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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (1. Reformbewegungen der Jahrhundertwende)
Fortsetzung (2.5 1921-1924: Schulgründung auf dem Kontinent - Dresden-Hellerau und Sonntagberg)


2. Leben und Werk A.S. Neills

2.1 1883-1908: Jugend und Dorfschullehrerzeit

Alexander Sutherland Neill wurde am 17. Oktober 1883 im schottischen Forfar/Angus geboren und wuchs im zwei Meilen entfernten Kingsmuir auf, wo sein Vater Dorfschullehrer war. Die Atmosphäre dort war von der calvinistischen Religion geprägt, jede Lust und Vergnügung wurde unterdrückt. Nach zweijährigen kläglichen Versuchen in anderen Berufen erlernte Neill ab Mai 1899 vier Jahre lang (bis Juli 1903) in einer Art Handwerkslehre bei seinem Vater den Lehrerberuf - mit recht schlechten Prüfungsergebnissen, die ihn nur zu Hilfslehrer-Stellungen berechtigten. Er arbeitete danach zunächst drei angstvolle Jahre in Bonnyrigg bei Edinburgh und in Kingskettle/Fife, in denen er aus Angst vor strengen Schulmeistern die Kinder gelegentlich mit dem Lederriemen oder Gürtel (strap, tawse, belt) prügelte, der in Schottland den Rohrstock (cane) ersetzte. Dies war in denSchulen der Jahrhundertwende allgemein üblich: gefordert waren zunächst Gehorsam, guteManieren und militärische Disziplin (Einmarschieren in den Klassenraum etc.). Allgemein wurde mit Angst regiert, unverstandenes Auswendiglernen war üblicher und wichtiger als Sinnverständnis.

In dieser Zeit entschloß sich Neill zum Studium und erwog, wie sein Bruder Pfarrer zu werden. Schließlich bestand er das Hilfslehrerexamen und den ersten Teil der Universitäts- Aufnahmeprüfungen.

Daraufhin wechselte der 24jährige Neill Ende November 1906 zu einem fast gleichaltrigen, sehr liberalen Schulmeister nach Newport, einem südlichen Vorort von Dundee, wo er erstmals glückliche Zeiten erlebte. Er war beliebt bei den Kindern, benutzte den Schlagriemen nicht mehr, drohte aber noch damit und überließ die Bestrafungen dem Schulmeister. Arm in Arm mit den Kindern unternahm er mit seiner Klasse Ausflüge zur Naturbeobachtung, zum Zeichnen, zur Geographie etc.

In Newport begann auch die lange Reihe missglückender romantischer, unsexueller Liebesbeziehungen zu bürgerlichen Mädchen und kurzer, sexueller Affären mit Fabrikmädchen. Eine mehrjährige Liebesbeziehung gelang ihm nach mehreren Psychotherapien erstmals in den 1930er Jahren, als er etwa 50 Jahre alt war.

2.2 1908-1914: Linkswendung im Studium, Journalist

Nachdem Neill auch das Lehrerexamen und die restlichen Universitäts-Eingangsprüfungen bestanden hatte, begann er im Oktober 1908 ziemlich planlos ein Studium. Nach einem Jahr wechselte er von Agrarwissenschaft zu Anglistik.

Im Elternhaus war Neill der verträumte Trottel und der klägliche Versager der Familie gewesen, der die hochgesteckten Moral-, Bildungs- und Verhaltenserwartungen seiner Eltern nirgends erfüllen konnte. Als Hilfslehrer war Neill ein eifriger Konservativer gewesen, hatte sich im militärischen Freiwilligencorps betätigt und selbst nach den Zielen seiner Eltern gestrebt, hatte betont Anschluß an die bürgerliche gute Gesellschaft und ihre Kunst und Kultur gesucht, sich mit Literatur, Musik, Theater, Ballett und Opern befasst. Den gesellschaftlichen Anschluß hatte er in Newport, wo er nebenbei als Nachhilfelehrer bei einem Industriellensohn tätig war, und auch im Studium gefunden. Er lernte tanzen und feinere Manieren.

Das selbst angesparte Geld blieb für Neill während der Studienzeit stets extrem knapp. Seine schamhaft versteckte Armut inmitten der wohlhabenden Gesellschaft machte ihm Schwierigkeiten: selbst kostenlose Veranstaltungen konnte er sich wegen der damit verbundenen Nebenkosten (Trinkgeld, Garderobengebühr, teure Kragenwäsche, Kleiderkonventionen) kaum leisten.

Im Studium wandte er sich modernen sozialkritischen Autoren zu: Nietzsche, H. G. Wells, Ibsen und vor allem G. B. Shaw. Am höchsten ihm vorstellbaren Punkt seiner Karriere, kurz vor dem Erwerb des Akademischen Grades an der Universität, machte er eine völlige Kehrtwendung: Er warf Religion und Tradition, die konservativen bürgerlichen Lebens- und Anstandsvorstellungen über den Haufen, gelangte zu einer gesellschaftskritischen linken Haltung und sah sich als Sozialist, Pazifist und Sozialreformer, bekannte sich zur Gleichheit aller Menschen, zur Frauenemanzipation und Freien Liebe, lehnte die herrschende Religion und Institutionen wie Kirche, Ehe, Familie, Staat und Schule scharf ab und verurteilte soziale Klassentrennung, soziale Überheblichkeiten, Kolonialismus, Rassismus und Verhaltenszumutungen aller Art.

Neill engagierte sich stark in der Studentenvertretung und widmete im letzten Studienjahr fast seine ganze Zeit der journalistischen Arbeit als Herausgeber des Studentenmagazins Student und schrieb auch einige Theaterstücke. Zeichnungen von ihm erschienen im Glasgow Herald.

Im Student schrieb Neill radikale reformpädagogische Polemiken gegen das Kurs und Prüfungssystem der Universität, das, statt vorhandene Fähigkeiten und Interessen der Studenten herauszulocken und weiterzuentwickeln, sie gewaltsam von außen hineinzurammen versuche. Nur auswendig gelerntes Faktenwissen werde gelehrt und abgeprüft, die eigenständige Denkfähigkeit werde entmutigt. Er forderte, dass Hochschullehrer sich mit den Studenten anfreunden sollen und nicht durch eine Aura formaler Würde von ihnen getrennt sein dürfen.

Neill war nun zeitlebens von einer feindlichen Abneigung gegen Religion, Schule, Bildungserwartung und Lernzwang, überhaupt Zwängen jeder Art geplagt, unter denen er in Kindheit, Jugend, Dorfschullehrerzeit und Studium gelitten hatte und über die er in seiner Autobiographie (NEILL 1982) detailliert berichtet. Diese tief sitzenden Abneigungen bestimmten sein Lebenswerk ebenso wie seine positiven Überzeugungen.

Neill erwarb im Juli 1912 den Magistergrad (M. A.) in Anglistik und trat kurz danach der Labour Party bei. Er arbeitete dann, da er keinesfalls mehr als Lehrer arbeiten wollte, sehr erfolgreich als Redakteur verschiedener Verlage, zog dabei auch nach London um, bis bei Kriegsausbruch im August 1914 der Verlag Bankrott machte.

2.3 1914-1918: Schulmeister in Gretna Green, Bücher, Militärzeit

Neill war pazifistisch gesinnt, sein Vorbild G. B. Shaw hatte in Common Sense about the War sogar gefordert, die Soldaten sollten ihre Offiziere erschießen und dann heimkehren. Wegen der extrem harten Behandlung der Kriegsdienstverweigerer traute Neill sich aber nicht, den Kriegsdienst zu verweigern. Da ohnehin die Wehrpflicht eingeführt war, meldete er sich 1914 ohne Begeisterung freiwillig. Wegen einer kurz vor Kriegsbeginn ausgeführten Beinoperation war er bis März 1917 untauglich.

Ab Mitte Oktober 1914 wurde er Schulmeister (d.h. Schulleiter) in Gretna Green. Nach sehr kurzen Versuchen mit schärferer Disziplin und schottischem Schlagriemen entdeckte er seine Abneigung gegen Strafe und sturen Lernzwang wieder und sah die Schule eher mit den Augen der Schüler. Den Lederriemen, das Symbol seiner Lehrerautorität, verbrannte er demonstrativ im Ofen.

Neill machte sich wenig Illusionen über die Wirkung seines Dorfschulunterrichtes: seine Schüler würden mit 14 Jahren entweder Landarbeiter oder Fabrikarbeiter werden und die Geographie Indiens ebenso wie das restliche Schulwissen rasch vergessen. Seine Schule sollte den Kindern nicht auswendiggelernte Fakten (Jahreszahlen...) eintrichtern, sondern sie denken lehren und ihnen eine lebenslang wirkende Haltung zum Leben vermitteln. Das Kind sollte lernen, nicht zu urteilen, sondern zu verstehen, alles anzuzweifeln und zu hinterfragen, Rebell zu sein und nicht demütig, bescheiden und unterwürfig.

Neill diskutierte mit den Kindern pro und kontra Krieg und Frauenstimmrecht, äußerte seine Abneigung gegen den nationalistischen Einschlag der Geschichtsbücher, ihre Konzentration auf Könige und die Vernachlässigung der Geschichte des Volkes, kritisierte, dass seine weiblichen Kolleginnen nur halb soviel Gehalt bekamen wie er. Da er Religionsunterricht geben musste, diskutierte er darin über biblische und naturwissenschaftliche Weltsicht sowie andere Religionen.

Jegliche Behandlung von Sexualität in der Staats-Schule hätte Neills (sowieso als sicher erwartete) sofortige Entlassung bedeutet, deshalb träumte er schon 1915 von der Eröffnung einer privaten Schule, in der er Sexualerziehung einführen würde und größere pädagogische Freiheiten hätte.

Obwohl Neill forderte, Erwachsene dürften den Kindern keine Werte aufdrängen und nicht (insbesondere moralisch) urteilen, war sein damaliger Unterricht noch keineswegs kind-zentriert, sondern Neill verkündete und predigte seine eigenen definitiven sozialreformerischen Überzeugungen.

Neill forderte schon damals, niemand soll auch nur ein Wort lesen lernen, bevor er lesen lernen will. Die Klassen sollten höchstens 12 Schüler haben und eigentlich gar keine Klassen mehr sein: Der Lehrer soll nur noch der Helfer der Schüler sein, der zusammen mit ihnen lernt und den sie bei Bedarf konsultieren können.

Als Haupthindernis einer solchen freien Schule sah er die Eltern an, zu denen die Kinder jeden Tag zurückkehren mussten, und die solche Freiheit nicht dulden würden, wodurch das Kind zwischen zwei Feuer geriete.

"Nach und nach merkten die Kinder, dass meine Disziplin der reinste Bluff war und dass es mir nicht das geringste ausmachte, ob sie etwas lernten oder nicht. Aus der stillen Schule wurde ein Gartenlokal voller Lärm und Gelächter. Aber wir hielten die üblichen Unterrichtsstunden ab, und sie lernten vermutlich nicht weniger, als wenn sie Angst vor mir gehabt hätten." (NEILL 1982, 122)

Neill schaffte die Hausaufgaben ab, die Kinder durften nun während der Schulstunden reden und ohne besondere Erlaubnis den Raum verlassen. Einen Tag in der Woche hatten die Kinder frei und konnten ihre Beschäftigung völlig frei wählen, etwa in der Werkstatt arbeiten oder in die Felder gehen und lesen. Schüler bauten in der Schule Drachen, einen Fischteich, ein Boot und ein Taubenhaus.

Die 55 Jahre später interviewten ehemaligen Schüler (HEMMINGS 1972, 17) erinnerten sich, dass sie Neill und seine Zwang-losigkeit sehr mochten, während den Eltern die Schule ohnehin ziemlich egal war:

    "Seine Lehrmethode war sehr einfach: Ich zum Beispiel war gut im Rechnen, also tat ich nichts anderes" (in CROALL 1984, 60; Übersetzung von mir).

Trotzdem war der Schulinspektor bei den jährlichen Schulinspektionen mit den Leistungen sehr zufrieden, bemängelte aber Disziplin und Ordnung. Neill wiederum beklagte, dass die Schulverwaltung die längst überfüllte Schule (wohl auch kriegsbedingt) verkommen ließ, kein Heizmaterial lieferte und die dadurch geplatzten Wasserrohre, zerbrochene Scheiben und den heruntergefallenen Deckenputz nicht reparierte und die Schule nicht mehr reinigte. Bei Kälte musste zeitweise der Unterricht ausfallen.

Gegen Ende 1914 begann Neill, neben dem schulamtlichen ein privates Schultagebuch zu verfassen, das er gegen Ende des Jahres 1915 (nach Vorabdruck der ersten Kapitel in der Scottish Educational News) als sein erstes Buch Tagebuch eines Schulmeisters (A Dominie's Log) veröffentlichte. Es wurde meist (z. B. in der Times) positiv zustimmend rezensiert, Reaktionen auf das Buch brachten ihn in Kontakt mit Gleichgesinnten. In seinem 1917 erschienenen zweiten Buch A Dominie Dismissed (Hinauswurf eines Schulmeisters) entwickelte er seine Schul-Vorstellungen weiter. Das Buch ist eine fiktive Geschichte über seinen stets erwarteten, aber nie erfolgten Hinauswurf aus der Schule (der allerdings in der Autoren-Vorstellung der Neuausgabe von A Dominie's Log (London: Hogarth 1986) fälschlich für bare Münze genommen wird).

Schließlich musste Neill doch zum Militärdienst. Er fürchte und hasste das Militär mit seiner Willkür und Rechtlosigkeit. Die dreimonatige Infanterie-Grundausbildung war für den pazifistischen freisinnigen Lehrer mit krankem Bein in jeder Hinsicht eine Qual. Wegen guter mathematischer Kenntnisse und kranken Füßen wurde er Artillerie-Offiziersanwärter und erhielt im März 1918 das Offizierspatent. Er wurde als Artillerie-Ausbilder eingesetzt, die täglich erwartete Abkommandierungan die mörderische Front blieb aus.

Bei der europaweiten ersten Epidemie der spanischen Virusgrippe Mitte 1918 (die in England mehr Tote als der Krieg gekostet haben soll) erkrankte Neill sehr schwer und erlitt anschließend einen schweren Nervenzusammenbruch mit Symptomen, die einem Granatschock in den Schützengräben glichen. Der hinzugezogene Spezialist, der bekannte Anthropologe William H. Rivers, arbeitete auch psychoanalytisch und analysierte Neills Träume, wodurch Neill erstmals von Freud erfuhr.

2.4 1918-1921: Reformpädagoge in London

Eine Dame aus dem Umkreis der berühmten King Alfred School (K.A.S.) hatte Neill auf sein erstes Buch hin geschrieben. Neill besuchte sie daraufhin und wurde John Russell vorgestellt, dem Leiter der King Alfred School. Die Dame berichtete auch vom Little Commonwealth, einem extrem modernen und freiheitlichen Besserungslager für jugendliche Delinquenten, das nur 60 km von der Kadettenschule Trowbridge entfernt lag, und gab Neill ein Vorlesungs-Protokoll Homer Lanes, des Gründers und Leiters des Little Commonwealth. Neill besuchte das Little Commonwealth an einem Winterwochenende Ende 1917.

    "Homer Lane war die bei weitem eindrucksvollste Persönlichkeit, der ich bis dahin begegnet war. Er erzählte mir von einzelnen Fällen, und ich hörte ihm hingerissen zu. Seine Fürsorgezöglinge bezauberten mich, und ich brachte Lane so weit, dass er mir versprach, ich könnte nach Beendigung meiner Militärzeit im âKleinen CommonwealthÔ mitarbeiten.

    Meine erste Tat, als ich mich gesund genug fühlte, bestand darin, dass ich Lane schrieb, ich könnte kommen. Als Antwort erhielt ich die Mitteilung, das Commonwealth sei geschlossen worden und Lane halte sich ziemlich krank in London auf. Enttäuscht dachte ich, dass ich nun das zweitbeste versuchen sollte. So schrieb ich an John Russell, bat ihn um eine Anstellung, bekam sie und wurde Lehrer an der K. A. S." (NEILL 1982, 139).

Der Kontakt mit Homer Lane wird von Neill als der entscheidende Wendepunkt seiner Karriere angesehen. Neill wurde Lanes Freund und Schüler, ließ sich von ihm psychoanalysieren und erlernte die Psychoanalyse-Theorie. Hier fand er die ersehnte wissenschaftliche Grundlage für seine freiheitlichen Gefühle und Ansichten. Bislang waren Neills Ansichten und sein Auf der Seite des Kindes stehen eher instinktiv und intuitiv gewesen. Vonnun an spielte die neue Psychologie (Psychoanalyse) die Hauptrolle: Freuds Lehre von der kindlichen Sexualität und von den unbewussten Motiven, ihrer Unterdrückung, den daraus folgenden Neurosen und die Wieder-Ent-Deckung der unbewussten Handlungsmotive durch Methoden der Traumdeutung und der freien Gedankenassoziation. Lanes Little Commonwealth war ein praktisches Modell freiheitlicher psychoanalytischer Pädagogik.

Neills nächstes (1921 erschienenes und Lane gewidmetes) Buch A Dominie in Doubt spiegelt diese neuen Einflüsse der Laneschen Theorie, aber auch schon erste Kritiken an Freud, der Neill in Einzelheiten als zu starr erschien. Neill predigte nun nicht mehr, wie noch kurz zuvor, seine definitiven sozialreformerischen Ansichten, sondern forderte eine Entwicklungs-Freiheit des Einzelnen. Feste Vorgaben für alle konnte es nun nicht mehr geben: Niemand ist weise genug, um einem anderen dessen Lebens-Ziele verbindlich vorschreiben zu können.

Im Oktober 1918 war Lane als freier Dozent und Psychotherapeut nach London gezogen. Neill nahm vielleicht auch deshalb wenige Monate später die Lehrerstelle an der nahen King Alfred School an. Die Lanes schickten wegen Neill ihre Kinder Polly und Allen dorthin, und Neill lud Lane zu psychologischen Vorträgen vor den Lehrern der King Alfred School ein.

Da Lane sich mangels Ausbildung nicht Therapeut nennen durfte, bezeichnete er seine Behandlung als Privatunterricht (private lesson; aus ähnlichen Gründen heißen heute in Deutschland viele Psychotherapien Beratung) was Neill später übernahm. Neill nahm etwa ein Jahr lang an jedem Werktag als Schüler (pupil) bei Lane Privatstunden, in denen Lane Traumdeutung und freie Assoziation praktizierte und seine Version der Freud'schen Analyse erläuterte. Seit Mitte 1919 kam er auch an den Wochenenden zum Abendessen zu den Lanes, die für ihn eine Art von Idealeltern waren. Neill kopierte Lane geradezu, besuchte Lanes psychoanalytischen Studienzirkel und sämtliche seiner Vorträge. Nach einigen Monaten hielt Neill selbst einen Vortrag über das Little Commonwealth, durch den Lane sich falsch dargestellt fühlte und jegliche derartige Wiederholung verbot. Dies führte zu einer vorübergehenden Trennung, Neill unterbrach die Analyse bei Lane und ging zeitweilig zum Jungianer Maurice Nicoll in Behandlung.

Wohl im Januar 1919 wurde Neill Lehrer an der King Alfred School in Hampstead, der wohl fortschrittlichsten, modernsten und freiesten Schule Londons: ohne körperliche Züchtigungen, ohne Noten, ohne Belohnungen und Preise, ohne Wettbewerb. Hier wurde schon vor dem Weltkrieg Koedukation und freie, legere Disziplin praktiziert. Es gab sogar ein Selbstregierungsgremium aus gewählten Repräsentanten der Lehrer und Schüler, in dem die Schüler die Mehrheit hatten, und das Schulgesetze erließ und durchsetzte.

Trotzdem herrschte dort nicht die Freiheit und Gleichheit, die Neill forderte: Die Lehrer waren zwar keine traditionellen Zuchtmeister mehr, wurden aber auch nicht gleichrangig mit den Schülern, sondern blieben betont Erwachsene mit einer besonderen Würde, für die besondere Regeln und Rechte galten, und die von Schülern nicht kritisiert werden durften. Die vorgegebene Etikette und selbstverständliche Anstands- und Moralnormen beherrschten die Schule: sanft, freundlich und nachdrücklich vorgebrachte strenge Moralvorstellungen engten die Meinungs- und Verhaltensfreiheit deutlich ein. Trotz der Koedukation blieb die übliche Unterdrückung der normalen sexuellen kindlichen Regungen: die Kinder sollen Brüder und Schwestern sein, und nichts anderes! Viele Kinder kannten nicht einmal die allerüblichsten Schimpfworte und Flüche. Als ein neunjähriger Junge ein achtjähriges Mädchen geküsst hatte, sah sich der Direktor zu einem langen und deutlich antisexuellen Vortrag veranlasst.

Der Art von Selbstregierung, die Neill bei Lane gelernt hat, stand man eher ablehnend gegenüber, Neill durfte sie aber innerhalb seiner Klasse erproben. Als die Kinder laut wurden und Dampf abließen, was Neill nicht störte, wohl aber andere Lehrer, sah man das als Beweis, dass diese Selbstregierung nicht funktionierte. "Sie funktionierte auch nicht, aber sie machte Spaß." (NEILL 1982, 141) Der Konflikt ging offenbar nicht pro und kontraSelbstregierung, sondern um ihre Reichweite und um das Maß der verbleibenden speziellen Erwachsenen-Autorität. Die freieste Schule Londons war für Neill nicht frei genug gewesen, und so musste er die King Alfred School nach fünf Trimestern Mitte 1920 verlassen.

Homer Lanes Sohn Allen Lane war Klassensprecher in Neills Klasse gewesen. Ein weiterer Schüler in seiner Klasse war Walter Neustätter, dessen Mutter Ada Lilian Lindesay-Neustätter (Neills spätere Ehefrau) in England von der Kriegserklärung überrascht worden war und so bis 1919 vom Ehemann Otto Neustätter in Dresden getrennt wurde. Sie dachte ähnlich wie Neill. Aus Geldmangel konnten die Pläne der beiden, gemeinsam eine freie Schule zu gründen, nicht verwirklicht werden (Näheres zu den Neustätters im Kapitel 2.5.2).

Als Neill die King Alfred School verließ, war er sehr belesen in psychoanalytischer Literatur, und bald ermutigte ihn Lane, selbst Analysefälle zu übernehmen. Er war zur Gründung einer eigenen selbstregierten freien Schule entschlossen und suchte nach geeignetenGebäuden. Aus den Erfahrungen der King Alfred School hatte er gelernt, dass radikale Selbstregierung in einer Tagesschule nicht zu realisieren ist, da dort ein zu großer Teil des Lebens der Kinderselbstregierung entzogen ist.

Von Lanes Grundannahmen ausgehend baute Neill nun seine Vorstellungen publizistisch aus. Seine Bücher hatten beachtliche Auflagen (A Dominie Dismissed z.B. 36.000 innerhalb von fünf Jahren). Auch die humoristischen, nicht pädagogischen Bücher Neills wurden positiv aufgenommen: die lustige Geschichte eines schottischen Dorfes The Booming of Bunkie erschien 1919, die autobiographisch gefärbte Geschichte Carroty Broon 1921. Es schien noch offen, ob er eher ein pädagogischer oder ein humoristischer Schriftsteller war.

Neill nahm das Angebot von Beatrice Ensor an, mit ihr zusammen die im Januar 1920 erstmals erschienene reformpädagogische Zeitschrift New Era herauszugeben. Ab dem Juliheft 1920, das er praktisch allein gestaltete, war er Mitherausgeber. Er hatte freie Hand, hielt viele Vorträge, besuchte praktisch sämtliche fortschrittlichen Schulen und verbreitete von Anfang an deutlich seine radikalen Erziehungsvorstellungen. Seine Artikel und Vortragsreisen über Psychoanalyse und Erziehung riefen äußerst heftige Proteste und Diskussionen hervor.

Die Reform-Pioniere waren sich einig in der Ablehnung der Drill- und Zwangs- Erziehung, an der die Erfahrung des brutalen und im nachhinein ziemlich unsinnigen Weltkrieges mit Millionen Toten zusätzlich deutliche Zweifel geweckt hatte. Man forderte ganz allgemein Individualisierung, Freiheit, Demokratie, Selbstregierung, Selbstentwicklung, Toleranz zwischen den Nationen wie in der Erziehung. Doch die Mehrzahl der Reformpädagogen meinte angeleitete und begrenzte Freiheit im Rahmen der bestehenden Moral und der guten Sitten, von Geschmack und Anstand, nach den fertig vorgegebenen Standards und Idealen. In der Praxis hieß dies z. B., dass Kinder sanft gezwungen wurden, sich nicht so sehr mit der Populärkultur (Charlie Chaplin, Limericks und Foxtrott-Musik), sondern mehr mit ernster, hoher Kunst von Goethe, Blake, Beethoven etc. zu befassen.

Neill benutzte dieselben Vokabeln Freiheit und natürliche Entwicklung wie die große Mehrheit der reformistischen Reformpädagogen, allerdings in einem radikaleren, revolutionären Sinn. Er verwarf jede Erziehung nach oder zu (von außen) vorgegebenen Idealen wie Moral, gutem Geschmack, höherer Kultur und den üblichen Missbrauch der Selbstregierung als Mittel zur Durchsetzung vorher feststehender pädagogischer Ziele des Erziehers. Und er verwarf ebenso alle Autorität, Strafen und Gehorsam, sofern sie nicht auf freiem gegenseitigen Übereinkommen beruhten.

Die Gegensätze zwischen Neill und B. Ensor wurden besonders bei der Beurteilung der Pädagogik Maria Montessoris deutlich. Die New Era berichtete in jeder Nummer über Montessori und propagierte Montessoris Ideen.

Die Freiheit des Kindes ist ein zentrales Prinzip bei Montessori: Es gibt keinen Stundenplan, die Kinder können sich frei bewegen, sollen nicht von Erwachsenen dominiert werden, sondern sind frei, einen Apparat zu benutzen oder nicht, an einer Lektion teilzunehmen oder nicht, ihre Arbeit zu beenden oder nicht.

Lane und Neill kritisierten Montessori leidenschaftlich wegen der mit ihrem Freiheitssystem verbundenen massiven Freiheitsbeschränkungen, der Beschränkung der Freiheit auf den Intellekt, bei Ignorierung und Unterdrückung der (nur störend wahrgenommenen) unbewussten Motive, Emotionen und kreativen Impulse des Kindes: Spiel, Phantasie,Kunst und Poesie. Die Benutzung der didaktischen Apparate ist nur für ihren jeweils intendierten>Zweck erlaubt: Das Kind darf damit in der vorgeschriebenen Weise arbeiten, aber nicht spielen, und muss dabei ruhig und ordentlich sein. Neill kritisierte die Absicht, Kinder und ihre Umgebung zu kontrollieren, und betonte, dass Lautstärke ein für Kinder notwendiger Ausdruck von Kraft und Macht (power) sei und nicht verboten werden solle. Montessoris alles durchziehende Moralität und religiöse Haltung, ihre festen Vorstellungen von moralisch richtig und moralisch falsch stießen Neill ab. Für ihn war sie bloß eine italienische Kirchenfrau und Charakterformerin, und dies war die schlimmste Verurteilung, die er kannte.

Beatrice Ensor hielt Neill entgegen, dass alle Menschen von der Umwelt beeinflusst seien und es keine vollkommene Freiheit, keinen reinen Selbstausdruck gebe. Der Erzieher müsse darum die richtigen Anregungen und die richtige Umgebung und Umwelteinflüsse sorgfältig, gezielt pädagogisch auswählen. Neill sah darin jedoch nichts anderes als gezielte Charakterformung.

Neill genoß den durchaus freundschaftlichen Ideenstreit mit B. Ensor, die - auch wenn sie anderer Meinung war - seine radikalen Artikel sehr schätzte. Obwohl ihm dieArbeit gefiel, war ihm von Anfang an klar, dass er bei der Zeitung nicht lange bleiben wollte: Er wollte endlich seine eigene freie Schule gründen. Im Januar-Heft 1923 beendete B. Ensor aufgrund der überdeutlichen Auffassungsunterschiede, und weil Neill sowieso in Deutschland blieb, dessen Mitherausgeberschaft.

Ende Juli 1921 bis Anfang August nahm Neill an der Konferenz über den kreativen Selbstausdruck des Kindes in Calais teil. Auf dieser Konferenz wurde auf Initiative von E. Rotten, A. Ferrire (Genf) und B. Ensor (London) die New Education Fellowship gegründet (NEF; Weltbund für die Erneuerung der Erziehung, seit 1966 World Education Fellowship), der bedeutendste internationale Verband der Reformpädagogik. Als Mitglied galt jeder Abonnement der New Era. Mitherausgeber Neill war daher ein herausragendes Gründungsmitglied. Sein Vortrag dort über die Abschaffung der Autorität erschien vielen als libertär-anarchisch.

Die New Era war das offizielle Organ der NEF, seit 1922 erschien auch eine französische Ausgabe Pour l'Ere Nouvelle von Adolphe Ferrire in Genf und eine deutsche Ausgabe Das Werdende Zeitalter von Elisabeth Rotten (ab 1926 zusammen mit Karl Wilker). Neill nahm auch später an den alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Tagungen der NEF teil.

Nach der Konferenz in Calais hielt er in Salzburg auf einer von der Women's International League for Peace and Freedom organisierten Konferenz über Psychologie, Erziehung und Politik eine (nicht überlieferte) Rede und reiste dann nach (Dresden-) Hellerau.