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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (2. Leben und Werk A.S. Neills)
Fortsetzung (2.6 1924-1940: Summerhill in Lyme Regis, seit 1927 in Leiston)


2.5 1921-1924: Schulgründung auf dem Kontinent - Dresden-Hellerau und Sonntagberg

Seine schon seit Jahren geplante freie selbstregierte Schule gründete Neill schließlich 1921 in Deutschland, in der Gartenstadt Dresden-Hellerau.

2.5.1 Schulen der Gartenstadt Hellerau

Das genossenschaftssozialistische Gartenstadtkonzept von Ebenezer Howard bezweckte die Gründung neuer Städte auf bisherigem Agrar- oder Ödland, wobei der Spekulationsgewinn bei der Umwandlung in Bauland einen großen Teil der Baukosten tragen sollte. Umfangreiche öffentliche Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen waren geplant. Da sämtlicher Grund und Boden genossenschaftliches Gemeineigentum der Bewohner sein sollte, kam dies einer friedlichen Bodenreform gleich. Mehrere politisch selbstständige Teil-Städte sollten, durch breite Agrargürtel voneinander getrennt und durch Eisenbahnen verbunden, zusammengenommen eine Viertelmillionenstadt ergeben. Dazu ist es nirgends gekommen. Howard gelang jedoch die Gründung der nördlich von London gelegenen (Teil-)Städte Letchworth (1903) und Welwyn (1920).

Die erste und zugleich radikalste Verwirklichung dieses Konzeptes in Deutschland war die ab 1906 geplante und ab 1909 gebaute Gartenstadt Hellerau, ein Vorort Dresdens.Anlass und treibende Kraft war der Wohnungsbedarf durch die auf der Heller-Au errichteten Deutschen Werkstätten. Gartenstadt, Deutsche Werkstätten und Deutscher Werkbund waren rechtlich völlig unabhängig, faktisch und personell aber engstens verzahnt. Die für die Firma tätigen bedeutenden Werkbund-Künstler gestalteten auch die Gartenstadt: Richard Riemerschmid, Hermann Muthesius, Heinrich Tessenow u.a. So wurde Hellerau fast zwangsläufig ein Zentrum aller kulturellen Reformbewegungen in Deutschland und Muster- und Versuchssiedlung für Gesellschaftsverbesserung aller Art.

Von Anfang an wurde das Schulwesen mitgeplant, wobei sämtliche Bildungseinrichtungen durch enge Zusammenarbeit ein eigenes integriertes Schulsystem bilden sollten: öffentliche Volksschule, eine neusprachlich- naturwissenschaftliche Höhere Knaben- und Mädchenschule, die Lehrwerkstätten der Deutschen Werkstätten mit integrierter Berufsschule. Tatsächlich arbeiteten sämtliche Bildungseinrichtungen nach betont modernen (reformpädagogischen) Grundsätzen engstens und freundschaftlich zusammen, übernahmen füreinander wechselseitig Teile des Unterrichts, aber auch der Verwaltung. Der musikalische Unterricht dieser Schulen sollte von Anfang an ausdrücklich auf der Rhythmischen Gymnastik nach Jaques-Dalcroze aufbauen.

Wolf Dohrn, zugleich Sekretär des Deutschen Werkbundes und Bauleiter der Gartenstadt, wandte fast sein gesamtes Vermögen auf, um 1910-1912 durch den jungen Architekten Heinrich Tessenow (der dadurch bekannt wurde) die Bildungsanstalt erbauen zu lassen, ein von zugehörigen Wohngebäuden umgebenes Schulgebäude, auch Festspielhaus genannt. Auf die große Bedeutung der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze und ihres Gebäudes für die Reform des Theaters, des Theaterbaus, der Bühnendekoration, des Tanzes, des Balletts und der Oper kann hier nicht weiter eingegangen werden. Emile Jaques-Dalcroze übersiedelte daraufhin 1910 mit seiner Schule nach Hellerau, da seine Methode in diesemReformort den größten volkserziehenden Einfluß haben würde. Er bildete Tanz- und Musiklehrer und vor allem -lehrerinnen aus.

Die von Jaques-Dalcroze entwickelte Rhythmische Gymnastik zielte nicht auf irgendwelche Turnübungen, sondern scheint eher mit körperorientierten Psychotherapieverfahren vergleichbar (obwohl sie sich keineswegs als solche verstand!). Dabei ging es ganz betont um Spontanität, um das Wiederentdecken und Erleben des eigenen Körpers und Körpergefühls, um Selbstbestimmung von-innen-heraus, um Phantasie und Improvisation selbst noch bei der öffentlichen Aufführung, aber auf gar keinen Fall (!) um einstudierte Übungen. Diese betonte Befreiung mag die Begeisterung für die Methode erklären.

Rhythmische Gymnastik wird im Englischen (z.B. in Neills Schriften) stets als eurhythmics bezeichnet, die Rückübersetzung ins Deutsche (Eurhythmie) bewirkt meist eine Verwechslung mit der anthroposophischen, Steiner'schen Abwandlung dieser Methode. Hier ist damit stets Rhythmische Gymnastik nach Jaques-Dalcroze gemeint!

Schulleben und Lernen waren sehr weitgehend selbstbestimmt und sehr (!) international, es gab etliche Zweiganstalten im In- und Ausland, bemerkenswert sind dabei die Verbindungen zu reformpädagogischen Schulen: die Zweiganstalt in der Berthold-Otto-Schule Berlin-Lichterfelde und Kurse in Wickersdorf und in Bedales/England. Man hätte kaum eine noch kosmopolitischere Schule finden können. Trotzdem wurde der fast vergötterteJaques-Dalcroze (ein Schweizer) zu Beginn des Weltkrieges von seinen eigenen Anhängern aus nationalistischen Gründen vertrieben, woraufhin die Schule schloß.

Paul Geheeb, der Linksaußen der Landerziehungsheimbewegung, hatte 1906 gemeinsam mit Gustav Wyneken die koedukative Internatsschule Freie Schulgemeinde Wickersdorf gegründet, die von der wöchentlichen gemeinsamen Vollversammlung der Schüler und Lehrer geleitet wurde. Nach Streitigkeiten mit Wyneken verließ er Wickersdorf und verhandelte im Sommer 1909 eine Weile erfolglos mit der Gartenstadt Hellerau wegen des dort von Anfang an eingeplanten Landerziehungsheims. Er gegründet dann aber 1910 mit seiner Frau Edith im Odenwald die Odenwaldschule.

Die 1913 in den Landhäusern am Moritzburger Weg (zwischen der Fabrik der Deutschen Werkstätten und der Straße Am Grünen Zipfel) eröffnete private Heim-Schule (Ostern/1.April 1913, zugehöriges Schulheim im Herbst 1913) verstand sich nur als aus der Idee der Landerziehungsheime hervorgegangen und orientierte sich von Anfang an an Paul Geheeb.

Diese naturwissenschaftlich-neusprachliche Deutsche Schule (Schultyp, im Gegensatz zur Lateinschule) war - insbesondere zur Zeit des Kaiserreiches - ein äußerst modernes Unternehmen, sowohl was die Unterrichtsinhalte und -methoden betrifft (Realien, neue Sprachen; Betonung kreativer Fächer, Selbsttätigkeit, Arbeitsschule), als auch die allgemeine Erziehung (Koedukationsschule mit geschlechtsgemischtem Heim (!), kameradschaftlicher Umgang, psychologische Orientierung, Individualisierung). Knaben und Mädchen arbeiteten, spielten und aßen gemeinsam, wohnten aber getrennt.

Erklärte Ziele der mit 66 sechs- bis fünfzehnjährigen Knaben und Mädchen in sechs Klassen eröffneten Schule waren: psychologisch vertiefte Arbeitsschule mit kleinen Klassen (bis 10 Schüler) ohne jeden Schematismus, moderne Unterrichtsmethoden, Schülerselbsttätigkeit, die Betonung kreativer Fächer: Zeichenunterricht nach Cizek (Zeichnen ist Ausdrucksmittel!), Rhythmische Gymnastik, Gartenbau, experimentelle Naturwissenschaften, mehrtägige Schulreisen. Man betont, dass man den Schülern nicht die als gefürchteten Herren Lehrer gegenüberstellen will.

Die seit Januar 1914 nahe der Bildungsanstalt erbaute öffentliche Volksschule wurde in der Weimarer Republik eine der bedeutenden Reformvolksschulen und wurde durch Veröffentlichungen ihrer Lehrer Max Nitzsche und Willy Steiger bekannt.

Die schon 1916 als Neue Schule für angewandten Rhythmus wiedergegründete frühere Dalcroze-Schule wurde nach dem Krieg in anderer Form wiedereröffnet durch die schon zuvor dort lehrende Amerikanerin Christine Baer-Frissell. Diese Rhythmik-Schule fusionierte bald mit dem im Weltkrieg stark geschrumpften Landerziehungsheim und seiner Schule.

Die in den Besitz eines neugegründeten Trägervereins Schulverein Hellerau übergegangene, nun ebenfalls Neue Schule genannte Schule des Landerziehungsheims wurde Ostern 1920 mit dem Schulleiter Dr. Carl Theil wiedereröffnet. Dabei zog sie mit in die Bildungsanstalt, das Schulheim zog ins gegenüberliegende große Pensionshaus. Einzelheiten bleiben unklar, der Charakter der Schule änderte sich offenbar nicht. Geldmangel herrschte bereits vor der Eröffnung.

Schule und Schulheim wurden vom Schriftsteller Peter de Mendelssohn beschrieben, dessen Elternhaus zwischen den Gebäuden des Landerziehungsheim lag, und der selbst die Schule besuchte. Seine Eltern waren eng mit Paul Geheeb befreundet:

    "Hellerau war ein Sproß der Odenwaldschule.

    Es lebte aus ihrem Geist und übernahm ihre pädagogischen Prinzipien. Carl Theil, ein hochgewachsener Mann mit einem rötlichen Knebelbart, der eines Tages als Leiter der neuen Schule bei uns erschien, war ein ehemaliger Mitarbeiter Geheebs und für uns sein Apostel und Abgesandter. Mit ihm kamen einige Lehrer aus verschiedenen anderen, bewährten Landerziehungsheimen. Bald folgten allerlei Kinder, die vordem in der Odenwaldschule, in Wickersdorf und anderwärts gewesen waren. Mir war diese Welt vertraut. Ich war auf Wanderungen in Wickersdorf, auf Ilsenburg gewesen und hatte Besuchswochen in der Odenwaldschule verbracht. Wyneken und mein Vater kannten einander, und Geheebs engste Vertraute, Alwine von Keller, war meine Tante und wohnte nicht weit von uns in Hellerau im Wald." (DE MENDELSSOHN 1993, 14) ... "dem romantisch-herrischen, Nietzsche und Stefan George anhängenden, in all seiner strahlenden, herzlichen Offenheit so geheimnisvoll-undurchdringlichen Carl Theil" ... "Carl Theil, der auch unser Deutschlehrer war und den wir über alles verehrten." (DE MENDELSSOHN 1993, 14, 26)

2.5.2 Neills Schulgründungspläne

Ada Lilian Sydney Lindesay-Neustätter (* 28.4.1871), die spätere erste Ehefrau Neills, war 1887 nach dem Tod des Vaters mit Mutter und Schwester von Australien nach Leipzig ausgewandert. Sie heiratete den Augenarzt Dr. Otto Neustätter.

Ihre in London lebende ältere Schwester, Ethel Florence Lindesay-Richardson (1870-1946), die unter dem Pseudonym Henry Handel Richardson Romane schrieb, gilt als die bedeutendste australische Novellistin. Zu ihr nach London schickten die Neustätters ihren 1903 geborenen einzigen Sohn Walter (bzw. Wally) Lindesay Neustätter, damit er dort die äußerst fortschrittliche (Koedukation!) King Alfred Schule besuchen sollte. Neill wurde sein Klassenlehrer. Walter wurde Psychiater, verfasste zwischen 1937 und 1958 mehrere psychiatrische Fachbücher und eröffnete Mitte der 30er Jahre in Aldeburgh (etwas südlich von Summerhill) die Internatsschule Sun Lodge, die nicht lange bestand. 1957 bezeichnete er sich als Direktor der New Sherwood School und psychiatrischen Berater der Orts-Schulbehörde. Seine Tochter Angela Neustätter ging später gemeinsam mit Zoë Neill zur von Paul Geheeb geleiteten École de l'Humanité.

Ada Lilian Lindesay-Neustätter war eine sehr aktive und militante Feministin (Suffragette), beteiligte sich an Protestmärschen für das Frauenstimmrecht, unternahm während ihrer zweimonatigen Gefängnisstrafe (weil sie das Fenster eines Postamtes mit dem Hammer eingeschlagen hatte) einen Hungerstreik, und kehrte nach der Entlassung nach Dresden zurück.

Beim Englandbesuch bei Sohn und Schwester wurde sie 1914 vom Kriegsausbruch überrascht und blieb auch noch eine Weile nach dem Krieg bei ihrer Schwester in London, wo sie Neill als Klassenlehrer ihres Sohnes kennenlernte. Nachdem der Plan Neills und Frau Neustätters, gemeinsam eine freie Schule zu gründen, 1919 am Geldmangel gescheitert war, kehrte Frau Neustätter nach Dreden-Hellerau zu ihrem Ehemann zurück. Sie war von 1921/22 bis zu ihrem Tod gemeinsam mit Neill Gründerin und Mitleiterin der Neuen Schule und Summerhills. Obwohl sie in Neills Büchern kaum auftaucht, spielte sie bei der Gründung und Leitung der Schule eine mindestens (!) ebenso große Rolle wie Neill. Nach der freundschaftlichen Scheidung von Otto Neustätter heiratete sie 1927 Neill. Sie starb nach einem Schlaganfall 1944 im Hospital in Wales.

Otto Neustätter (*1870) war zunächst Augenarzt. Seit 1909 bereitete er die 1911 stattfindende Internationale Hygieneausstellung Dresden wissenschaftlich vor und wurde im 1912 daraus entstandenen Deutschen Hygienemuseum (bis zur inflationsbedingten Stilllegung wohl 1923) Direktor der historisch-ethnologischen Abteilung. Danach war er vermutlich kurze Zeit Ministerialbeamter im sächsischen Gesundheitsministerium Dresden und entwickelte sich dann in unterschiedlichsten Positionen zum bedeutenden und erfolgreichen Gesundheitserziehungs-Manager. Er war Vorstandsvorsitzender der von Neill mitbegründeten Neue Schule AG.

Seit 1920 suchte Neill allein nach einen Ort für seine zukünftige freie Schule, zunächst in England, dann in Holland. Im April 1921 bedankte er sich in der New Era für eine großzügige Spende zur Gründung seiner geplanten selbstregierten Schule. Es war wohl kein Zufall, dass Neill im August 1921, in dem Moment, in dem er erstmals wirklich zur Schulgründung in der Lage war, ausgerechnet zu Frau Neustätter nach Hellerau reiste.

Offiziell fuhr er nach Hellerau, um eine geplante Artikelserie für die New Era über deutsche Neue Schulen (ausgerechnet) mit der Beschreibung der (ziemlich unbekannten) Schule in Hellerau zu beginnen, die nur wenige hundert Meter von Neustätters Haus (Auf dem Sand 19, wo auch Neill wohnte) entfernt lag und an der Frau Neustätter möglicherweise mitarbeitete. Der Artikel war wohl nur ein Vorwand, dessen sich Neill auch demonstrativ (!) lässig entledigte, denn er war ganz offenbar sehr viel mehr an Urlaub und seinen eigenen Schulplänen interessiert. Neill äußerte mehrfach, er habe die freie internationale Schule eigentlich in Österreich gründen wollen. Frau Baer oder Frau Neustätter überredeten ihn aber (falls das noch nötig war), seine Schule in Hellerau zu gründen.

Pläne zur Erweiterung der von Christine Baer-Frissell geleiteten Rhythmik-Schule und des damit verbundenen Landerziehungsheim (teils Internat, teils Externat) um eine dritte Abteilung für Ausländer in dem ungenutzten einen der beiden Flügel des Gebäudes waren an der großen Finanznot der Nachkriegszeit gescheitert. Neills 400£ in harter Währung waren damals ein beträchtliches Kapital und kamen gerade recht, außerdem fehlte Neill die zum Führen einer Schule notwendige Konzession.

Schon 1915 hatte Neill in A Dominie's Log die Gründung einer Schule für Rhythmische Gymnastik erwogen. Die Hellerauer Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik, an der er nun Kurse nahm, begeisterte Neill ebenso wie die damit verbundene Neue Schule mit Selbstregierung und viel Freiheit. Neill beschrieb beide Zweige der Schule enthusiastisch im Brief, den B. Ensor im Oktoberheft 1921 der New Era abdruckte als alles, was sie dem Mitherausgeber habe entlocken können. Darin macht Neill auch sein Desinteresse an anderer Tätigkeit deutlich und warnte, dass er vor seiner Rückkehr nach London erst einen vollen [d. h. dreijährigen] Kurs in Rhythmischer Gymnastik absolvieren wolle. Tatsächlich blieb er in Hellerau. Das riesige Jing- und Jang- Zeichen auf den Hauptgiebeln der Bildungsanstalt blieb bis heute auch das Schulabzeichen der Summerhill-Schule.

    "Mein Aufenthalt in Hellerau war die aufregendste Zeit meines Lebens. Zum erstenmal kam ich mit den verschiedenen Nationalitäten des Kontinents in Berührung. Ich sprach kein Wort Deutsch. Als ich meinen ersten englischen Schüler herüberholte, den achtjährigen Derrick, versuchte ich gerade mit Hilfe von Hugo's Tutor Deutsch zu lernen." (NEILL 1982, 146)

Grundsätzlich stimmten zunächst alle Beteiligten überein, aus der von Carl Theil geleiteten Neuen Schule (mit den im Schulheim lebenden 40 auswärtigen Schülern), in der Neill bereits Englisch lehrte, der Neuen Schule für angewandten Rhythmus unter Christine Baer-Frissell und der von Neill geplanten Schule gemeinsam eine neue größere Schule zu bilden. Neill, dem später so oft Isolationismus und Inselpädagogik vorgeworfen wurde, wollte die Schule zum Zentrum Helleraus machen, wo die Bewohner abends werken, Psychologievorträge hören, Filme sehen oder Bücher lesen könnten - so wie bereits viele an Rhythmischer Gymnastik teilnahmen.

Die Vorstellungen Neills und Christine Baer-Frissells stimmten offenbar gut überein, gemeinsam entwarfen sie eine Schule, in der Kinder selbstbestimmt handwerklich und künstlerisch kreativ tätig sein sollten, wo alle Tätigkeiten vor allem selbsttätig und kreativsein sollten, wo man selber Bücher machen sollte, wo man (wie schon in Gretna Green) auch einen Monat mit dem Bau eines Bootes verbringen können sollte. Mit etwa vierzehn Jahren sollten die Schüler einen der drei folgenden Zweige wählen (NEILL 1923a, 65 f.):

  • Künstlerischer Zweig (Art): Kunst, Malen, Zeichnen,
  • Handwerken (craft) mit Metallbearbeitung, Holzbearbeitung, Buchbinden, Weberei, Töpfern, etc.
  • Rhythmische Gymnastik mit den dazugehörigen Fächern Körperplastik, Musik, Improvisation, Theaterspiel etc.
  • ein vierter, wissenschaftlicher Zweig (science) wäre zu teuer geworden und erschien den beiden am ehesten verzichtbar, da es sowieso zuviel intellektuelle Bewusstseins-Erziehung gebe und zuwenig kreative, das Unbewusste freisetzende Erziehung. Der Verzicht auf diesen Teil war zweifellos für das Landerziehungsheim völlig unakzeptabel.

Bald zeigten sich die unüberwindlichen prinzipiellen Unterschiede zwischen Neills Auffassungen und denen der bisherigen Schule. Zunächst versuchten sie sich zu arrangieren und die Meinungsverschiedenheiten auszuräumen. Noch im Januar 1922 stellte NEILL (1922a) seine gemeinsam mit Dr. Theil und Christine Baer geplante Internationale Schule in einem Artikel der New Era vor. Eine Einigung auf gemeinsame Grundsätze für eine gemeinsame Schule war den radikalen Vertretern ganz unterschiedlicher Richtungen aber unmöglich: Im Februar 1922 endeten ihre Verhandlungen. Eine Weile suchte man noch eine Kompromissformel für die Zusammenarbeit in zwei nebeneinander bestehenden, unterschiedlichen Schulen, denn die Deutsche Schule besaß die notwendige Konzession, ohne die die Schule nur ausländische Kinder hätte unterrichten dürfen, und benötigte das Geld der anderen Gruppe (NEILL 1923a, 119 f.).

2.5.3 Konflikte mit den Geheeb-Lehrern

Die Neue Schule Hellerau orientierte sich an der Odenwaldschule, die (mit Recht!) als die modernste, pädagogisch fortschrittlichste und radikalste Neue Schule in Deutschland galt. Neill hielt die Pädagogik in Deutschland für weiter fortgeschritten als die englische, und ihm war bewusst, dass er es mit einer der modernsten Schulen in Deutschland zu tun hatte. Er schätzte Paul Geheeb sein Leben lang und schickte später seine einzige Tochter Zoë in Geheebs Internatsschule.

Doch diese Wertschätzung konnte die prinzipiellen Gegensätze nicht aufheben: Dem gelernten Theologen Geheeb ging es um Ideale, Werte, Moral, Ethik und Askese, für ihn war die Kultur eine Art innerweltliche Religion. Er wollte charismatische Autorität und Führer zu vorgegebenen (letztlich metaphysischen) Idealideen sein, wenn auch in kameradschaftlichen Formen, und wünschte und erwartete eine Zustimmung zu diesen Idealen und freiwillige persönliche Gefolgschaft. Dies schränkte die propagierte Freiheit und Selbstbestimmung in gewisser Weise ein. Er übte zwar keine gewaltsame Zwangsautorität aus, wohl aber geistige Autorität (Autorität im lateinischen Wortsinn, im Gegensatz zur gewaltsamen Potestas).

Ein ehemaliger Schüler erinnerte sich in ähnlicher Weise an den Schulleiter Carl Theil:

    "Er war wohl ein Tyrann, ein Mann, der uns Kinder mit seiner starken und unbedingten Persönlichkeit völlig in seinen Bann schlug und schrittweise einen wirklichen Konflikt zwischen seiner persönlichen moralischen und ethischen Autorität und der unserer Elternhäuser schuf. Wir Kinder wollten und konnten uns ihm nicht entziehen. Wir waren ihm verfallen und hörig und gerieten in Aufruhr gegen das Vaterhaus.

    Das ist eine Erscheinung, die allen Landerziehungsheimen eigentümlich ist. Die Schüler Wynekens in Wickersdorf, Geheebs in der Odenwaldschule, Luserkes in der Schule am Meer, Kurt Hahns in Schloß Salem durchlebten unter diesen so verschiedenartigen 'Führerpersönlichkeiten' den gleichen Konflikt." (DE MENDELSSOHN 1993, 19 f.)

Die deutschen (Geheeb-) Lehrer wurden von Neill als jugendbewegte Idealisten in Wandervogelkleidung beschrieben, als hochgebildete, durchgeistigte, stets ernste, puritanischen Asketen, als Charakterbildner, die alles auf erzieherischen Wert hin prüften und vom Lehrer die völlige Selbstaufopferung für die Kinder forderten und Alkohol, Tabak, Kinos und Foxtrott verabscheuten. Neill bezeichnete sie als moderne Mönche und Selbstbestrafer, die bewusst die eigenen Wünsche unterdrückten, unbewusst aber danach lechzten und sie darum umso schärfer und lauter in anderen ablehnten und bekämpften. In Schulen gelehrt, schien Neill ein solcher Wandervögelism gefährlich.

Neill bezeichnet die Zusammenarbeit der Schulen als unmöglich, weil die Erziehungsprinzipien direkt entgegengesetzt waren: Laut Neill waren sie an der Erziehung interessiert, er selbst aber an den Kindern.

    "Die Deutsche Freie Schule war auf Philosophie gegründet, meine auf Psychologie. Sie glaubten vor allem an Kultur und Ästhetizismus, ich glaubte vor allem an Charlie Chaplin und Foxtrott-tanzen." (NEILL 1924, 8; Übersetzung von mir).

    Neill forderte Freiheit für alle und damit auch ein Privatleben für Erzieher ein. Die Kinder sollten begreifen, dass Lehrer keine Führer zu vorgegebenen, richtigen Idealen und zu gutem Benehmen, keine idealen gottähnlichen Vorbilder sind. Er wollte es unter allen Umständen vermeiden, zu objektiven Werten (etwa einer vorgegebenen Kultur) hin zu erziehen. Andererseits wollte er auch die Kinder ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Idealen leben lassen. Sein unordentliches Zimmer sowie Biertrinken und Pfeiferauchen im Schulheim wurden zu Prinzipienfragen:

      "Der Lehrer hatte ein Vorbild zu sein. Einige unserer Lehrer rauchten, aber wenn ein Kind in der Nähe war, versteckten sie ihre Zigaretten oder Pfeifen. Ein Lehrer lehnte es ab, ins Kino zu gehen - das wäre ein schlechtes Beispiel für seine Schüler. Die Lehrer hatten einen Arbeitsfimmel." (NEILL 1970b, 14)

    Neill bestand darauf, dass ein Lehrer, der Bier mag, es öffentlich trinken darf und soll, und dass alles andere eine dumme Lüge sei. Die Kinder dürften ihr eigenes Leben leben, und die Erwachsenen müssten es ebenso dürfen!

    Die Schulgemeinde (= Selbstregierungs-Versammlung) aus allen Erwachsenen und Kindern war ein wesentliches Element des Landerziehungsheims und spiegelte den heftigen Richtungsstreit der Erwachsenen wieder: Es ging um gute Sitten (anklopfen, beim Mittagessen warten, bis jeder Suppe hat) und um die thematisch und ästhetisch richtigen Bilder für die Schule. Andererseits wurden auch individuelle Freiheitsrechte der Schüler verteidigt: Ein Lehrer hatte 30 Grashüpfer und drei Eidechsen in einer kleinen Pappschachtel gefunden und sie freigelassen. Die Versammlung entschied, dass die Tierquälerei unzulässig war, der Lehrer aber nicht selbstherrlich in das Privateigentum der Schüler eingreifen durfte, sondern den Schüler hätte warnen müssen, damit dieser für bessere Quartiere sorge. Die Versammlung beschloß, dass - mit Ausnahme des Aquariums des kleinen Eddie - keine Tiere in den Schlafräumen gehalten werden dürfen.

      "Es war faszinierend zu sehen - oder zu spüren [...] - wie die mystische Autorität, die auf uns Kinder von Carl Theil ausstrahlte, mit dem kühnen Pragmatismus des aller Metaphysik abholden schottischen Erziehers zusammenfloß." (DE MENDELSSOHN 1993, 54, vgl. 14 f.)

    2.5.4 Übernahme der Neuen Schule 1922

    Fast alle Informationen zu Neills Internationaler Schule stammen letztlich von Neill selbst und sind deshalb einerseits mengenmäßig sehr beschränkt und andererseits häufig sehr unpräzise, schwer prüfbar und sehr mühsam datierbar.

    Um Schüler zu werben, hatte Neill Ende 1921 einen englischsprachigen Schulprospekt International School Hellerau/Dresden produziert und darin erwähnt, er sei seit August 1921 ein Direktor der Dalcroze-Schule, die Internationale Schule habe aufgrund des Beitritts der von Dr. Theil geleiteten Schule 110 Schulkinder und 50 Rhythmikstudenten, Frau Neustätter leite das Schulheim. Diese auch später von Neill aufrechterhaltene und in der Sekundärliteratur wiederholte Darstellung entspricht zwar dem damaligen Stand der Planungen, ist aber so nie umgesetzt worden. Strenggenommen hat es die Internationale Schule Hellerau nie gegeben, sie ist lediglich Neills Bezeichnung für die Neue Schule Hellerau. Dies wird z.B. deutlich in der Spendenbitte Neills für "our International School in Hellerau" in der New Era, "Address: A. S. Neill, Neue Schule, Hellerau, Dresden, Germany" (THE RUHR OCCUPATION, 1923). Auch in der Schul-Zeitschrift Hellerauer Blätter der Neuen Schule taucht der Name Internationale Schule ausschließlich bei Neill auf, ansonsten heißt es 1922/23 Dalcroze-Schule, Neue Schule, einmal in einer Aufzählung auch Ausländerschule. Neill verwendete den Namen regelmäßig so, als sei er der offizielle Name (Artikel, Schulprospekt, Briefpapier), meistens für die gesamte Schule, manchmal aber auch nur für die Ausländerabteilung. Als Gründungsjahr der Internationalen Schule gab Neill stets 1921 an, bezeichnet also seine (wohl mündliche) Absprache mit Christine Baer bzw. seinen Eintritt als Lehrer in die Neue Schule bereits als Schulgründung.

    Die tatsächliche formelle Schulgründung erfolgte urkundlich nachweisbar am 13.2.1922, als sieben Personen die gemeinnützige Neue Schule Aktiengesellschaft gründeten und (laut Notariatsprotokoll der Gründung) 400 Aktien à 1000 Mark verteilten:

      61,0% übernahm das Ehepaar Baer- Frissell 32,5% übernahm Neill 5,5% übernahm das Ehepaar Neustätter 1,0% übernahmen Valerie Kratina und Prof. Freund, die beiden Abteilungsleiter der Rhythmik-Abteilung.

    Für diese Verteilung dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass die Amerikanerin Christine Baer-Frissell und der Brite Neill über harte Währung verfügten. Neill und die beiden Rhythmik-Lehrer waren an der Verwaltung der AG offenbar nicht unmittelbar beteiligt. Auffällig ist, dass zum Vorstand und Aufsichtsrat neben Otto Neustätter und Christine Baer auch der Schulleiter der Volksschule Hellerau, Max Nitzsche, sowie Bruno Schönfelder als Generalbevollmächtigter des Gebäude-Besitzers gehörten, aber kein Vertreter der Deutschen Schule. Die Verhandlungen mit der Deutschen Schule waren also bereits gescheitert und der Plan einer gemeinsamen Schule aufgegeben.

    Die Deutsche Schule hatte von ihrer Gründung an erhebliche Geldprobleme und stand ständig am Rande des Bankrotts. Als der finanzielle Ruin der pädagogisch florierenden Schule unmittelbar bevorstand, musste die Schule (wohl zum Schuljahresbeginn im April 1922) an Neill und Christine Baer-Frissell übergeben werden. Die alten Lehrer wurden entlassen, wohnten teilweise aber noch einige Monate weiter auf dem Schulgelände in den schuleigenen Wohngebäuden. Die deutschen Eltern (der Elternverein war Schulträger) und Schüler waren deutlich unzufrieden damit, dass zwei Ausländer ihre Schule drastisch veränderten und das deutsche Personal ausbooteten.

    Im Januar 1922 hatte Neill von seiner Britannienreise seinen vorerst einzigen ausländischen Schüler mitgebracht, den achtjährigen Derrick, der zunächst ebenfalls mit bei den Neustätters wohnt. Er war der streng erzogene Sohn eines sehr an Psychologie interessierten Arztehepaares, das auch Neills Bücher gelesen, seine Überzeugung geändert und Derrick völlige Freiheit gelassen hatte. Der verhielt sich daraufhin extrem ungezügelt, hatte plötzliche unkontrollierte Temperamentsausbrüche und keinerlei Eigentumsvorstellung. Er war eine Plage, die Neill's Toleranz ausgiebig testete. Derrick verließ die Schule achtzehnjährig, nachdem er die Zulassungsprüfung für die Universität bestanden hatte, und hielt lebenslang Kontakt mit Neill. Die Geschichte Derricks (unter dem Pseudonym David) und Neills Behandlung durchziehen Neills Buch über die Zeit in Deutschland und Österreich A Dominie Abroad (NEILL 1923a).

    Die Eheleute Neustätter lebten in freundlichem Einverständnis, hatten sich während der kriegsbedingten Trennung aber einander entfremdet. Frau Neustätter und den 11½ Jahre jüngeren Neill verband ebenfalls eine enge Arbeitsbeziehung, die später sicher zu Recht als unerotisch und unsexuell beschrieben wird (CROALL 1984, 116, 127), anfänglich aber mehr enthalten haben könnte: Erwähnenswert ist Neills durchweg spöttisch abwertende Darstellung seines Freundes (Rivalen?) Otto Neustätter, Neills Bezeichnung dieser Freundschaft als psychischer Selbstbetrug sowie Neills Phantasien über Bigamie zur Zeit der Schulübernahme (NEILL 1923a, 209-226). Franz Kafka, der der Schule 1922 einen Besuch abstattete und sie seiner Schwester in seinen Briefen sehr empfahl, hielt Neill und Frau Neustätter bereits damals für ein Ehepaar.

    Bei der Übernahme der Schule zogen Neill, sein bisher einziger Schüler sowie Frau Neustätter ins Schulheim, das von Frau Neustätter als matron übernommen wurde. Sie besaß enorme praktische Fähigkeiten (Organisation, Finanzen), die Neill fehlten, und wurde die Mutterfigur der ganzen Schule. Bald hatte das Schulheim 80 Bewohner.

    Die Schule eröffnete binnen einer Woche, die Einstellung neuer Lehrer dürfte sich allerdings bis zum Juni 1922 hingezogen haben. Dazu gehörten der Handwerkslehrer Prof. Zutt, Neills Studienkollegin Willa Muir und der neue deutsche Direktor Hermann Harless (* 1887) von der Odenwaldschule. Schon nach drei Wochen verbot das sächsische Ministerium Neill, deutsche Kinder als Lehrer zu unterrichten, da er nur britische Staatsbürgerschaft, Zeugnisse und Lehrerlaubnis besaß: Er musste eine deutsche Englischlehrerin einstellen und unterrichte nun offiziell als Tutor.

    Der neue Direktor Harless war tatsächlich ein überaus moderner, international denkender Pädagoge, der Selbsttätigkeit in allen Formen befürwortete und die Unangemessenheit autoritärer Reaktionen scharf analysierte. Er forderte die Betonung der Erziehung vor der Wissensvermittlung sowie gleichberechtigten, engen persönlichen Kontakt ohne Autoritätsbedürfnis zwischen Schüler und Lehrer. Der Lehrer sollte vor allem wirklich lebendig von seinem Stoff ergriffen sein und diese innere Bewegtheit nach außen ausstrahlen, und den Stoff so zum Erlebnis machen: Die Schüler sollten ihn durchfühlen.

    Doch die Unterschiede zu Neill waren groß: auch Harless ging es letztlich (ausdrücklich) darum, der (kommenden) Kultur und der religiösen Idee ehrfürchtig zu dienen, er kritisierte Neills törichten Freiheitsbegriff. Auch Harless war über die Theologie zur Pädagogik und dann zur Odenwaldschule gekommen, der er auch nach Gründung seines eigenen Landerziehungsheims Marquartstein zeitlebens verbunden blieb. In seinen Schriften legte er starke Wertmaßstäbe an, teilte die Kinder in wertvolle und drittwertige Typen ein, setzte auf strenge Zucht, Autorität, hohe Leistung und verpflichtende Form: wer Kinder dilettieren läßt, versündige sich an Geist und Form. Ein ehemaliger Schüler (DE MENDELSSOHN 1993, 20) beschrieb ihn als nüchternen, weniger tyrannischen Pädagogen, der aber auch nicht die magische faszinierende Wirkung Carl Theils hatte. Bald hatte Neill mit Harless ähnliche Probleme wie mit den deutschen Lehrern zuvor, er berichtete über die Zeit mit Harless (nach dem Währungsverhältnis auf Juli/Anfang August 1923 datierbar):

      "Die Lehrerschaft war ein zusammengewürfelter Haufen. Einige waren Kommunisten und forderten, dass die Schule gemeinschaftlich geleitet werden sollte. Ich hatte mir für etwa eine Million Mark - 15 Shilling in englischem Geld - ein Fahrrad gekauft. Aber es war nie da, wenn ich es brauchte. 'Es soll dem ganzen Kollegium gemeinsam gehören!' Wie ernst diese Deutschen waren! Ich schenkte der ganzen Schule einen Filmprojektor, und es wurde ein Programmausschuss gewählt, der die Filme aussuchen sollte. Als ich besonders dringend Charlie Chaplin empfahl, waren sie schokkiert... 'Aber das hat doch keinen erzieherischen Wert.' So mussten die Kinder dasitzenund sich langweilige Filme über Reisen und Schalentiere ansehen. Ein Film ohne eine pädagogische Aussage galt als nutzlos. Der Leiter der deutschen Abteilung begann seine Ansprache mit den Worten 'Hier arbeiten wir.' Er reagierte verärgert, als ich ihn fragte, warum er seine Rede nicht mit den Worten 'Hier haben wir Spaß' begonnen hätte. Er und ich waren für das Schulheim verantwortlich. Ich hatte das obere Stockwerk, er das untere. Manchmal kam es vor, dass meine Gruppe abends nach Grammophonplatten tanzte, während er unten Goethe oder Nietzsche vorlas. Etliche seiner Schüler schlichen nach einander die Hintertreppe hinauf, um mitzutanzen. Das führte zu Verstimmungen." (NEILL 1982, 148 f.)

      Neill war zumindest seit seiner Bekanntschaft mit Lane ein entschiedener Anhänger radikaler Kinder-Selbstregierung. In der King Alfred School hatte er mit wenig Erfolg nur eine stark eingeschränkte Version erproben können. Unmittelbar nach der Übernahme der Schule in Hellerau, die ihm erstmals alle Möglichkeiten bot, beschrieb NEILL (1923a, 168 f.) drastisch und illusionslos die Unverantwortlichkeit der Kinder-Selbstregierung in Hellerau, die viel redete und anders handelte. Die Kinder redeten über den hohen Wert der Arbeit, wollten sich dann aber nicht daran beteiligen. Sie spielten Fußball, statt den Unterricht zu besuchen, und beklagten sich dann, dass sie zuwenig Unterricht hätten, und beschimpften den Direktor. Neill betonte, die Kinder dürften nicht einfach sich selbst überlassen werden, sie brauchten einen Direktor, der ihre Probleme sieht und der ständig für neue, von ihnen zu lösende Aufgaben sorgt.

      2.5.5 Neills Internationale Abteilung - Abwendung vom Unterricht

        "Wir hatten drei Abteilungen, eine für Rhythmus mit etwa 60 meist erwachsenen Schülern, dies war die ursprünglich von Dalcroze gegründete Schule. Dann hatten wir eine Deutsche Oberschule (German High School) mit 12-köpfigem Personal. Und zuletzt kam meine Internationale Schule, jung und klein. Die Deutsche Schule war nicht kostendeckend. Nach unserer Monatsabrechnung hatte meine Schule mit 13 Schülern Einnahmen von fünf Millionen Mark, während die Deutsche Schule mit hundert Schülern Einnahmen von vier Millionen Mark hatte. Aber obwohl meine Abteilung und die Rhythmik-Abteilung die Deutsche Abteilung unterstützten, gaben wir ihr völlige Autonomie in Erziehungsfragen." (NEILL 1924, 8; Übersetzung von mir. Die Darstellung ist anhand des Währungsverhältnisses auf den Frühling 1923 datierbar.)

      Neills erste Kindergruppe war sehr international: vier Engländer, ein Russe, zwei Belgier, drei Jugoslawen, ein Norweger sowie auch drei Deutsche, die eigentlich in die deutsche Abteilung gehört hätten, von Neill aber psychologisch behandelt werden sollten. Der Jüngste war acht Jahre alt. Fünf der Mädchen waren über fünfzehn und kamen anscheinend mit der plötzlichen großen Freiheit schlecht zurecht (was den späteren Erfahrungen in Summerhill entspricht, siehe Kapitel 3.7).

        "Es war in der Tat eine freie Schule. Wir hatten einen Stundenplan für das Personal. Jeden Morgen um Neun hatte ich eine Mathematikstunde, aber niemand kam je. Frau Doktor3 hatte um Zehn Geografie, und niemand versäumte je ihren Unterricht; durch Beschluß der Schulgemeinde (Selbstregierungs-Versammlung) verpflichteten sie mich, meinen Mathematikunterricht in Geografiestunden zu verwandeln. Und da ich kaum etwas von Geografie verstehe, hatte ich ein hartes Leben. Wir hatten eine gute Werkstatt3 Frau Neustätter (als Ehefrau des Arztes Dr. O. Neustätter) mit motorgetriebener Drehbank und Werkzeugen aller Art, wir hatten eine Buchbinde- Abteilung mit einem exzellenten Lehrer. Die Theorie sagte mir: 'Diese Schule wird ein Picknick werden. Die Kinder werden den ganzen Tag mit Handwerken verbringen'.

        Die Praxis zeigte mir, wie nutzlos eine Theorie sein kann. Diese Kinder dürsteten nach Information. Sie wollten von morgens neun bis zum Abendessen Fragen stellen. Glücklicherweise zerrte ich jeden nur möglichen Informanten heran" (NEILL 1924, 9-10; Übersetzung von mir).

      Seine schon in Gretna Green praktizierte Pädagogik setzte Neill in radikalisierter Form fort. Der Besuch der Schulstunden war absolut freiwillig. Er kam rasch davon ab, durch einen möglichst interessanten und unterhaltsamen Englischunterricht die Kinder interessieren zu wollen: Kinder sollten nicht von außen zum Lernen verführt werden, dies sei ein Anschlag auf die Autonomie und Entscheidungsfreiheit des Kindes. Das so bewirkte gute Lernen sei gerade das Gegenteil von guter Erziehung, d.h. einer Erziehung, die den (subjektiven) inneren Antrieben des Kindes folgt.

      Diese radikale Haltung, die auch ein Gegenentwurf zu der in Hellerau erlebten, durch metaphysische Vorgaben überfrachteten, schein-freiwilligen modernen Pädagogik sein dürfte, behielt er lebenslang bei, damit hängen zweifellos die zu seinen Lebzeiten oft geringen Schulleistungen vieler Summerhill-Schüler zusammen. Der Verzicht auf (oder Mangel an) äußere(r) Motivierung der Kinder war die allgemein übliche Kritik der Freunde Summerhills an Neill und der mit Abstand wichtigste und nahezu immer geäußerte ernsthafte Kritikpunkt an Summerhill. Er führte zu heftigen Konflikten Neills mit Summerhill- Lehrern und auch mit Summerhill-Schülern, die mehr Unterricht verlangten (siehe dazu Kapitel 3.2).

      Schulfächer interessierten Neill nicht mehr, er verstand sich nicht mehr als Lehrer, sondern als (psychoanalytischer) Psychologe. Er wollte eine durch und durch kreative Tätigkeits-Schule für die Libido betreiben, wo Theaterstücke geschrieben und Tänze erfunden und handwerklich gearbeitet werden sollte, aber keine Lern-Schule für den Intellekt. Er hielt psychologische Vorträge und eine Psychologieklasse für ältere Schüler und Rhythmik-Studentinnen. Und er begann wieder, wie schon in London, mit den (bei Lane gelernten) Privatstunden (Private Lessons), therapeutischen Sitzungen mit Traumdeutungen etc., auch für die Rhythmik-Studentinnen (NEILL 1923a beschreibt dramatische Beispiele).

      Bei der Behandlung Derricks, dann auch anderer Schüler und Rhythmik- Studentinnen, kam er (ähnlich wie schon Lane) zu dem Ergebnis, dass die isolierte Behandlung in einem speziellen Sprechzimmer hoffnungslos sei, dass man die Psychoanalyse mit den Kindern leben müsse, um das Arbeiten ihres Unbewussten zu sehen, und dann die Umgebung an die spezifischen Bedürfnisse des Kindes anpassen müsse. Er betonte, dass er Kinder nicht psychoanalysiere, d.h. ihnen die Ursachen ihrer Konflikte nicht sprachlich bewusst zu machen versuche (= sie psychoanalytisches Vokabular lehre). Stattdessen ließ er sie die unbewussten Gefühle deutlich empfinden und direkt ausdrücken: im Spiel, in künstlerischen Aktivitäten und in Interaktion mit anderen Kindern. (In diesem therapeutischen Zusammenhang konnte dann auch das Einwerfen einer Fensterscheibe sinnvoll werden.) Große Stükke hielt er schon hier auf die heilende Wirkung einer freien Umgebung, in die er mehr Vertrauen setzte als in spezielle Behandlung (ohne die es aber eben manchmal doch nicht geht). NEILL (1923a) gibt davon einen lebendigen Eindruck.

      Eine in der Neill-Literatur bislang unbekannte Beschreibung der Ausländerabteilung Neills und ihrer Pädagogik, die man als eine Art Gründungserklärung lesen kann, fand ich in der Schul-Zeitschrift der Neuen Schule vom März 1923. Darin liegen Neills spätere Summerhill-Philosophie und die typischen Charakterzüge Summerhills bereits voll ausgearbeitet vor: die freie Selbstregulierung der Schüler, Freiwilligkeit des Unterrichtes, das anfängliche Fernbleiben vom Unterricht, Neills Missachtung und Abwertung allen Unterrichts.

      Zugleich sind auch seine typische, sprunghafte Argumentation, die überspitzten, äußerst verkürzenden, zumindest sehr erklärungsbedürftigen Formulierungen schon voll entwickelt, etwa dass die Moralisten die Verbrecher, Selbstmörder und Kriegsmacher erzeugt haben. Seine Schlußfolgerung ist bei genauem Hinsehen zirkulär und unlogisch: Dass die Kinder mit Lehrmaterial Fußball spielten, zeigt, dass freie Kinder dies Lehrmaterial nicht brauchen, weshalb sie ein Recht haben, damit Fußball zu treten.

        "Das Kind muss sein Interesse ausleben, ob es nun Fensterscheiben-einwerfen oder Foxtrotts oder Frechheiten sind." (NEILL 1923b, 63, Übersetzung von mir)

      Wörtlich genommen bestätigt Neill bereits hier die späteren Standard-Vorwürfe gegen Summerhill: Dass Kinder hier beliebig und ohne alle Regeln alles missbrauchen, zerstören und grenzenlos frech sein dürfen. Schon hier beschreibt Neill ausführlich, was er alles nicht tut, nicht aber, was er tut, und erweckt den Eindruck pädagogischer Untätigkeit. Neill hat dies zweifellos nicht so gemeint, er hat es jedoch so geschrieben, seine Gegner haben ihm geglaubt und ihm dies berechtigt vorgeworfen.

        "Eine Geh-hin-wenn-du-willst Schule[4]

        Meine Abteilung der Neuen Schule ist ein Versuch mit beinahe absoluter Freiheit. Es gibt keine Pflicht zum Unterrichtsbesuch, einem Kind steht es frei, monatelang wegzubleiben, wenn es das will. Es gibt keinen Stundenplan, es gibt keine Bankreihen und keinen Unterricht in Schulklassen, denn es gibt keine Klassen. Die Lehrer geben niemals Anweisungen, sie sagen niemals zu einem Kind: 'Ich meine, Du solltest Mathematik lernen'. Als ich die Schule im letzten Sommer begann, veranlaßte mich meine Ausbildung als Lehrer dazu, eine Anzahl von Apparaten anzufertigen, um das Mathematik-Lehren zu vereinfachen. Die einzige Verwendung, die die Kinder dafür hatten, war, damit Fußball zu spielen. Ich habe daraus gelernt, dass absolut freie Kinder keine Apparate benötigen.

        Als wir im letzten Sommer in unsere Schule einzogen, fanden wir einen Dachboden, mehr eine Scheune als ein Schulzimmer. Jeder begann, die Wände und Fenster und Türen anzustreichen. Jedes Kind wählte einen Tisch und eine Ecke des Raumes, und für drei Monate war die Schule eine Ansammlung von Egoisten. Jeder dekorierte den eigenen Tisch und Stuhl und seine Wand. Heute haben nur zwei Neuankömmlinge Tische und Ecken, die anderen arbeiten überall.

        Als das Dekorationsfieber ausgelebt worden war, kam eine Zeit des Überdrusses. Die Kinder kamen aus Schulen, in denen sie stets angeleitet wurden. Sie waren nicht bereit für die Freiheit. Betty aus England tat sechs Monate lang fast nichts, sie wurde absolut überdrüssig und gelangweilt, und sie kam zu mir und beklagte sich über die Schule. Warum lehrte ich sie keine Fächer? Kurz gesagt, sie benötigte sechs Monate, um sich von ihrer 'Erziehung' zu erholen. Schließlich wurde das Leben für sie so langweilig, dass sie für sich selbst zu arbeiten begann, und heute lernt sie hart, um die Universitätseingangsprüfung zu bestehen. Ich finde, dass jedes Kind über zehn eine lange Ruhepause benötigt, ich nenne es eine Erholung, bevor es entdeckt, dass Erziehung aus dem Selbst kommt und nicht vom Lehrer. Natürlich sorgen wir für Material für die Kinder. Künstliche Apparate der Montessori-Methode sind pädagogisch und darum verboten, aber eine Schule muss Papier, Farben, Holz, Werkzeuge, Linoleum für Linolschnitte, Bücher aller Art bereithalten. [...] Alle Kinder lernen Deutsch und Englisch [...].

        Beinahe jede Schule versucht in irgendeiner Weise den Charakter zu formen. Die alten Schulen formten den Charakter durch Furcht, die neuen versuchen ihn durch Shakespeare oder Goethe-lesen zu formen. Sie errichten einen Wertmaßstab, sie sagen letztlich, dass Goethe besser als ein Kabarett ist. Wir begannen mit dem offenen Bekenntnis, dass kein Mensch das Recht hat, den Wertmaßstab für Andere zu setzen. Das Leben enthält Goethe und Wagner und Charlie Chaplin und Kabaretts, und dem Kind muss die Freiheit gelassen werden, seine eigenen Maßstäbe zu bilden. Wir sind Individualisten, das heißt, wir behandeln jedes Kind als ein Individuum. Wir kennen seine psychologische Geschichte, seine Stärke und seine Schwäche. Aber wir müssen beständig die Neigung bekämpfen, die Schule als eine große Maschine zu sehen, die wie ein Uhrwerk läuft. Und jede nicht freie Schule muss ein Uhrwerk sein. Das Kind muss Mathematik lernen von zehn bis elf Uhr, ob es Interesse an Mathematik hat oder nicht. Und weil Interesse die konzentrierte Zusammenarbeit des Bewussten und des Unbewussten ist, ist jedes System, das nicht dem Interesse des individuellen Kindes folgt, falsch. Eine Armee ist eine exzellente Maschine, aber kein Mensch würde heute eine Armee als erzieherische Einrichtung bezeichnen.

        Eines Tages sagte eine englische Lady zu mir: 'Was ist - in einem Wort - Ihre Schule?' Ich antwortete ohne nachzudenken: 'Eine Schule, die nicht an die Erbsünde[5] glaubt.' Unser System könnte man als die Kein-Gewissen-Schule bezeichnen. Wenn ein Elternteil oder Lehrer zu einem Kind sagt: 'Du musst dich so benehmen', vermittelt er dem Kind ein Gewissen. Alle Neurosen und alle Verbrechen sind das Ergebnis eines Konfliktes zwischen dem Instinkt (der Stimme Gottes) und dem Gewissen (der Stimme der Eltern, Lehrer, Pfarrer). Dass dieser Konflikt unbewusst ist, macht die Tragödie nur noch größer, denn es sind die verschütteten Konflikte, die einen Menschen unglücklich und ineffizient machen.

        Trotz des enormen Fortschritts der Psychologie in den letzten zwanzig Jahren weiß kein Mensch genug über Kinder, um sagen zu können: So musst Du leben. Erziehung kann nur ein Beobachten des Kindes sein, um zu sehen, was es tun will. Täglich sehen wir die Resultate der Arbeit der Charakterformer. Die traurige Tatsache ist, dass niemand ein Kind objektiv betrachten kann. Die Mutter will ihre Tochter zu einer guten Frau machen ... nach den Gutheits-Idealen der Mutter. Das ist die objektive Erklärung. Die subjektive Erklärung ist, dass die Mutter in ihrem Kind ihr eigenes Selbst sieht: Sie rügt im Kind das, was sie in sich selbst verdammt. So ist es auch beim Lehrer. Er bekämpft seine eigenen Neigungen zur Unmoral, indem er den Kindern Moral aufzwingt, seinen eigenen Mangel an Geschmack, indem er den Kindern Geschmack aufzwingt. Die neue Psychologie lehrt uns, dass unsere Verurteilung Anderer, unsere Kritik an Anderen, unser Hass auf Andere subjektiv ist. Mit diesem neuen Wissen erdreisten wir uns nicht, den Kindern zu sagen, wie sie zu leben haben.

        Für den verständnislosen Zuschauer ist unsere Schule eine Schule ohne Ideale, ohne ein Ziel. Ich rufe: Gottseidank! Besser überhaupt kein Ziel als ein Ziel, welches den Kindern von Erwachsenen, die das Ziel des Lebens nicht kennen, aufgezwungen wird. [...] Dies ist - kurz gesagt - unsere Erziehung: Das Interesse kommt vom Kind, und man muss ihm folgen. Das Kind muss sein Interesse 'ausleben', ob es nun Fensterscheiben einwerfen oder Foxtrotts oder Frechheiten sind. Die Leute, die ihre Interessen auf Anweisung von Charakterformern, d.h. Moralisten, unterdrückt haben, sind die Neurotiker, Verbrecher, Selbstmörder und Kriegsmacher von heute.

        Was das Ergebnis unseres Experiments sein wird, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass freie Männer und Frauen mit Initiative und Mut daraus hervorgehen werden. Die alte Erziehung brachte uns den großen Bürgerkrieg von 1914-1918, den hoffnungslosen Frieden, die Ruhr-Invasion. Die neue Erziehung mag die Welt von den heutigen Übeln erretten, indem sie das Unbewusste bewusst werden läßt."

        (NEILL 1923b, 61-63, Übersetzung von mir, Auslassungen "..." im Original, "[...]" von mir)


      2.5.6 Erneute Aufteilung und Vertreibung aus Hellerau

      Die Aktiengesellschaft litt inzwischen, ebenso wie ihre daran eingegangene Vorgängerin, stark an Geldmangel, Christine Baer, Prof. Zutt, Frau Neustätter und Neill arbeiteten ohne Gehalt. Es hatte (vermutlich um Geld) bereits Rechtsstreitigkeiten mit der Gebäudebesitzerin Bildungsanstalt GmbH gegeben, die auch bereits mit anderen Interessenten verhandelt hatte.

      Neill beschrieb in der New Era die bereits im September 1922 erfolgte erneute Aufteilung der erst wenige Monate bestehenden gemeinsamen Schule in zwei selbstständige Teile: die Schule für Rhythmus, Musik und Körperbildung und die Deutsche Schule mit ca. 100 deutschen Schülern (teils Internat, teils Externat). Neills Abteilung wurde der Behörden wegen formal (aber nicht real) eine Abteilung der Deutschen Schule und begann im September 1922 mit zwei Jungen und acht Mädchen. Die wenigen deutschen Schüler Neills waren ebenfalls lediglich formal an die deutsche Schule abgetreten. Grund, Ausmaß und Folgen der Trennung bleiben unklar, die übergreifende Neue Schule Aktiengesellschaft blieb trotz der Aufteilung bestehen und war zumindest Träger der Schule für Rhythmus (später in Wien). Neill bezeichnete die Ausländerabteilung auch weiterhin als Abteilung der Neuen Schule.

      Die rasche Aufteilung der Schule wird verständlich, wenn man sie in Zusammenhang bringt mit der (nur in Harless' Briefen beschriebenen) Übernahme der Neuen Schule durch Alois Schardt, diese Übernahme also etwa auf den September 1922 datiert, ein halbes Jahr nach der Übernahme durch Neill und Baer.

      Der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Dr. Alois J. Schardt und seine Frau, die Schauspielerin Mary Dietrich, hegten offenbar recht traditionelle pädagogische Vorstellungen. Harless bezeichnete Schardt als wohlmeinenden und angenehmen Menschen, aber pädagogischen Dilettanten. De Mendelssohn nennt ihn einen gänzlich ungeeigneten Mann.Als Schardt, der wohl über Geld verfügte, in der Schule das Übergewicht erhielt und der faktische Leiter und starke Mann der Schule wurde, lag eine Wiederverselbstständigung des Landerziehungsheims Deutsche Schule nahe, denn die Rhythmikabteilung arbeitete nach ganz anderen Grundsätzen.

      Für Schardt war Harless allzu reformerisch und frei, achtete zu wenig auf Disziplin und Stoffpensum. Auf Schardts Druck hin wurde die Schule, zunächst noch unter Harless' Leitung, in eine ordentliche Lernschule umgewandelt: die Lehrer wurden eingeschüchtert und allmählich durch gefügige gläubige, wohlbenotete Kandidaten ersetzt, die Kinder wurden durch eine besonders scharfe Versetzung (offenbar zu Ostern 1923) unter starken Leistungsdruck gesetzt. Schließlich wurde die Schule (vor dem 12. Oktober 1923) auch offiziell vom wirklichen Schulleiter Schardt übernommen und die Leitung dem gut befreundeten Frl. Dr. Strinz übertragen, da Schardt formal die nötige Konzession fehlte. Harless wurde fristlos gekündigt, weil er mit Volksschulkollegen in einem kommunistischen Haus einen theoretischen Einheitsschulplan für Hellerau beraten hatte. Damit war der noch extremere Neill erst recht ausgebootet: für ihn war an einer solchen Schule kein Platz mehr. Es war Zeit für ihn zu gehen. Mit dem Ende der Inflation (November 1923) war Neills devisenbringende Abteilung unwichtiger geworden, seine(ohnehin verbrauchte) Aktien-Einlage war durch die Inflation völlig entwertet (November 1923: ca. ein Millionstel Dollar) und durfte wegen der Gemeinnützigkeit nur im Nennwert zurückgezahlt werden. Zudem war seit der militärischen Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen (Ruhrbesetzung) Anfang 1923 das Klima füreine freie internationale Schule in Deutschland extrem ungünstig geworden. Neill widersetzte sich erfolgreich der polizeilichen Deportation seiner drei belgischen Schüler und organisierte eine gemeinsame Spendenaktion für notleidende deutsche und belgische Familien.

      Neill mochte sein Scheitern als Schulgründer und seine Vertreibung aus Hellerau anscheinend nicht detailliert veröffentlichen, zumal seine Schriften auch für sein Schulunternehmen werben sollten. Er erwähnte Schardt mit keinem Wort, deutete auch keinerlei Machtverschiebung oder Wechsel der pädagogischen Richtung an. Stattdessen schilderte er seinen Hinauswurf als Flucht vor der einige Tage später (21. Oktober 1923) erfolgten militärischen Besetzung[6] Sachsens und als Folge der Übersiedlung der Rhythmikabteilung nach Österreich, nachdem der deutsche Teil ohnehin bereits geschlossen gewesen sei, da die deutschen Eltern wegen der Bürgerkriegsgefahr ihre Kinder bereits abgeholt hätten. Doch die Schießereien beim Einmarsch, die zudem kaum im abgelegenen Hellerau stattgefunden haben dürften, sind keine hinreichende Erklärung für die ein Vierteljahr später erfolgte Übersiedlung. Nach Neills bemerkenswert fehlerhaften Beschreibung der Vorgänge (die von der Sekundärliteratur übernommen wurde) kehrten die Kinder der Internationalen Abteilung vorerst zurück zu ihren Eltern, während Neill einige Wochen lang in Wien nach einer Bleibe für seine Abteilung suchte.

      Schon wegen der Ungenauigkeit, Kürze (1 1/4 ereignisreiche Jahre auf 1 1/4 Seiten) und der groben Fehler der Darstellung der Flucht und der Zeit in Österreich in Neills Autobiographie ist zu vermuten, dass Neill hier wesentliche Tatsachen zu verbergen sucht. Bezeichnenderweise steht unmittelbar davor ein ausdrücklicher Hinweis Neills, dass er nicht die volle Wahrheit schreibt:

        "Ich sollte hier anmerken, dass ich in diesem Buch nur selten noch lebende Personen erwähne. Angenommen, einer meiner Brüder hätte im Gefängnis gesessen oder eine meiner Schwestern wäre eine Prostituierte, dann dürfte ich ihrer Kinder wegen, die wahrscheinlich noch am Leben wären, in einem Buch nichts darüber berichten. 1923 brach in Sachsen die Revolution aus. In den Straßen von Dresden wurde geschossen. Unsere Schule wurde immer leerer. Die Eurhythmieabteilung siedelte nach Schloß Laxenberg in der Nähe von Wien über, und ich nahm meine Abteilung auf einen Berggipfel am Rande Tirols mit, vier Bahnstunden von Wien entfernt." (NEILL 1982, 150)

      Hier sind nahezu alle Angaben korrekturbedürftig: Die Revolution ist zweifelhaft, der Sonntagberg (nicht: Sonntagsberg), auf den Neills Abteilung zog, liegt nicht am Rande Tirols, sondern weit von Tirol entfernt bei Waidhofen an der Ybbs in Niederösterreich, nahe der Grenze zu Oberösterreich. Die Rhythmikabteilung übersiedelte (Dresdner Akten und alten Zeitungsberichten zufolge) nicht 1923, sondern (nach erfolgreichen Gastspielen in Wien) erst zum 1.7.1925 in das mit Park und Schloßtheater wohlausgestattete ehemalige Kaiserschloß Laxenburg (nicht: Laxenberg) bei Wien. Wesentliche Gründe für die in Hellerau sehr bedauerte Übersiedlung waren eine bessere finanzielle Förderung und die (wohl finanziellen) Probleme mit der Eigentümerin des Festspielhauses, der Bildungsanstalt Hellerau GmbH.

      Teile der Anlage in Hellerau wurden in der Folgezeit zeitweise als Landerziehungsheim, Töchterschule und Tanzschule genutzt. 1929 eröffnete in der Bildungsanstalt die Wohlfahrtsschule Hellerau, an der auch Elisabeth Rotten lehrte. So kam es, dass das von Elisabeth Rotten und Karl Wilker herausgegebene Werdende Zeitalter (die deutsche Ausgabe der zeitweise von Neill herausgegebenen New Era) 1931/32 in dem Gebäude herausgegeben wurde, in dem Neill zuvor seine Schule gründete. Auf seinem Titelblatt wurden 1930 insgesamt 23 Namen von ständigen Mitarbeitern genannt, darunter: Christine H. Baer-Frissell, Wien-Laxenburg / Paul Geheeb, Odenwaldschule / Dr. Carl Theil, Jena. Dies zeigt nochmals, dass Neill auch in Deutschland mit führenden Reformpädagogen zusammenwirkte. Claude Ferrière, der Sohn des Herausgebers der französischsprachigen Ausgabe, war übrigens in den dreißiger Jahren Lehrer in Summerhill.

      Das Festspielhaus war von Mitte 1932 bis Mitte 1934 Spiel- und Übungsstätte der Dresdner Staatsoper, mit äußerst glänzenden Opern-Erstaufführungen. Danach stand das Gebäude weitgehend leer, bis die Anlage vom Reich für eine Polizeischule (Schutzpolizei- Ausbildungsabteilung für 300 Polizeianwärter) erworben und erheblich umgebaut und aufgestockt wurde (Planung 1937, Ausführung 1938), wobei auch der bisher öffentliche Platz vor der Schule als Kasernenhof einbezogen wurde, später auch das gegenüberliegende große Pensionshaus/Schulheim. Nach dem Krieg nutzte die Rote Armee die Kasernenanlage. Die extreme Vernachlässigung ruinierte die Bausubstanz, derzeit wird restauriert.

      2.5.7 Die Schule auf dem Sonntagberg

      In Wien bot der Sekretär des jugendbewegten Akademischen Wohlfahrtswerks, Oscar Bock, Neill die Mit-Nutzung eines früheren Klosterflügels auf dem Gipfel des Sonntagberges an. Während Frau Neustätter die Räumlichkeiten vorbereitete, holte Neill am 24. Januar 1924 seine fünf englischen Schüler von London nach Österreich: Derrick und seinen Bruder Donald, Geoffrey aus Oxford; Neill's achtjährigen Neffen Neilie sowie Angus Murray, dessen IQ in Wien mit 189 gemessen wurde und der von Lehrern so häufig geohrfeigt worden war, dass er teilweise taub wurde und beständig die Schule floh.

      Man lebte wie eine große, um Neill und Frau Neustätter zentrierte Familie eng zusammen, ohne Trennung zwischen Lehrern, Kindern und Gästen. Feste Schulstunden gab es praktisch nicht, auch keinerlei Schulausstattung. Wann immer sie etwas interessierte, bildeten sie Gruppen und befassten sich damit. Sie fuhren viel Ski, spielten im Wald, fingen Molche für ein Terrarium, gruben Ton zum Töpfern, erzeugten Farben aus gesammelten Pflanzen, badeten im Dorfteich neben der Schule, musizierten viel, dichteten Limericks. Auf dem Bauernhof in der Nachbarschaft konnten sie für Schweine, Ochsen und Maultiere sorgen, und gelegentlich unternahmen sie Ausflüge ins nahe Waidhofen an der Ybbs. Lehrerin Jonesie baute in ihrem engen Schlafzimmer Lochkameras mit den Kindern und entwickelte dort in Eimern und ohne Wasserkran die Foto-Platten. Neill hatte sein Handwerkszeug aus Hellerau mitbringen lassen und handwerkte viel und vielfältig mit großer Begeisterung: Hier war seine ersehnte Kreativitäts- und Tat-Schule.

      Neill las Werke des Psychoanalytikers Wilhelm Stekel (ein in Wien praktizierender bedeutender Freud-Schüler, mit dem Neill dann jahrzehntelang in freundschaftlichem Brief- und Besuchs-Kontakt stand) und war beeindruckt von dessen Glauben an die Freiheit, seiner Haltung zu Onanie und Homosexualität sowie seiner Auffassung, dass Moralerziehung, anerzogenes Gewissen und Schuldgefühle die Wurzel von Neurosen sind. Er besuchte Stekel ursprünglich, um den traumatischen Schock eines Schülers behandeln zu lassen, wurde dann auch selbst sein Patient und Freund. Über Stekel traf Neill vermutlich auch Siegfried Bernfeld, August Aichhorn und den Psychoanalytiker Otto Rank. Der sozialistische österreichische Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld hatte 1919/1920 in Wien eine sehr freiheitliche Kinderrepublik Kinderheim Baumgarten geleitet. Der Freud-Schüler August Aichhorn gilt als einer der bedeutendsten Begründer der psychoanalytischen Pädagogik. In seinem Kapitel seiner Verwahrlosten Jugend beschrieb er seine eigene, ziemlich anti-autoritäre Umgehensweise mit seiner Gruppe aggressiver Heimzöglinge.

      Seit der Osterwallfahrt gab es schwere Probleme mit den Nachbarn, die von den Wallfahrten zur Wallfahrtskirche neben dem Wohnheim lebten. Sie wurden äußerst feindselig und aggressiv gegen die das Kloster entweihende heidnische Schule, denn Neills Schüler waren betont respektlos, wirkten mittels Spiegeln eigene Heiligenschein-Wunder an den Heiligenfiguren, und eines warf einen Schneeball auf das verehrte Heiligenbild. Nachbarn denunzierten die Erwachsenen der Schule bei der Polizei wegen vermuteter illegaler sexueller Beziehungen. Eine damals dreizehnjährige Schülerin Neills beschreibt allerdings in einem Leserbrief (LÖWENSTEIN 1993), dass insbesondere der von Stekel behandelte schwer gestörte Schüler Angus durch mutwillige Zerstörungen, Quälereien und mehrfaches Feuerlegen den Nachbarn wie Mitbewohnern sattsam genug Grund zum Hass gegeben hatte.

      Die Bedingungen für eine behördliche Genehmigung waren für Neill unannehmbar: fester Stundenplan und obligatorischer katholischer Religionsunterricht, den Neill durchaus vermeiden wollte (kirchliche Sexualfeindschaft, Hierarchie, Autorität, Schuldgefühle...). Nach dem ersten ernsthaften Behördenkontakt zog Neill seinen Genehmigungsantrag Anfang Mai 1924 zurück. Dass der Schule bei einer Bankpleite im Juni 1924 auch 25 ₤ Halbjahres-Schulgeld für ein Kind verlorengingen, war nur noch ein unwesentlicher Nebenaspekt. Die Abreise der Schule nach England erfolgte am 9. Juli 1924, wenige Tage nach Fristablauf.



      Fußnoten

      [4] Das dazugehörige Foto "Schule Hellerau. Ein Arbeitsraum der Internationalen Abteilung" ist auf dem Titel dieser Kurseinheit wiedergegeben.

      [5] Zur Verwendung religiöser Begriffe durch den Atheisten Neill vgl. Kapitel 4.3.4

      [6] Über die Umstände dieses Bürgerkrieges/Aufstandes/Putsches o. ä. werden in Neills Umkreis mehrere zweifelhafte Versionen berichtet. Historisch zutreffend dürfte folgender Sachverhalt sein (vgl. Tormin 1973, 129):

      Nach dem kommunistischen Landtagswahlsieg bildeten SPD und KPD in Sachsen und Thüringen zur Abwehr drohender rechtsradikaler Angriffe auf die Republik (wie der Hitler-Putsch am 8/9.11.23 in München) eine Koalitionsregierung und begannen, Arbeiter in proletarischen Hundertschaften zu bewaffnen und Angaben über die Schwarze Reichswehr zu veröffentlichen. Aufgrund der Regierungsbeteiligung befürchteten rechte Parteien eine kommunistische Machtübernahme (Putsch oder kommunistischer Aufstandsversuch wie am 22.10.23 in Hamburg). Die Reichsregierung ließ Sachsen und Thüringen durch Reichswehr militärisch besetzen (wobei es Kämpfe gab) und die gewählten linken Landesregierungen beseitigen. Da gegen rechte Landesregierungen (seit September separatistische rechte Diktatur in Bayern) nichts geschah, schied die SPD im Reich am 2. November aus der Regierungskoalition aus.