragten, ob sie ein Schlafzimmer für sich haben könnten. Ich sagte: 'Ich würde euch gern eines geben, aber ich wage es nicht.' 'Warum nicht? Dies ist eine freie Schule.' 'Ja, aber wir sind nicht eine freie Gesellschaft. Nehmt einmal an, ich gäbe euch eines und das Erziehungsministerium hörte davon. Sie würden meine Schule schließen.' Ich sagte zu dem Mädchen: 'Du weißt, dass deine Mutter vor dem Sexuellen Angst hat. Angenommen, du würdest schwanger? Was für ein Aufsehen würde das machen. Außerdem', sagte ich, 'kannst du dir keine Verhütungsmittel leisten, und ich getraue mir nicht, dir welche zu geben.'" (NEILL 1971b, 23)

Die Art und Reichweite des Verbots bleiben unklar, es kann aber nicht besonders streng gewesen sein: Nach SEGEFJORD (1971, 100) gab es 1966 keinerlei Gesetz zu diesem Thema, sondern faktisch sexuelle Freiheit. Er berichtete die Reaktion, als ein neues 15jähriges Mädchen einen Jungen von außerhalb über Nacht mit auf ihr Zimmer genommen hatte, was 1966 in anderen Schulen zum Schulverweis hätte führen können: Sie erhielt wegen Überschreiten der Bettgehzeit eine strenge Verwarnung, es gab keine Debatte über Geschlechtsverkehr. Neill betonte ausdrücklich, dass es um nichts Moralisches ginge, sondern nur darum, dass Besucher so nicht mitgebracht werden dürfen:

    "Du musst nur wissen, dass alle hier in der Schule wissen wollen, wer hier Besucher ist und wer hierhergehört. Das ist eine verständliche Forderung, da ja alle hier wohnen wollen. Wir müssen wissen, wer hierherkommt - auch nach Einbruch der Dunkelheit." (Neill in SEGEFJORD 1971, 111 f., hier 112)

Praktisch dieselbe Haltung zeigte die heutige Schulleiterin im Interview (READHEAD 1996): Wegen der staatlichen Gesetze darf sie sexuelle Beziehungen der Jugendlichen nicht zulassen und verbietet sie also, betont jedoch nachdrücklich, dass sie die Gesetze falsch findet, sexuelle Beziehungen normal findet und lieber erlauben möchte, und dass sie solche Beziehungen ebenso wenig verhindern könne wie die Eltern und Lehrer anderer Schulen dies können.

Nacktheit war in Summerhill für Erwachsene wie Kinder beim Baden oder bei warmem Wetter im Garten selbstverständlich, Badezimmertüren waren unverschlossen, obwohl jeder Benutzer sie hätte verschließen können.

Eine ehemalige Summerhill-Schülerin betonte kürzlich in einem Vortrag, dass in Summerhill tatsächlich sexuelle Freiheit herrsche, dass aber - entgegen der landläufigen Vorstellung - in der anschließend an Summerhill besuchten deutschen Normalschule (Anfang der 80er Jahre) Geschlechtsverkehr weitaus häufiger und selbstverständlicher gewesen sei: Außerhalb Summerhills sei Sex nahezu die einzige Form intensiver emotionaler Zuwendung, während man in Summerhill diese Zuwendung problemlos auch ohne Sex erhält. In Summerhill sei es ziemlich normal, ohne Sex gemeinsam mit einem Freund im Bett zu liegen.

Auch Fluchen galt Neill als Zeichen sexueller Unterdrückung. Als ihm die Flucherei zu arg wurde, versuchte er, die sexuelle Unterdrückung mit Hilfe eines Schulkurses über Obszönität zu verringern, in dem die Kinder zunächst alle unanständigen Worte sammeln und notieren sollten. Dann schlugen die Kinder unanständiges Zeichnen vor, danach verloren sie rasch das Interesse, doch es wurde deutlich weniger geflucht.


3.6 Neills Wirkung in der Öffentlichkeit

Neill war ein brillanter und erfolgreicher Redner, der stets großen Eindruck machte und die Aufmerksamkeit und den Applaus genoss. Sein freundliches, humorvolles, bescheidenes und besänftigendes Auftreten stand dabei im Gegensatz zum radikalen Wortlaut und nahm ihm die Schärfe. Er bemühte sich auch sehr, persönliche Angriffe und persönliche Konflikte zu vermeiden und griff stattdessen Institutionen, Haltungen und Ideen an. Häufig rief er bei sachlich scharfen Gegnern keine persönliche Gegnerschaft hervor, sondern ein ausgeprägtes persönliches Wohlwollen.

Er sprach zum Bauch, nicht zum Kopf des Publikums, seine radikalen Predigten spalteten das Publikum sofort in zwei entgegengesetzte Lager. Er liebte Provokationen, drastische Überspitzungen und kleine Skandale. Typisch für seine Überspitzungen war die Antwort auf die Frage, was er täte, wenn sein Kind Nägel ins Klavier hämmere: das Glück seines Kindes sei ihm wichtiger als ein Klavier (vgl. CROALL 1984, 232). Wörtlich genommen ist diese Antwort sicher richtig, sie verfehlt aber den Kern der Frage (Grenzsetzung) und provoziert unweigerlich das dann heftig beklagte Missverständnis, Neill erlaube die Misshandlung von Klavieren und betrachte diejenigen, die ein Kind daran hindern, als lieblose Rabeneltern, die ihrem Kind Schaden zufügen. An anderer Stelle stellte er übrigens deutlich heraus, dass niemand das Recht hat, auf dem Klavier herumzutrampeln (NEILL 1969, 115 f., SUMMERHILL SCHOOL o.J., unpaginiert [S. 4]).

Auch in seinen Büchern berichtete er mit Vorliebe und übertriebener Häufigkeit skandalträchtige Beispiele von scheibeneinwerfenden Kindern, davon, wie er sich von einem Kind schlagen ließ, wie er einmal seine Drechselbank misshandeln ließ, wie er half,die Hühner des Nachbarn zu stehlen (die sofort zurückflogen), wie er einem Jungen beim Ladendiebstahl half (nach vorheriger Absprache mit dem Ladenbesitzer). Diese Art von Publicity prägte den zweifelhaften Ruf Summerhills mit.

Zwar wird bei genauerer und ruhiger Betrachtung im Zusammenhang klar, dass Neill damit Ausnahmen beschrieb, die er - im Laufe seiner fünfzigjährigen Schulleitung - in wohlerwogenen Einzelfällen bei einzelnen schwer gestörten Kindern zu therapeutischen Zwecken zuließ, förderte oder woran er sich beteiligte, um eine Heilung zu beschleunigen oder auch, um den Spaß der Provokation zu verderben. Doch sind diese Beispiele keinesfalls als Ausnahmen gekennzeichnet und täuschen beim flüchtigen Leser oder Zuhörer eine Permissivität Summerhills vor, die es tatsächlich so gar nicht gab und auch gar nicht geben sollte. Der Regelfall, nämlich dass jegliche Zerstörung, Gewaltanwendung und jeder Diebstahl in Summerhill durch Schulgesetz verboten und strafbar ist, und dass Neills private Drehbank wohlverschlossen und für Kinder unzugänglich war, geriet völlig aus dem Blick. Die spektakulären Ausnahmen dagegen waren in aller Munde, ohne dass ihr Sinn und Zusammenhang begriffen worden wäre. So entstand das weitverbreitete, aber grundfalsche Bild, das die Selbstregierung mit ihren umfangreichen Schulgesetzen, Verboten, Strafen und Gerichtssitzungen völlig ignoriert und Neills Erziehung mit purer Nachgiebigkeit identifiziert.

In seinen Büchern und Reden kümmerte Neill sich nicht um die Fachwelt und ihre Forschungsergebnisse, Theorien, Nachweise und Diskussionen und führte keine ernsthaften, sachlichen Auseinandersetzungen, sondern bot eine Mischung aus verallgemeinernden doktrinären Behauptungen, groben Vereinfachungen, Übertreibungen, Glaubensbekenntnissen, Beispiel-Erzählungen und Geschichten.

Seine Texte sind nicht sorgfältig ausformuliert und durchgearbeitet, sondern in der Umgangssprache mit all ihrer Vieldeutigkeit und Kontextabhängigkeit geschrieben. Die Begriffe sind nicht definiert, sondern werden uneinheitlich, gegensätzlich und widersprüchlich verwendet. Eine klar formulierte Theorie fehlt. Man kann bei Neill mit Leichtigkeit einander direkt entgegengesetzte Äußerungen finden, sogar zu ganz eindeutigen Fakten. So schrieb NEILL (1982, 246): "ich bin nie in einer Partei politisch oder auf andere Weise aktiv geworden", um nur neun Seiten später (1982, 255) erneut seinen schon zuvor (1982, 120) beschriebenen Eintritt in die Labour-Party 1913 zu erwähnen. Seine Kritiker können bei ihren oft falschen Behauptungen durchaus zu Recht mit korrekten Neill-Zitaten argumentieren.

Die Populärpresse griff das durch Neills Überspitzungen mitgeprägte sensationelle schiefe Bild begierig auf und verbreitete den Eindruck einer Schule, in der die Kinder die meiste Zeit wild herumrennen, rauchen, fluchen, Scheiben einwerfen, grob zu den Lehrern sind, Neill als dummen alten Narren beschimpfen, alles nach Belieben zerstören und Nägel in Neills Klavier schlagen. Pressephotographen bemühten sich, entsprechend gestellte Fotos zu machen von scheibeneinwerfenden, rauchenden Kindern oder Kindern, die Neill in den Hintern treten, oder von einander demonstrativ umarmenden Jugendlichen. In der Öffentlichkeit galt Summerhill, ebenso wie die anderen beiden libertären Schulen Beacon Hill und Dartington, als Kommunistenschule, als unmoralisch, nudistisch, atheistisch, verrückt und gefährlich, als alptraumhafte Schule ohne Regeln, in der alles Kopf steht.

Auch um die wilden Gerüchte über die gesetzlosen, primitiven, wilden Kinder, die ohne jede Manieren tun was sie wollen, zu bekämpfen, veröffentlichte Neill 1937 That Dreadful School (1950 als erstes Buch auch deutsch unter dem Titel Selbstverwaltung in der Schule), seine meistbeachtete Veröffentlichung vor Theorie und Praxis. Seine wesentlichen Passagen wurden später in Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung übernommen.

Dieses Buch zeigt, wie Neills eher frei gehaltenen Reden ähnelnden und deshalb leicht und angenehm zu lesenden Bücher offenbar direkt vom Kopf in die Maschine geschrieben wurden: Das Unterrichtskapitel besteht weitestgehend aus Abschweifungen zu anderen Themen, was Neill am Kapitelende selbst anmerkte - und dann das Kapitel unverändert unter der völlig unzutreffenden Überschrift zum Druck gab. Dies dürfte auch ein Grund für die häufig ungenauen Darstellungen sein. Beim Erscheinen seines Kinderbuch A Dominies Five im Jahr 1924 bezeichnete die Zeitung The Teacher Neill als den populärsten zeitgenössischen pädagogischen Autor. Seit den 30er Jahren wurde Neill nicht nur in England, sondern auch im Ausland bekannt und unternahm sehr erfolgreiche Vortragsreisen ins Ausland, wo auch Übersetzungen seiner Bücher erschienen.

Seit Neills ersten Skandinavienreisen war das Interesse dort sehr groß, Neill sprach vor großen und begeisterten Auditorien, seine Bücher wurden rasch ins Dänische, Schwedische und Norwegische übersetzt. In Stockholm traf Neill in den 30er Jahren Alfred Adler zum Abendessen. Das 1947 gegründete Skaa Kinderdorf in Edeby/Schweden für delinquente Kinder ist von Freuds, Lanes, Neills und Reichs Ideen geprägt, mehrere Gründungsmitglieder haben eine Weile in Summerhill gelebt.

Vor allem in Südafrika fanden seine Bücher grosses Interesse, weshalb Neill 1936 eine siebenwöchige Vortragsreise dorthin unternahm. Er sprach vor stets vollen Hallen und erregte großes Aufsehen, insbesondere weil er sich offen mit der sehr mächtigen und sehr konservativen Niederländisch-Reformierten Kirche anlegte. Diese kritisierte Neill wegen seines Atheismus, der Psychoanalyse, seiner Autoritätskritik und seiner freiheitlichen Auffassungen von Sexualität und Ehe, dass er Kindern erlaube, zu rauchen, zu fluchen und zu stehlen. Neill kritisierte im Gegenzug die theologische Rechtfertigung der Apartheid, das harte Prügeln der Kinder, das Verbot von Tanzvergnügen sowie die fehlende Sexualaufklärung.

Auch in Japan erschienen schon seit 1930 in kleiner Auflage Übersetzungen, ebenfallsin der reformpädagogischen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Der japanische Kunstlehrer Seishi Shimoda besuchte aufgrund des Buches A Dominie's Log 1928 einige Wochen lang Summerhill und war begeistert. Er wurde Professor am Tama Art College und Direktor des Iogi Child Institute, schrieb ein Buch über Neill und gab in den folgenden Jahren Übersetzungen mehrerer Bücher Neills heraus, die Neill in Japan bekannt machten. Die 1976 von Lehrern, Psychologen und Studenten gegründete Neill Shimoda Society veröffentlicht seit 1978 das Magazin Neill Kenkuyu, das sich mit Neill und anderen Erziehungsreformern befasst. 1979 waren in Japan zwölf Bücher Neills lieferbar, in England nur fünf.

Deutschland nahm Neills Ideen langsamer auf, dann jedoch mit spektakulärem Effekt. Schon 1930 hatte W. Stekels Ehefrau Hilde beabsichtigt, The Problem Child ins Deutsche zu übersetzen, allerdings wurde nichts veröffentlicht. Die 1950 erschienene erste deutsche Übersetzung Selbstverwaltung in der Schule (That Dreadful School) wurde nur wenig beachtet, ebenso die erste deutsche Auflage des Summerhill Buches unter dem Titel Erziehung in Summerhill (1965). Erst die Taschenbuchauflage unter dem etwas irreführenden, aber erfolgreichen Titel Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung brachte 1969 Ruhm und Millionenauflage auch in Deutschland.


3.7 Die Wirkung der Summerhill-Erziehung auf Schüler

Allgemeine Aussagen über die Wirkung Summerhills auf seine Schüler sind kaum möglich, da einige Kinder fast ihre ganze Kindheit in Summerhill verbrachten, andere - in ganz unterschiedlichem Lebensalter - nur wenige Monate, und eine Isolierung der spezifischen Summmerhill-Einflüsse gegen frühere und spätere Einflüsse kaum möglich ist. Neills Äußerungen dürfen nicht wörtlich genommen werden, da sie häufig eher seine Wünsche als die Wirklichkeit wiedergeben. Die bislang zuverlässigsten Informationen sind die Interviews mit ehemaligen Summerhillschülern, wie sie mit durchaus übereinstimmenden Ergebnissen von CROALL (1984, 400-407; 80 Interviews), von Emmanuel BERNSTEIN (1967, 1968a,b; 50 Interviews), BÖNNINGHAUSEN und DREISBACH-OLSEN (1973, 29-38; 5 Interviews) und ZELLINGER (1996, 15 Fragebögen) berichtet werden, am gründlichsten bei BERNSTEIN (1968a, vgl. auch SEGEFJORD 1971, 8 f.). Mit diesen Interviews könnten bis zueinem Drittel[14] aller Absolventen erfasst sein (tatsächlich vermutlich nur halb so viel). Dabei besteht eine große Spannweite der Urteile: manche fühlten sich äußerst stark durch Summerhill beeinflusst, andere dagegen kaum. Die zeitliche Spannweite des Schulbesuchs reicht von den 20er bis in die 70er (bzw. neuerdings: 90er) Jahre. Selbst grobe quantitative Aussagen sind nur schwer möglich, Bernstein unternimmt einen wohlbegründeten vorsichtigen Versuch dazu.

Die Summerhill-Erziehung ist zunächst an ihrem eigenen Ziel zu messen. Neill sah das Erziehungs- oder besser: Lebensziel nicht im gesellschaftlichen Erfolg (Berufsaufstieg, Sozialstatus), es war ihm grundsätzlich egal, ob seine Schüler Straßenkehrer, Maurer oder Professoren wurden, obwohl er immens stolz auf die wenigen erfolgreichen Akademiker Summerhills war. Ihn interessierte, was für eine Art Mensch, was für Persönlichkeiten seine Schüler wurden: ihr Charakter, ihre Selbstsicherheit, Kreativität und Toleranz und vor allem ihr Glück. Einen Aufstieg in Herrschaftspositionen hätte Neill als Misserfolg gewertet (siehe Fußnote 15).

Die von Summerhillschülern meistgenannten typischen Eigenschaften eines Summerhillschülers waren eindeutig: Verständnis für die Handlungsweisen und Motive anderer Menschen sowie Toleranz. Beides wurde meist positiv, gelegentlich aber auch negativ bewertet, als zuviel Toleranz auch gegenüber schlechtem und antisozialem Betragen.

Als in Summerhill erworbene positive Eigenschaften werden vor allem angeführt: eine gesunde Haltung zur Sexualität und zum anderen Geschlecht, natürliche Sicherheit, natürliche Entwicklung in Übereinstimmung mit eigenen Fähigkeiten und Interessen, das Ausleben und damit Überwinden des Spielbedürfnisses, wodurch man sich ernsthaften Zielen leichter widmen kann. Außerdem die Fähigkeit, mit den eigenen Kindern gut und liebevoll auszukommen und sie gesund und freiheitlich aufzuziehen.

Diese Eigenschaften wurden häufig auf die Selbstregierung in Summerhill zurückgeführt: Die Diskussionen um Fehlverhalten und die Gründe und Motive der Beschuldigten ließen verstehen, warum jemand sich so verhielt, auch dass und warum er unglücklich war. Dies Verständnis schuf ein Gefühl der Sympathie auch für die Übeltäter (zu denen gelegentlich jeder gehörte) sowie eine Tendenz, verstandenes Fehlverhalten zu verzeihen, teilweise gar zu rechtfertigen.

Viele ehemalige Schüler unterstützten ausdrücklich Neills Ansicht, dass Summerhill-Schüler bessere Chancen haben, eine lebensbejahende Einstellung zu erwerben. Einige betonten, Summerhill habe ihnen eine optimistische Haltung zum Leben vermittelt, das einfache Glück als Normalfall: gut und in Freundschaft miteinander auszukommen, ohne gegeneinander zu konkurrieren und ohne sich ständig durch Leistung beweisen zu müssen. Zustimmung und Zuneigung gab es gewissermaßen gratis, nicht als Belohnung, und das schuf einen Optimismus, dass das Leben angenehm sein kann.

Gemessen an Neills Ziel, glückliche freie Menschen aufwachsen zu lassen, ist Summerhill im großen und ganzen erfolgreich. Unter dem Gesichtswinkel des beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs ist es erklärtermaßen ungünstig.

Doch nur wenige schickten ihre eigenen Kinder nach Summerhill: nicht wegen Kritik an der Schule, sondern weil die Eltern nicht von ihren Kindern getrennt sein wollten, das Schulgeld nicht zahlen könnten und andererseits glaubten, dass die Kinder auch zu Hause eine Summerhill-Erziehung haben und es deshalb nicht nötig hätten, nach Summerhill zu gehen.

Neills Hoffnung, kämpferische Pioniere für eine bessere Welt hervorzubringen, scheint sich auf den ersten Blick nicht erfüllt zu haben. Summerhillschüler fügten sich eher in die Nischen der - durchaus äußerst kritisch gesehenen - Gesellschaft ein, um dort nacheigenen Vorstellungen ihr eigenes Leben zu leben, mit Familie, Kindern und Freunden, auch in helfenden Berufen (Erziehung, Sozialarbeit, Medizin), aber nicht in der großen Politik oder in Parteien. Die Politik-Abstinenz wird damit erklärt, dass Summerhillschüler mangels Unterdrückung kein Bedürfnis nach Auflehnung, nach Macht über und Unterdrückung von anderen haben, dass sie nicht danach streben, aufzusteigen, die Leitung zu übernehmen, weil Einfluss und Status für sie unwichtig ist. Das Motiv des Wettbewerbs mit anderen ist ihnen anscheinend - auch im Beruf - eher fremd, sie wollen lediglich ihre Arbeit gut machen.

Diese Politikabstinenz ist aber zu relativieren: die politische Aktivität der Gesamtbevölkerung ist gering, zumindest in den 30er Jahren gab es eine große politische Aktivität der Summerhillschüler, einige wurden Mitglieder der KP. Neills erste Schülerin in Hellerau (auf dem Titelbild vermutlich vorne rechts) war einige Jahre lang hauptamtliche Parteiangestellte der liberalen Partei und organisierte die Young Liberal Party (LUCAS 1994, 20).

Die von Ex-Schülern und Beschäftigten ganz beiläufig eingestreuten radikalen politischen Wertungen zeigen (wie schon bei Neill) eine intensive und extrem kritische Beschäftigung mit dem Zustand der Welt und eine starke Tendenz in Richtung Linkssozialismus oder Anarchismus. Die oft befüchtete und konstatierte unpolitische Haltung der Schüler dürfte der unpolitischen Haltung Neills entsprechen (vgl. Kapitel 4.3.2) und dem Bestreben, die Welt mit anderen Mitteln als denen der Staats- und Parteipolitik zu bessern.

Eine ehemalige Summerhillschülerin vertrat ihre Frauenrechts-Organisation im Unterhaus- Ausschuss zum Status der Frauen (vgl. BÖNNINGHAUSEN und DREISBACH-OLSEN 1973, 34 f.). Der langjährige Summerhill-Schüler Freer Spreckley erwähnt (LUCAS 1993, 12), dass er sich zu Anfang der 70er Jahre während des indisch-pakistanischen Krieges an der gewaltfreien Direkten Aktion Operation Omega beteiligte: zu zehnt kauften sie einige Krankenwagen und fuhren damit zwischen die kriegführenden Parteien, wodurch sie die Kämpfe in der Region für einige Tage stoppten. Nach dem Krieg organisierte er in Bangladesh die Cholera Cure Unit, warb Geld ein und reiste ein Jahr mit Medizinstudenten von Dorf zu Dorf, um ein einfacheres neues Medikament zu verteilen. In England arbeitete er in mehreren Genossenschafts- und Community-Projekten, gründete 1987 den Friends of Summerhill Trust, war dessen Sekretär, heiratete 1990 eine ehemalige Summerhill-Lehrerin und arbeitet inzwischen als Berater für die von E. F. Schumacher (Autor von small is beautiful) gegründete Forschungs-Organisation Intermediate Technology.

Summerhill wird häufig - meist undifferenziert - der Vorwurf gemacht, eine Insel zu sein. Solange ein solcher Insel-Vorwurf nicht näher konkretisiert wird, lässt er sich auf beinahe jede normale Schule, jedes normale Heim anwenden, da diese die gesellschaftlichen Realitäten ebenfalls weitestgehend ausblenden. Summerhill ist sehr bewusst eine Gegenwelt mit anderen Werten und Zielen. Ob solche Gegenwelt als richtig und sinnvoll erachtet wird, hängt von der Zielsetzung des Betrachters ab. Ehemalige Schüler berichteten häufiger, dass sie sich nach dem Verlassen von Summerhill unter den normalen Altersgenossen deutlich positiv anders fühlten: vernünftiger, überlegener, reifer und älter, dass sie viele Probleme ihrer Altersgenossen einfach deshalb nicht hätten, weil sie sie nicht ständig selbst produzierten. Der Unterschied sei so unüberbrückbar groß, dass es oft nutzlos sei zu widersprechen, weil die anderen es nicht begreifen könnten. Einige erklärten dies damit, dass sie nicht durch konventionelle Betragens- Vorstellungen fehlgeleitet und von der Wirklichkeit abgelenkt worden wären: dass sie z. B. das kindische Kichern und beständige Witzeln über das andere Geschlecht einfach nicht nötig hätten, weil ihnen Sex ganz selbstverständlich sei.

Der häufigen Kritik Außenstehender, dass die Freiheit in Summerhill die Kinder nicht auf das wahre Leben vorbereite, wird ein anderer Begriff von Wahrheit entgegengehalten (wahrhaftig statt üblich): die große, nirgends sonst wieder angetroffene Wahrheit, Echtheit, Offenheit und Ehrlichkeit in Summerhill, dass Summerhill die eigentlich wahre Welt sei und die Außenwelt eher mit Fassaden, Ersatzbefriedigungen, Lebenslügen und Surrogaten wie Geld, Macht, Konventionen handle, und das Hinausgehen in die Außenwelt einem Schlag ins Gesicht gleichkomme. Viele Schüler hatten anfangs Schwierigkeiten, sich draußen zurecht zu finden. Ihre innere Sicherheit und ihr Selbstvertrauen befähigten sie jedoch, anpassungsfähig mit Wandel zurechtzukommen, ohne sich auf starre Strukturen stützen zu müssen. Sie waren so fähig, sogar mit dem Leben in dieser normalen Außenwelt zurechtzukommen. Schüler, die sich noch nicht stark genug dazu fühlten, blieben nach dem Schulabschluss noch eine Weile, meist als Hauseltern.

Die verbreitete Vorstellung, dass frei aufgewachsene Summerhillschüler unfähig sind, unter auferlegten Regeln und Beschränkungen zu leben, scheint grundfalsch zu sein. Im Gegenteil gaben die Exschüler an, in Summerhill gelernt zu haben, dass Gesetze und Regeln notwendig sind, und dass sie (sofern sie nicht gegen ihre moralischen Grundsätze verstoßen) bereit sind, sich pragmatisch damit zu arrangieren und dann ihr eigenes Leben zu leben. Dass sie im Gegensatz zu vielen unter strikter Autorität aufgewachsenen normalen Schülern keinen inneren Zwang empfinden, sich aus Prinzip gegen die Autorität aufzulehnen, die schon aus Prinzip verhassten Regeln zu brechen, aber andererseits durchaus in der Lage sind, auch dem Chef gegenüber ohne Furcht offen die eigene Meinung zu sagen.

Es ist völlig unbestritten, dass die Schulbildung von Summerhill-Schülern (zu Lebzeiten Neills und mit einigen Ausnahmen) relativ gering ist. Einige Schüler blieben funktionale Analphabeten, die nur recht fehlerhaft und mit einiger Mühe lesen und schreiben konnten (wie es auch an Staatsschulen vorkommt). Wobei ungeklärt ist, ob dies eher diejenigen waren, die ihre gesamte Schulzeit in Summerhill verbrachten, oder diejenigen, die in anderen Schulen eine hartnäckige Lernabneigung erwarben.

Ex-Schüler berichteten, dass sie vieles nicht wissen, dass ihnen Zertifikate fehlen und ihnen dies auch durchaus schon Probleme bereitet habe. Etliche betonten aber ebenfalls, dass sie wegen der anderen Vorzüge weiterhin Summerhill vorzögen und dass sie eher sich selbst als die Schule für ihre geringe Bildung verantwortlich machen.

Einige sahen positiv, dass sie ein echtes Interesse am Arbeiten und eine Freude am Lernen erwarben und keinerlei Lernabneigung entwickelten, sodass sie zwar weniger wüssten, aber bereitwilliger als normale Schüler lernten, wenn dies sich als notwendig erwies. Viele stimmten Neill zu, dass vieles Lernen ebenso gut auf spätere Jahre verschoben werden kann, da man dann - etwa für benötigte Examen - infolge größerer Motivation die Wissenslücken rascher aufholen kann. Es sei besser, etwas ungebildet zu sein, als die ganze Schulzeit in Furcht zu verbringen.

Ein am Beginn des Jurastudium stehender Achtzehnjähriger erklärte: "Ich öffnete in Summerhill kaum ein Buch, vor allem am Anfang. Ich glaube, in der strengen Normalschule habe ich das Lernen hassen gelernt, darum schickte mein Vater mich" [nach Summerhill] (BERNSTEIN 1968b, 134, Übersetzung von mir). Nach drei Jahren kehrte er auf eigenen Wunsch zur alten Schule zurück, da er sich nun zum ernsthaften Lernen bereit und in der Lage fühlte.

Der Sohn des langjährigen Summerhill-Lehrers Corky Corkhill besuchte selten den Unterricht und bastelte stattdessen vorzugsweise an Neills Auto. Nach einer Lehre und drei Jahren Berufstätigkeit in einem Metallbetrieb eröffnete er eine eigene Reparaturwerkstatt (ebd. 131-133).

Ein anderer hatte in der ersten Hälfte seiner sechs Schuljahre in Summerhill keinen Unterricht besucht, sondern fast ununterbrochen gemalt. Von Summerhill wechselte er 1948 aufs Polytechnikum, bestand das Oxford-Examen und wurde Kunstlehrer. Er äußerte: "Wenn man sich erst einmal entschieden hat, was man will, will man es auch voll und ganz" (ebd. 130 f., Übersetzung von mir).

Eine Schülerin, die von Summerhill zur Normalschule gewechselt hatte, berichtete, dass ihr das ernsthafte Lernen in der Normalschule sehr gefallen habe: "Ich konnte gar nicht verstehen, warum die anderen Kinder aufhörten zu arbeiten, sobald der Lehrer den Raum verließ." Ihre Mutter ergänzte: "Die Lehrer und der Rektor kamen gar nicht darüber hinweg! Sie sagten alle, dass sie das Wissen wie ein Schwamm aufsauge!" (ebd. 129, Übersetzung von mir).

Trotz aller Beschwerden über mangelhaften Unterricht hatten 10 der 50 von Bernstein interviewten Ex-Schüler die Universitätseingangsprüfungen bestanden, acht hatten die Universität erfolgreich abgeschlossen. Allerdings äußerten einige, dass sie ca. zwei Jahre zusätzlich dafür hätten lernen müssen.

Die Auflistung der ausgeübten Berufe der Befragten bei BERNSTEIN (1968a) scheint Neills Behauptung, Summerhillschüler wählten vorwiegend künstlerische Berufe, zu widerlegen. Die Berufe sind sowohl im Qualifikationsniveau wie bei den Branchen sehr breit gestreut. Die genannten Berufe (Lastwagenfahrer, Hausfrau, Universitätsprofessor) lassen kaum eine Bevorzugung eines Gebietes erkennen. Allenfalls besteht eine leichte Überrepräsentation kreativer und eine deutliche Unterrepräsentation von Berufen im Macht- und Geld-Sektor (business, commerce, industry). Inzwischen sind auch einige Lehrer geworden, trotz Neills früherer Betonung, Summerhill habe keinen einzigen Lehrer hervorgebracht. Ein Schüler wurde Militärpilot, weil er unbedingt fliegen wollte.

Nachdem der Schule lange die Vernachlässigung akademischer Fächer vorgeworfen wurde, kritisierten die Schulinspektoren mittlerweile, dass die Absolventen einseitig vorwiegend naturwissenschaftliche Berufe ergriffen (READHEAD 1993, 3).

In Großbritannien kann am Ende der Sekundarstufe (etwa 16jährig) durch staatliche Prüfungen das General Certificate of Secondary Education (GCSE) erworben werden, das dem Realschulabschluss vergleichbar ist und früher O-Level (GCE Ordinary Level) genannt wurde. Dieses ist Voraussetzung zum Besuch eines (der deutschen Oberstufe vergleichbaren) Colleges, das mit dem GCE A-Level (General Certificate of Education, Advanced Level) endet, dem britischen Abitur. Summerhill führt lediglich bis zum GCSE. Viele (wieviele?) Absolventen besuchen danach ein College.

ZELLINGER (1996, 100-125; 15 Fragebögen) bestätigt meist Bernsteins Ergebnisse. Im Gegensatz zur üblichen Darstellung, Schüler blieben dem Unterricht in Summerhill umso länger fern, je länger ihre Regelschulerfahrung sei, konnte sie jedoch keine Beziehung zwischen beidem feststellen. Dies könnte mit daran liegen, dass sie die Altersgruppe der 10-12jährigen, die im Gegensatz zu den jüngeren und älteren häufig dem Unterricht fernbleibt, nicht gesondert betrachtet.

Sieben Befragte hatten Summerhill bereits vor etwa 20 Jahren verlassen, fünf von ihnen hatten keine Abschlussprüfungen gemacht. Die acht jüngeren Befragten hatten Abschlussprüfungen absolviert, die Hälfte auf eigenen Wunsch, die andere Hälfte eher auf Wunsch der Eltern. Andererseits erwähnt ZELLINGER (1996, 78), dass durchschnittlich etwa 80% der Summerhill-Schüler das GCSE-Examen bestehen. Einige scheinen es später nachzuholen.

Drei Befragte hatten eine Universitätsausbildung abgeschlossen, zwei ein Lehrer-College, zwei studieren noch, fünf hatten das Abitur erreicht, zwei hatten zusätzliche Abschlussprüfungen unterhalb des Abitur-Niveaus gemacht (über den fünfzehnten wird nichts ausgesagt, vermutlich war es derjenige, der gerade das deutsche Abitur machte).

Der Anteil künstlerischer Berufe lag (wie bei Bernstein) bei 20% (zwei Musiker, ein Maler und Dekorateur). Zwei Befragte waren Lehrer, einer Universitätsprofessor geworden. Der einzige befragte Schüler, der nie den Unterricht besucht hatte, leitete inzwischen den Betrieb, in dem er als Arbeiter begonnen hatte. Ein Befragter machte gerade das deutsche Abitur, eine 22jährige Frau plante, ein Studium aufzunehmen, zwei waren Studenten (einer davon künstlerisch: Möbeldesign), zwei hatten ihr Studium abgebrochen und jobbten vorerst, eine Befragte arbeitete als Forschungsassistentin, ein anderer war Computeringenieur.

Bernsteins Analyse zeigt, dass Schüler, die jung nach Summerhill kamen und es etwa zwölfjährig (oft auf eigenen Wunsch) verließen, um an anderen Schulen besser zu lernen, am meisten profitiert hatten und am zufriedensten waren, sie hatten nichts als Lob für Summerhill. In dieser Zeit hatten sie die Vorteile Summerhills genossen, eine gesunde, freie und tolerante Persönlichkeit und Interesse am selbstständigen Lernen entwickelt und soweit gefestigt, dass sie sie in der Außenwelt bewahren konnten.

Schüler, die zwölfjährig und älter nach Summerhill kamen, konnten persönlich weniger profitieren und hatten später größere Eingewöhnungsprobleme in der Außenwelt, außerdem wirkten sich bei ihnen die seinerzeit sehr schlechten schulischen Bedingungen Summerhills besonders ungünstig aus. Auch wer mehr als zehn Jahre in Summerhill verbrachte, hatte später deutlich mehr Eingewöhnungsprobleme. Inzwischen werden elfjährige und ältere nicht mehr aufgenommen.

Summerhill (und Freiheit allgemein) scheint sich besser für extravertierte Charaktere zu eignen, die ihr Leben von sich aus aktiv selbst in die Hand nehmen und sich in der dortigen Freiheit ausleben können. Solche Kinder waren ständig beschäftigt mit dem Bau von Hütten, Höhlen, Modellflugzeugen, Drachen, Pfeil und Bogen, Katapulten oder mit Kampf- und Geländespielen. Sie waren oft auch die aggressiveren und die Tyrannen und Gangstertypen.

Scheue und introvertierte Kinder fühlten sich durch die große Freiheit eher überfordert und vermissten äußere Beschränkung, Anleitung, organisierte Freizeitaktivitäten und Schutz vor Belästigungen durch die robusteren Kameraden. Solche Kinder klagten eher über Langeweile, fühlten sich mit sich selbst alleingelassen, litten unter tyrannischen Mitschülern und sahen ihren Summerhill-Aufenthalt eher negativ, sie gewannen teilweise auch in Summerhill nicht die benötigte Selbstsicherheit.

Allerdings lässt sich kaum vorhersagen, ob ein zuvor scheues Kind in Summerhill scheu bleiben wird oder nicht.




Fußnoten

[13] Die Schulpflicht verpflichtet Kinder lediglich zum Besuch einer staatlich anerkannten Schule, also zur Anwesenheit. Ob Schüler an bestimmten Lehrveranstaltungen teilnehmen müssen, liegt dagegen im Ermessen der Schule (ggf. in Übereinstimmung mit geltenden Vorschriften und den Aufsichtsbehörden).

[14] Nach Hammelmann (1991, 110) durchliefen bisher insgesamt nur etwa 600 Schüler die Schule. Die 135 Interviews entsprächen, wenn es keine Überschneidungen gäbe, etwa 27%. Da die Gesamt-Absolventenzahl 20 Jahre (von 70 Jahren) später liegt, wären es zum Zeitpunkt der Interviews etwa ein Drittel.