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Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: 5. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich
Fortsetzung: 7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten und 8. Leben und Werk W. Reichs




6. Zum Kontext der Selbstregulation: Ausflüge in die politischen, gesellschaftskritischen, naturwissenschaftlichen und psychotherapeutischen Forschungsbereiche und Theorien Wilhelm Reichs

Reich unterschied hierbei zwischen der Psychoneurose und der Stauungsneurose und lehnte sich in diesem Punkt an die ursprünglichen Freudschen Theorien an (Freud benannte die Stauungsneurose als Aktualneurose).

Als Symptomatik der Stauungsneurose kann mangelnde Energieabfuhr gesehen werden, welche in der Regel mit den aktuellen Lebensumständen zusammenhängt. Wird die Energie der sexuellen Erregung nicht oder nur unzureichend entladen, verwandelt sie sich in Angst. Lust und Angst basieren hierbei auf einem funktionell identischen Vorgang; einer Strömung bioelektrischer Energie - nur in zwei konträre Richtungen. Lust richtet sich nach außen, zur Welt hin, sie öffnet (Emotion heißt wörtlich Herausbewegung), während die Strömung der Angst nach innen, von der Welt weg fließt (körperliche Symptome der Angst sind Kontraktionen wie Erstarrung, Herzbeklemmung, sehr flacher, stockender Atem usw.).

So kann man sowohl die Stauungsneurose, als z.B. auch sexuelle Störungen, als Schutzmechanismen gegen irrationale oft unbewusste Ängste und Konflikte auffassen, deren letztendliche Ursache eine mangelnden Energieabfuhr darstellt.

Die Stauungsneurose besitzt demnach einen psychoneurotischen Überbau, während die Ursachen der Psychoneurose in der frühen Kindheit (verbunden mit dem lebensgeschichtlichen Kontext) liegen und man daher von einem stauungsneurotischen Kern sprechen kann. (vergl. Reich 1984 : 27ff., 32ff.)

Die bioenergetische Grundfunktion und auch Voraussetzung für Gesundheit ist, nach Reich, das freie Strömen und Pulsieren der Lebensenergie im Organismus. Dieser Energiefluss im Körper sollte durch keine Panzerung unterbrochen werden, sondern die Möglichkeit bekommen, sich in Wellenbewegungen im ganzen Organismus auszubreiten, um sich anschließend wieder spontan entladen zu können. Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Entladung von überschüssiger Energie (vergl. hierzu auch Punkt 5.3.); die vollständigste vollzieht sich im Orgasmus. Dieser reguliert u.a. den Energiehaushalt des Organismus, bildet also eine Grundlage für psychosomatische Gesundheit und gewinnt dadurch eine fundamentale Bedeutung in Reichs Arbeiten.

Reich meinte jedoch nicht, wie oft missgedeutet, den Orgasmus als phallisch - narzisstische, leistungsbetonte Potenz, er meinte die Intensität des sexuellen Erlebens.

Diese Zusammenhänge realisierte er durch seine klinischen Erfahrungen in psychoanalytischen Behandlungen. Bemerkenswert dabei war, dass Patienten zwar geschlechtlich verkehren konnten, jedoch die wirkliche Befriedigung, die Endlust, gestört war.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Psychoanalyse hinterfragte Reich nicht nur die Quantität des Geschlechtverkehrs, sondern richtete sein Augenmerk auf die emotionale Intensität der sexuellen Empfindungsfähigkeit. Er stellte dabei fest, dass beim Mann hinter der erektiven Potenz bzw. bei der Frau hinter dem klitoralen Orgasmus sich durchaus eine mehr oder weniger starke Blockierung der sexuellen Erlebnisfähigkeit und eine Unfähigkeit zur psychischen und physischen Hingabe verbergen kann (womit er eine gewisse Emotionslosigkeit meinte, das Gefühl von Leere, Angst, Leistungsdruck, Selbstdarstellung, Erstarrung oder auch regelmäßig ablenkende Gedanken und (z.B. sado-masochistische) Phantasien während des Geschlechtverkehrs). Vor dem Hintergrund, dass die Blockaden der spontanen Emotionen auf der Abpanzerung des Organismus gegen seine eigene vegetative Lebendigkeit wurzeln, kam Reich zu dem Ergebnis, dass unerfüllte Sexualität in engem Zusammenhang steht mit allen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. (vergl. Schrauth u. Geuter 1997: 93).

"Es ist nicht das Ficken, verstehen Sie, nicht die Umarmung, nicht der Geschlechtsverkehr. Was ich meine, ist die emotionale, die primär emotionale Erfahrung der Verschmelzung zweier Organismen. Die wirkliche emotionale Erfahrung des Ich-Verlustes, des gesamten geistigen Selbst." (Reich 1967 zitiert von D. Fuckert 1997 : 157)

In diesem Zusammenhang prägte er den Begriff der "orgastischen Potenz". Gemeint ist dabei eine vollständige emotionale und körperliche Hingabefähigkeit; die Verschmelzung mit dem Partner bei der geschlechtlichen Umarmung, verbunden mit den unwillkürlichen Zuckungen des ganzen Körpers und dem Bewusstseins- und Ich-Verlust im Orgasmus.

Orgastische Potenz drückt sich in der gesamten Persönlichkeit des Menschen aus, in allen Lebensbereichen (Hingabefähigkeit zur Arbeit, zur Natur, Freunden, Hobbies ect.). Sie zeigt sich in der Fähigkeit des freien emotionalen Ausdrucks des Menschen (Gestik, körperlicher Ausdruck, Sprache, Stimme ect.) und ist ein unwillkürlicher, einheitlicher, weicher Ganzkörperreflex. (vergl. D. Fuckert, 1997: 140 f.)

Die orgastische Potenz erwächst demnach aus einem vollkommenen Körpergenuss, nicht aus den Genitalien. Es ist sowohl eine emotionale Haltung liebender Zärtlichkeit zu seinem Sexualpartner, als auch die psychische Fähigkeit, die starken bioenergetischen Strömungen zu tolerieren und sich ihnen hinzugeben.

Voraussetzung für diese Fähigkeit, dieses Los-lassen-könnens, ist die Abwesenheit einer muskulären und psychischen Panzerung, verbunden mit dem Überwinden von Urängsten vor Verletzungen und Kontrollverlust, sowie eine grundsätzliche Beziehungs- und Bindungsfähigkeit.

Reich beobachtete, dass alle Charakterpanzerungen (besonderst die von frühkindlich Traumatisierten) einhergehen mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Störung der Entladung des ganzen Erregungspotentials und der sexuellen Empfindungsfähigkeit. Diese Stauung sexueller Energie wird auf diese Weise zur Quelle von neurotischen Symptomen bzw. psychosomatischer Krankheit. Die Ursache gründet in dem Prozess der (frühkindlichen) Sexualverdrängung, verbunden mit der tiefen, existentiellen Angst vor dem vegetativ autonomen, energetischen Prozess, vor Kontrollverlust und Selbstaufgabe; Angst vor der Verschmelzung im Orgasmus.

"Die Schwere jeder Art seelischer Erkrankung steht in direktem Verhältnis zur Schwere der Genitalstörung. Die Heilungsaussichten und Heilerfolge hängen direkt von der Möglichkeit ab, die volle genitale Befriedigungsfähigkeit herzustellen" (Reich 1987 : 77)

Für die Psychotherapie wurde damit die Aufgabe formuliert, die Orgasmusfähigkeit in diesem Sinne herzustellen. Erst dann sei allen Krankheitssymptomen die Basisenergie entzogen und die Gefahr von Rückfällen gebannt. Er räumte jedoch ein, dass die aufgrund dieser ursprünglichen Sexualstauung entstandenen seelischen Komplikationen, auf das genitale Erleben zurückwirken und diesbezüglich Hemmungen aggravieren. So können schon kleine Störungen des sexuellen Energieausgleichs, unterstützt durch den neurotischen Überbau zu fundamentalen Orgasmusproblemen und Neurosen Anlass geben.

Für Reich besitzt allein der gesunde genitale Charakter die Fähigkeit zu einer intensiven Kontaktaufnahme, er ist authentisch, d.h. verbunden mit seinen primären Bedürfnissen und Gefühlen, daher kann anstelle eines neurotischen Selbstkontrollmechanismus die Fähigkeit zur Selbststeuerung treten.

Als Reich Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre von der "Sexuellen Revolution" sprach, hatte er die autoritären Familienstrukturen dieser Zeit vor Augen und setzte sich für eine sexualbejahende Erziehung ein. Sein Ziel war es durch Aufklärung und Thematisierung der sexuellen Bedürfnisse und emotionalen Konflikte von Kindern und Jugendlichen ein freieres Meinungsklima zu schaffen, um auf dieser Grundlage soziale Tabus zu lockern und neurotische Zwanghaftigkeit zu entschärfen.

Leider musste er jedoch feststellen, dass mit der Lockerung dieser starren Schranken und moralischen Tabus, welche die Gesellschaft um die Sexualität und deren Ausdrucksformen gelegt hatte, sich keineswegs Beziehungen, welche auf gegenseitiger Akzeptanz und Liebe basierten, sich freier und unpervertierter entwickeln konnten, sondern dass diese sexuelle Lockerung und Freiheit im verstärkten Maße im Ausleben kranker und sadistischer Triebe bestand. Reich warnte nun deutlich vor dem höchst zerstörerischen Potential bezüglich der "Sexuellen Revolution", für die er sich so eingesetzt und gearbeitet hatte. Der natürliche Wunsch nach Sexualität, verbunden mit dem Bedürfnis sich einer anderen Person hinzugeben, wurde völlig verwechselt mit dem Drang, gestörte und abgespaltene sexuelle Impulse zu befreien.

"Gerade das Verhalten jener, die von Orgasmus zu Orgasmus streben, um andere und sich - besonders im Sinn der damaligen "Männlichkeit" in der Wiener Gesellschaft - ihre Potenz zu beweisen, ist nach Reich ein eindeutiges Zeichen für schwere Störungen der vollen orgastischen Befriedigungsfähigkeit" (Kriz 1989 : 81 f.)

Reich kritisierte beide extreme Ausdrucksformen der Sexualität; für ihn waren die kirchlichen Moralapostel, wie auch die Pornographen (der "falschen Sexualisierung") aus dem selben Holz geschnitzt und standen beide im Gegensatz zur sexualökonomischen Selbststeuerung. Wobei anzumerken ist, dass die Problematiken, welche die heutigen Sexualnormen mit sich führen, sich wesentlich differenzierter gestalten.

Das Missverständnis, welches dieser "falschen Sexualisierung" unterliegt ist, dass sich das sexuelle Gefühl proportional zur Intensität des Stimulus verhalte, der es erregen soll (je mehr Stimulation, desto mehr sexuelle Intensität; eine klassische Kompensation). Jedoch besitzt ein natürlicher, gesunder Mensch seine eigenen individuellen Rhythmen der Erregung, welche sich an dem liebenden Menschen orientieren und daher nicht abhängig sein sollten vom äußeren Stimulus wie z.B. Sexualtechniken (die wiederum zur Depersonalisierung und Stress im Sexualleben führen).

Zudem impliziert das Leistungssystem unserer Gesellschaft zusätzlich noch Aggressionen und Gewalt in die Sexualität. Durch die sogenannte Freiheit geraten zusehends Kinder und Jugendliche unter Druck bzw. Zugzwang und in ein gewisses Konkurrenzverhalten untereinander. In dieser Leistungsgesellschaft kommt Sexualität fast schon einem Wettkampf (der Geschlechter) gleich; sexuelle Befriedigung wird demnach nicht mehr als Geschenk des Sexualpartners dankbar entgegengenommen, sondern als Eigentum am Körper des anderen verlangt bzw. zur Selbstdarstellung missbraucht (Sex wird als "Life Art" designed bzw. zum ästhetisches Problem). Die anscheinende sexuelle Freiheit unserer Generation sollte daher nicht mit sexueller "Gesundheit" verwechselt werden.

Auch das übertriebene Interesse an Sex kommt, so Reich, aus seiner Unterdrückung und Tabuisierung; aus der nicht vollständig entladenen sexuellen Spannung, die sowohl beim abstinenten, ängstlichen Moralisten, als auch beim orgastisch impotenten Don Juan im Organismus verbleibt. Wird die sexuelle Energie in einer befriedigenden Sexualität vollständig entladen, ist eine Zeit lang (je nach Individualität) kein sexuelles Bedürfnis mehr vorhanden. Bei sexueller Stauung beschäftigt sich der Organismus jedoch permanent mit Sexualität (häufig auch in pervertierter Form), Liebesgefühle werden beeinträchtigt, Reizbarkeit und Entfremdung entsteht (z.B. picken sich Partner dann gerne, ohne den wahren Grund zu kennen, speziell die störenden Charaktereigenschaften am Partner raus...).

Ebenso waren, für Reich, destruktive Aggressionen und sadistische Gewalt keine angeborenen, natürlichen Triebe, sondern eine Reaktion auf (zumeist unbewusste) Enttäuschungen und Frustrationen dieser verloren gegangenen Fähigkeit zur Hingabe oder auf (frühkindlichen) Liebesverlust, welchen wir dann durch alle möglichen zerstörerischen, unnatürlichen Formen der Aggression bzw. Autoaggression zu kompensieren versuchen.

Bezüglich der weiblichen Sexualität vertrat Reich die Auffassung, dass funktionell kein Unterschied bestehe in der Sexualität zwischen Männern und Frauen (vergl. hierzu auch Punkt 5.3). Der erektive und der vaginale Orgasmus untersteht demnach der gleichen Grundfunktion der freien Pulsation des lebendigen Organismus. Unterschiedliche Ausdrucksformen und Verhaltensmuster in der Sexualität (z.B. passives Verhalten der Frau) führte er auf (zumeist pathologisch) individuelle und gesellschaftliche Erziehungsnormen zurück. (vergl hierzu J. Mitchell 1985 : 234 f.)

Die Effizienz des sexuellen Sozialisationsprozesses, hängt in hohem Maße davon ab wie befriedigend und authentisch die Eltern die vermittelnden Sexualideale empfinden. Gesellschaftlich postulierte Sexualideale unterliegen heute oftmals einer Fehlvermittlung d.h. es bestehen starke Widersprüche zwischen tatsächlicher Befriedigung und verdrängter Unzufriedenheit (stark geschürt durch die Massenmedien). Die Ursache dieser Ambivalenzen liegt sehr oft in der medienpolitischen Tendenzen, dass sich Perversion und sexuelle Abweichung gut verkaufen lässt, durch diese aufreißerische Form der Enttabuisierung entstehet aber auch Unsicherheit und ein gewisser Gesellschafts- und Leistungsdruck für den Einzelnen, verbunden mit Tatsache, dass Perversionen und sexuellen Abweichungen dadurch gesellschaftsfähig gemacht werden.

Gesellschaftliche Sexualnormen bedürfen oftmals eines hohen Maßes an Selbsttäuschung und Verdrängung, um diese erträglich zu machen. Diesen Teufelskreis dann wieder zu stoppen, ist äußerst schwierig, da die individuelle Wahrnehmung des Grundes der eigener Unzufriedenheit verzerrt ist und dies dann nahezu unmöglich macht.

Das unbewusste kulturelle Bewusstsein und seine Wertschätzung offenbaren sich z.B. auch in dem verachtenden und hasserfüllten Fluch aller Flüche "Fuck you !"

Reich nannte diese Lebenssituation in der wir uns - bewusst oder unbewusst - verstrickt haben, "stille Verzweiflung" bzw. "sexuelles Elend", er beschrieb wie sich durch unsere gesamte Kultur eine fast kosmische Sehnsucht nach diesem Prozess des Verschmelzens, des Eins- werdens, nach diesem Wunsch der Hingabe nach sich zieht.

Jedoch warnte er in späteren Jahren davor, seine sexualökonomischen Thesen nicht als einen Versuch misszuverstehen, den Orgasmus bzw. die orgastische Potenz zu einem Allheilmittel zu deklarieren und zu hohe Erwartungshaltungen daran anzuknüpfen. Die orgastische Potenz ist ein Ausdruck der Gesundheit und langfristiges Therapieziel (wobei angemerkt werden muss, dass nur wenige jemals dieses Therapieziel erreichen), aber kein Patentrezept zu ihrer Erlangung.

6.2. W. Reichs Weg von der Psychoanalyse zur Politik

6.2.1. Soziologische Studien der patriarchischen Kleinfamilie und deren gesellschaftliche Funktion

"Der Mensch ist eine Einheit, sein Denken, sein Fühlen und seine Lebenspraxis sind untrennbar miteinander verbunden. Er kann in seinem Denken nicht frei sein, wenn er auch nicht emotional frei ist; und er kann emotional nicht frei sein, wenn er in seiner Lebenspraxis, in seinen ökonomischen und sozialen Beziehungen abhängig und unfrei ist." (E. Fromm, 1980 : 256)

Für Reich bestand die ärztliche, wie auch politische Verantwortung darin, die als krankmachend erkannten Lebensumstände zu benennen, ihre Verbesserung anzumahnen und zu versuchen, diese zu realisieren. Ihm lag zudem viel daran, die Struktur des heutigen Menschen zu erfassen, da dies für ihn die Grundlage bildete, sich zukünftig mit Erziehungsfragen beschäftigen zu können.

Bezüglich der Entstehungsgeschichte der Neurosen, vertrat Reich zusehends die Auffassung, dass man diese nicht ausschließlich als individuelles, sondern auch als soziales Phänomen ansehen sollte, da gewisse Familiensysteme (und die jeweiligen Gesellschaftsordnung), verbunden mit ihren Normen und Moralvorstellungen, auch immer spezielle Neurosen erzeugen.

Er beschäftigte sich fortan vermehrt mit den Zusammenhängen zwischen psychischer Struktur und Gesellschaftsstrukturen. Explizit ging es um die Frage, wie gesellschaftliche Strukturen auf die Formung der Charakterstrukturen einwirken bzw. wie bestimmte, in den Massen verankerte Charakterstrukturen (Struktur des Denkens, Fühlens und Agierens des Individuums in der Masse) zurückwirken auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse.

Dabei betrachtete er den Menschen und die Gesellschaft nicht als mechanische, von einander isolierte Phänomene, sondern - und dies ist kennzeichnend für alle seine Forschungen und zieht sich durch sämtliche Arbeiten - als dialektische Einheit von Gegensätzen, welche wechselseitig aufeinander einwirken, und deren Zusammenspiel erst die Struktur und Dynamik des Ganzen hervorbringt.

Der Ausgangspunkt war für Reich immer das Individuum. Zu keiner Zeit seiner politischen Aktivität versuchte er den Menschen in ein System zu pressen oder ihm eine Ideologie überzustülpen ( vergl. hierzu auch Punkt 3.1).

Der Mensch ist von seinem Ursprung her, aus seinem Kern heraus, ein soziales Wesen, welches grundsätzlich bestrebt ist in einer Gemeinschaft zu leben und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Durch diese Abhängigkeit, verbunden mit der Abhängigkeit des Kleinkindes zu seiner Familie, ist der Mensch extrem prägsam für alle äußeren Einflüsse und Erwartungshaltungen, welche auf das Kind einströmen. Dies wiederum, macht sich die Gesellschaft, wir, die einzelnen Institutionen zunutze, um die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zu sichern. Der Familie fällt in diesem Kontext nicht nur eine individuelle Aufgabe zu, sondern auch eine soziologische und im weiteren Sinne auch eine politische.

Reich stellte in den 20er und 30er Jahren sowohl die Struktur der damaligen Gesellschaft, der Kleinfamilie, wie auch der herrschenden Kultur und Moral radikal in Frage.

Speziell die Familie ist Grundlage und Hort der kulturellen Identität, in der das Wissen und die sozialen Kompetenzen reproduziert und durch Erziehung an die Kinder weitergegeben werden. Erziehung wahrt die kulturelle Kontinuität und beinhaltet die Sozialisation der nachfolgenden Generationen.

Die Funktion der autoritären Kleinfamilie lag, nach Reich, in der Sicherung einer rigiden Herrschaftsstruktur mit dem Ziel, den fremdbestimmten, hierarchisch organisierten Arbeitsprozess (des Kapitalismus) zu sichern. Die typische sexualverneinende Struktur der autoritären Kleinfamilie erzeuge, so Reich, schwerste psychische Störungen, aber gleichzeitig und eben dadurch auch eine Anpassung an die repressiven, gesellschaftliche Strukturen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die enge, zumeist recht isolierte Bezogenheit der Dreiecksstruktur von Vater, Mutter, Kind. Der Ödipuskompex war für Reich das Produkt dieser starken Fixierung auf die Eltern (vergl. hierzu auch Punkt 2.2.3.).

Besonders in der Erziehung spiegeln sich die gesellschaftlichen Normen wider. Speziell repressive, autoritäre Erziehungstechniken (d.h. eine Unterwerfung des Kindes z.B. durch Zwang zur Reinlichkeit, strenge Gehorsamsforderungen, das Andrillen von Ordnung und Disziplin ect.) stellen das Instrument dar, das Kind an die herrschenden Strukturen anzupassen. "Die moralische Hemmung der natürlichen Geschlechtlichkeit des Kindes, deren letzte Etappe die schwere Beeinträchtigung der genitalen Sexualität des Kleinkindes ist, macht ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam im autoritären Sinne "brav" und "erziehbar"; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, tragen durch das sexuelle Denkverbot zu einer allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit bei...Als Vorstufe dazu durchläuft das Kind den autoritären Miniaturstaat der Familie, an deren Struktur sich das Kind zunächst einmal anpassen muss, um später in dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein. Die autoritäre Strukturierung des Menschen erfolgt - das muss festgehalten werden - zentral durch Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material der sexuellen Antriebe" (Reich 1974 : 49)

Auffallend sind in diesem Zusammenhang auch kulturvergleichende ethnologische Studien zur Sozialisation des Kleinkindes. In allen Ländern mit ausgeprägten patriarchischen, autoritären Familiensystemen, setzt zumeist recht früh eine sexualfeindliche Erziehung ein. (die Beispiele hierzu sind sehr vielfältig, vergl. hierzu auch C. Gottschalk- Batschkus, J. Schuler 1996)

Besonders hob Reich in seiner Kritik der damaligen Familienstrukturen die sowohl sexuellen wie auch ökonomischen Abhängigkeiten hervor. Durch zwanghafte Monogamie der Ehen werde die individuelle Sexualität weitgehendst unterdrückt; deshalb sah Reich in langfristigen, keinen Partnerwechsel einbeziehenden Bindungen, welche so lange dauern sollten, so lange die sexuelle Anziehung andauert, das Optimum von Beziehungen. Eine Liebesbeziehung auf Zeit, welche getragen wird durch Freiwilligkeit, Zärtlichkeit und Dankbarkeit für die gemeinsam erlebte Lust. Durch die individuelle Entwicklung, verbunden mit den unterschiedlichen Interessen, welche dem Wandel der Zeit unterliegen, war es für Reich fraglich, ob eine Leidenschaft Jahrzehnte überdauern könne. Er legte daher mehr Wert auf die Qualität einer Beziehung, als auf die Quantität (womit er die freudlose Art des Aneinanderklebens meinte, die viele zwanghaft vereinten Paare an den Tag legen).

Reich kritisierte zudem die erzwungene sexuelle Abstinenz der Frauen vor der Ehe. Diese führe zu einer künstlichen sentimentalen Überbewertung der Ehe, verbunden mit einer unrealistischen Erwartungshaltung (Darling, mach' mich glücklich....), gerade in Amerika setzt heute wieder eine klare Trendwendung in diese Richtung ein.

Bezüglich ökonomischer Abhängigkeiten, sah Reich die Gefahr, dass die Familie zusehends zur inzestiösen Institution tendiert, in der vor allem Mütter ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte auf ihre Kinder übertragen. Hausfrauen sind besonders unter dem Druck der Abhängigkeit (vor allem, wenn sie vorher eine gute berufliche Position inne hatten), leicht geneigt, in ihren Kindern die einzige Erfüllung und Inhalt ihres Lebens zu suchen, sie komprimieren eigene Entbehrungen und sexuelle Frustrationen in der Familie durch Lebensinhalt und Existenzberechtigung, die sie bei den eigenen Kindern suchen, verbunden mit dem Ehrgeiz eigene Ideale und Wünsche auf sie umzulegen. (vergl. hierzu S. Beyer, M. Wellershoff " Comeback der Mutter" Titelbericht des "Spiegel" 29/2001) Reich forderte jedoch nie eine Abschaffung der Familie an sich, sondern nur seiner autoritären Struktur.

Vielfach bestehen die typischen Strukturen der patriarchischen, autoritären Familie auch noch heute fort, teilweise wandelten sich diese starren Strukturen, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der antiautoritären Erziehungsbewegung. Doch sind häufig Eltern und Erzieher aufgrund ihrer eigenen Verhaftung mit ihrer Erziehung nicht in der Lage, neue Erziehungsmodelle umzusetzen - Unsicherheiten und Vernachlässigung sind oftmals die Folge. Aus diesen Gründen praktizieren sie daher oftmals einen ambivalenten, in sich gebrochenen Erziehungsstil, der zwischen Autorität, Gleichgültigkeit und Kameradschaft variiert. Aus diesem pluralistischen Erziehungsstil resultierte, dass Kinder weder durch Identifikation mit den Eltern, noch durch klare Abgrenzung von ihnen, ein eigenes starkes Ich herausbilden können. Sie spiegeln dann den Erziehungsstil der Eltern wider - brüchig, inkonsequent, unsicher. Da das Kind so nie eine stabile Beziehung zu seinen Eltern aufbauen konnte, kann es auch keine stabile Beziehung zu anderen aufbauen.

Durch diese Form der Unsicherheit und emotionalen Vernachlässigung gegenüber Kindern, entstehen bei diesen ebenso destruktive Charakterstrukturen, welche nicht Ausdruck der natürlichen, menschlichen Natur sind, sondern u.a. das Ergebnis krankhafter, gesellschaftlicher Strukturen.

6.2.2. Die Wurzeln matriarchischer, nicht-sexualrestriktiver Gesellschaftssysteme am ethnologisch-anthropologischen Beispiel der Bewohner der Trobriand - Inseln

"Das Modell der trobiandischen Sozialisation kann uns wohl weiterhelfen bei dem Versuch wieder ein Stück näher an unsere Wurzeln heranzukommen, unser Verhalten besser zu verstehen und auf das unserer Kinder angemessen einzugehen"

(S. u. W. Schiefenhövel 1994 : 280)

Mehrere Jahre forschte der Ethnologe und Anthropologe Bronislaw Malinowski auf den Trobriand - Inseln (welche seit 1975 zu Papua Neuguinea gehören), und brachte November 1929 sein Buch "Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien" heraus. Diese Forschungen über matriarchische Gesellschaftssysteme bildeten die Grundlage zu der Annahme, dass diese Gesellschaftsstruktur der Vorläufer war für unsere heutige patriarchische Gesellschaft.

Reich beschäftigte sich intensiv mit Malinowskis Forschungsergebnissen (wobei er auch andere ethnologische Forschungsergebnisse in Betracht zog, z.B. von Morgan, Cunow, Westermarck ect.), welche seine Thesen bezüglich des Zusammenhanges zwischen Sexualunterdrückung, Entstehung von Neurosen und Kultur untermauerten. Reich, wie auch Malinowski zogen aus dem empirisch erhobenen Material die Rückschlüsse, dass Sexualunterdrückung ein Kunstprodukt der patriarchisch-autoritären Gesellschaft sei. Demnach ist die Sexualunterdrückung für eine bestimmte Phase menschlicher Kultur typisch (seit ca. 6000 Jahren), und daher auch prinzipiell aufhebbar.

Die Trobriander weisen in ihrem Gesellschaftssystem einige Merkmale einer matrizentrischen Kultur auf:

  1. mütterliche Deszendenz, d.h. die Kinder gehören zur Mutterseite
  2. Eigentum, gelegentlich auch Ämter und Rechte werden in mütterlicher Linie vererbt
  3. voreheliche sexuelle Ungebundenheit, auch für junge Mädchen, weitgehende Freiheit bei der Gattenwahl und große Selbständigkeit der Frau in der Ehe
  4. leichte Scheidungsmöglichkeiten
Kennzeichnend für diese Kultur ist, dass der biologische Vater mit seinen Kindern nicht als verwandt gilt. Seine Stelle nimmt, was Erziehung und Verantwortung betrifft, der Bruder der Mutter ein. Er ist der soziale Vater für alle Kinder der Schwester, auch wenn diese, infolge der leichten Scheidungsmöglichkeiten, von verschiedenen Vätern stammen. Diesem fällt daher auch eine gewisse Schlüsselrolle in der Organisation innerhalb dieser Gesellschaftsform zu.

Reich sah aber auch klare Anzeichen für den zunehmenden Einfluss des Patriarchats bei den Trobriandern, z.B. den sozialen Sonderstatus des Häuptlings (der aufgrund dieses Status nun auch "Privateigentum an Produktionsmitteln" besaß) und nun sowohl das Recht zur Polygamie hatte, als auch ein Machtgefälle gegenüber anderen Bewohnern und auch seinen Frauen.

Bezüglich der Frage nach der Notwendigkeit der Sexualunterdrückung war für Reich die sexuelle Grundhaltung in der Erziehung der Kinder von besonderer Bedeutung. Die dort aufwachsenden Kinder bekommen die Möglichkeit und Freiheit für jegliche sexuelle Betätigung und Spielerei. Das Ausmaß der sexuellen Betätigung wird vom Grad ihrer Reife, ihrer Sinnlichkeit, ihres Temperamentes und ihrer Neugierde bestimmt, nicht durch wertende Erziehungsmaßnahmen. Durch eine offene, lebensbejahende Einstellung der Umgebung, wird dem Kind Gelegenheit gegeben, seine sexuelle Neugier zu befriedigen, ohne dass dies als verbotene Handlung empfunden wird (ohne Scham oder Schuldgefühle). Die Selbststeuerung des sexuellen Gemeinschaftslebens erfolgt durch Triebbefriedigung und nicht durch moralische Regulierung.(zusammengefasst aus: Reich 1986 : 24 - 50)

Malinowski zeigte sich in Gesprächen mit Reich aufgeschlossen gegenüber seinen Ansichten; er selbst zog jedoch zum Teil sehr abweichende Rückschlüsse bezüglich seiner Forschungen. Er fürchtet das Chaos, das der Geschlechtstrieb heraufbeschwören würde, wenn ihm keine Schranken gesetzt würden. Reich hingegen setzt diesem Einwand das Prinzip der Selbstregulation entgegen, wonach sich bei entsprechender psychischer Struktur das Geschlechtsleben durch die sozialen und individuellen Interessen der Beteiligten von selbst reguliert (bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass es, nach Malinowski, bei den Trobriandern z.B. keine Promiskuität gibt). Die gefürchtete Antisozialität des Geschlechtstriebes gilt für Reich nur als Folgeerscheinung der kulturelle Verzerrung des Triebes.

Übereinstimmung herrschte zwischen Malinowski und Reich in der Ansicht, dass sich das Verhältnis von Kindern und Eltern mit gesellschaftlichen Prozessen verändert, also ein soziologischer und kein biologischer Vorgang sei. Zudem beobachtete er, dass der Ödipuskomplex bei Trobrianderkindern nicht existiere. Ihre sexuelle Sozialisation verlaufe ungehemmt, natürlich, frei und altersentsprechend. In diesem Zusammenhang war es auffallend und von erheblicher Bedeutung, dass diese Gesellschaftsform frei war von Neurosen, funktionellen Geisteskrankheiten und sexuellen Perversionen.

Diese Theorie bestätigte ebenso der Sexualforscher Ernst Bornemann: "Im Gegensatz zu offenen, die gegenseitige Liebe fördernde Kulturen, die meist friedlich, lebensfroh und wenig darauf erpicht sind, ihre Umwelt zu beherrschen, zeigen sexualrestriktive Gesellschaftssysteme stets eine eigentümliche Trias von Fleiß, Rechthaberei und Aggressionen. Ihr Naturverhältnis wird von der Überzeugung geprägt, der Mensch müsse seine Umwelt "beherrschen". Im Gegensatz zu offenen, leibfreundlichen Kulturen, die ein Minimum von Neurosen und ein Maximum von Anpassung an die gegebenen ökologischen Verhältnisse aufweisen, erkaufen sich sexualrestriktive Gesellschaftssysteme ihren hohen Fleiß mit einer entsprechenden Einbuße an psychischer Stabilität. Psychische und sexuelle Störungen sind der Preis ihres Produktionsniveaus." (Bornemann 1990 : 776)

Bezüglich des Inzesttabus der Trobriander, betonte Reich, dass der Inzestwunsch nicht rigide unterdrückt werde. Obwohl Inzest verboten sei, bleibe der Wunsch danach stets bewusst. Durch dieses Nicht-unterdrücken dominiere er jedoch nicht und sei daher unproblematisch.

Reich setzte matriarchische Gesellschaften gleich mit ungepanzerten Gesellschaftssystemen, patriarchische hingegen mit überwiegend gepanzerten Gesellschaftsformen. Er war sich dennoch bewusst darüber, dass es in der heutigen Welt keine reinen, ungepanzerten gesellschaftlichen Lebensformen mehr existieren (können), er sah jedoch in dieser matriarchischen Lebensform eine erstrebenswerte Fiktion. Reich idealisierte nicht die Gesellschaftsform der Trobriander, sondern setzte sich kritisch mit ihr auseinander, besonders mit deren frühen Übergangsstadien von einer überwiegend matriarchischen zu einer patriarchischen Gesellschaftsstruktur (z.B. fand eine zunehmende Spaltung des Gefüges in Herrschende und Beherrschte statt, die Ehebindung wurde zwanghafter, der Ritus des Heiratsgutes entstand, zunehmende Sexualverneinung ect.)

Reich leitete diesen Umbruch und damit auch die Ursachen, die zur Sexualunterdrückung beitrugen, aus den wirtschaftlichen Interessen des Patriarchats ab. Mit dem mächtigeren Status der Häuptlinge, Priester ect. keimte auch gleichzeitig das Interesse an ökonomischer Überlegenheit, an Privateigentum. Dieses aufkommende wirtschaftliche Ungleichgewicht in der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung war die Basis zur Entwicklung von bestimmten Abhängigkeiten, verbunden mit sexualverneinender Moral. Die Einführung der männlichen Erbfolge z.B. führte unwiderruflich zur Monogamie und zur Zwangsehe; erst diese Lebensform gab Männern die Sicherheit, dass die Kinder auch tatsächlich von ihnen stammen und somit das Erbe "verdienten". Auch das Ritual des Heiratsguts basierte auf den selben materialistischen Strukturen.

Malinowskis Arbeiten werden in ihren Grundzügen bestätigt durch aktuelle ethnologische Forschungsergebnisse über die Ontogenese Trobrianderkinder von K.E. und K. Grossmann (1993), sowie von S. und W. Schiefenhövel (1994) bestätigt (K. E. u. E. Grossmann in Gottschalk-Batschkus 1996 : 283-292, S.u. W. Schiefenhövel in Gottschalk-Batschkus 1996: 263 - 282).

Die Kleinkinder genießen demnach noch immer eine große Aufmerksamkeit, eingebettet in eine große Familie, liebevolle Zuwendung und (u.a. sexuelle) Freizügigkeit. Einer der zentralen Aspekte dieser Studie ist das kindliche Bedürfnis nach körperlichem Kontakt. Auf den Trobriander Inseln stillen Mütter ihre Kinder nach Bedarf und ohne zeitliche Vorgaben etwa zwei Jahre lang; ebenso lang werden die Kinder von ihren Müttern, Geschwistern oder Familienangehörigen getragen. Kinderzimmer sind gänzlich unbekannt, die Kinder schlafen mit im Familienbett. Diese Vorgaben kann man nicht automatisch auf unsere Kultur und Lebenssituation übertragen, auffallend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass wir in unserer Zivilisation das kindliche Bedürfnis nach körperlichem Kontakt und Nähe nahezu minimiert haben (durch "sterile" Geburten in Krankenhäusern, Flaschenfütterung, Kinderwagen, Kinderzimmer ect.). Auf den Trobriander Inseln erfüllt man den Kleinkindern bis etwa zum 2-3 Lebensjahr nahezu jedes Bedürfnis (hier würde man sagen: man verwöhnt). Erst ab dem dritten Lebensjahr zielt die Erziehung auf Selbständigkeit und soziale Eingliederung, man erwartet nun von den Kindern, dass sie etwas im Haushalt helfen, anfangs noch sehr spielerisch, bis sie dann allmählich bis zum Alter von etwa zwölf Jahren selbständig altersentsprechende Arbeitsbereiche übernehmen. Schwierig gestaltet sich allerdings der Schulbesuch, da die traditionellen Werte, denen, welche ihnen in der Schule vermittelten werden, oftmals konträr gegenüberstehen (etwa die Hälfte der jungen Erwachsenen hat demnach niemals eine Schule besucht).

6.2.3. Politische Aktivitäten und die Umsetzung sexualpolitischer Ziele in der Sexpolbewegung

Der Mensch wird erst durch Interaktionen als Mensch für andere wahrnehmbar. Diese Interaktionen stehen immer in einem gewissen Verhältnis zu gesellschaftlichen Normen. Diese Normen werden geprägt durch die Charakterstrukturen vieler.

Reich stellte fest, dass die Charakterstruktur der Masse der Menschen unter sexualökonomischen Gesichtspunkten pathologisch ist, und er folgerte daraus, dass die Lösung bestehender sozialer Konflikte eine Voraussetzung für eine positive massenhafte Veränderung der psychischen Struktur darstellt.

In einer sozialistischen Gesellschaftsstruktur und Ökonomie sah Reich die Grundlage für eine freie Entfaltung des Intellekts, der Persönlichkeit und der Sexualität.

In Verbindung mit den philosophisch-sozialwissenschaftlichen Konzepten K. Marx bezüglich seiner Entfremdungstheorie hoffte Reich, dass seine sexualökonomischen Thesen im Rahmen einer freieren, offeneren Gesellschaftsstruktur mit den Jahren realisiert werden könnten. Diese Wendung zur Politik hin, stand zu seinem eigentlichen Streben, der Psychoanalyse, in keinem Gegensatz, da er davon ausging, dass es ebenso zum Aufgabenbereich der Psychoanalyse gehört zu ergründen, wie sich die Mechanismen gestalten, die einerseits das gesellschaftliche Sein des Menschen in seiner psychischen Struktur und andererseits in Ideologien umsetzen. Reich glaubte, dass die Psychoanalyse, unverwässert angewendet, die bürgerlichen Ideologien untergräbt.

Durch die beginnende Wirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre, erhoffte sich Reich konkret einen Umbruch bzw. eine Neuorientierung in der Arbeiterbewegung. Die Bewusstmachung individueller Unterdrückung, verbunden mit politischem Handeln waren die Beweggründe, Januar 1929 die "Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung" in Wien zu gründen (welche später in die Sexpol-Bewegung mündete). Diese Einrichtungen waren kostenlose Sexualberatungsstellen für Arbeiter und Angestellte.

Etwa zu der selben Zeit als die Sexpol-Bewegung entstand (Herbst 1931), formierten sich rund 80 andere Organisationen, welche alle für eine Sexualreform fochten (u.a. auch die "Weltliga für Sexualreform" unter der Leitung Magnus Hirschfelds). Insgesamt verfügten sie über rund 350000 Mitglieder. Reich machte den Vorschlag diese nebeneinander und zusammenhangslos arbeitenden Gruppen zu einer Einheitsfront zusammen zu schließen. Da die verschiedenen Reformbewegungen jedoch unüberbrückbare Differenzen aufwiesen, kam es nicht zu einer Fusion.

Die Sexpol-Bewegung verstand sich als sexualpolitische Bewegung unter der Schirmherrschaft der KPD. Sie erfreute sich, vor allem unter den Jugendlichen, größter Beliebtheit und zählte innerhalb kurzer Zeit an die 40 000 Mitglieder. In ganz Deutschland entstand bald ein Vielzahl von neue Beratungsstellen und therapeutische Kliniken.

Die Ziele der Sexpol- Bewegung waren :

  1. "Kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln an jene, die sie auf normalem Weg nicht erhalten konnten; intensive Aufklärung über Möglichkeiten der Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle, um der Notwendigkeit von Abtreibungen vorzubeugen.
  2. Völlige Aufhebung der bestehenden Abtreibungsverbote; kostenlose Schwangerschaftsunterbrechung in öffentlichen Krankenhäusern; finanzielle und medizinische Hilfe für Schwangere und junge Mütter.
  3. Abschaffung der rechtlichen Unterscheidung zwischen Verheirateten und Ledigen; Abschaffung des Tatbestands "Ehebruch". Scheidungsfreiheit. Ausschaltung der Prostitution durch Umerziehung; wirtschaftliche und sexualökonomische Reformen, um die Ursache der Prostitution zu beseitigen.
  4. Vermeidung von Geschlechtskrankheiten durch eine umfassende Sexualaufklärung und vor allem durch Förderung sexuell gesunder anstelle promiskuöser Geschlechterbeziehungen.
  5. Verhinderung von Neurosen und sexuellen Problemen durch eine lebensbejahende Erziehung; Ausarbeitung sexualpädagogischer Grundsätze. Errichtung therapeutischer Kliniken.
  6. Unterweisung von Ärzten, Lehrern, Sozialarbeitern usw. in allen relevanten Fragen der Sexualhygiene.
  7. Ersetzung der Strafen für sexuelle Vergehen durch therapeutische Behandlung. Vorbeugung gegen Sexualverbrechen durch verbesserte Erziehungsmethoden und durch die Schaffung der wirtschaftlichen Grundlagen für ihre Verwirklichung. Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Verführung durch Erwachsene." (Boadella 1988 : 86 f.)
Zudem setzte sich Reich innerhalb der Bewegung dafür ein, keine pornographische Industrie zu dulden, er kritisierte die gesellschaftliche Doppelmoral und unterstützte die Frauenbewegung, indem er massiv die ökonomische, wie auch sexuelle Abhängigkeit der Frauen anprangerte. Er forderte die Abschaffung des Gesetzes bezüglich der "ehelichen Pflichten", wandte sich öffentlich gegen den Missbrauch von Frauen als Sexualobjekt und sprach sich gegen lebenslängliche sexuelle Bindungen aus, ohne den Partner vorher sexuell kennen gelernt zu haben.

1932 wurden die Aktivitäten der Sexpol-Bewegung ausgebremst, als durch die Kommunistische Partei einige der populären Broschüren, welche Reich in beinahe regelmäßigen Abständen (und mit seinem eigenen Geld) drucken ließ, in der Jugendorganisation der KPD verboten wurden.

Im Mai 1933 emigrierte Reich aus politischen Gründen nach Kopenhagen. Sechs Monate später wurde er dort aus der Kommunistischen Partei nach drei Jahren aktiver politischer Arbeit ausgeschlossen. Die Kommunisten sahen in der Sexualpolitik Reichs einen "bürgerlichen Irrweg", der vom Klassenkampf eher ablenke; zudem wurde sein Buch "Massenpsychologie des Faschismus", welches in jenem Jahr erschien, als Angriff auf ihre eigene revolutionäre Politik gewertet. Ein weiterer Grund, welcher zum Ausschluss aus der Partei führte, war, dass Reich das bürokratische, unmenschliche Verhalten kommunistischer Hilfsorganisationen heftigst kritisierte, das ihm im nachhinein als "parteifeindliches und unkommunistisches" Verhalten angelastet wurde. (vergl. Boadella 1988 : 94 f.)

1934 wurde Reich beim Luzerner Kongress aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Abwesenheit seiner Person ausgeschlossen. Die Gründe hierfür waren vordergründig zunächst rein politische: Seine Parteimitgliedschaft bei den Kommunisten, sowie seine klare Gegnerschaft zur Ideologie und Praxis der Nationalsozialisten (die Psychoanalyse entschied sich 1934 beim Luzerner Kongress klar für ein Bündnis mit den Herrschenden). Bedeutend für den Ausschluss waren natürlich auch die radikalen und für die damaligen Verhältnisse revolutionären Thesen Reichs, welche eine thematische Konfrontation mit der Psychoanalytischen Gesellschaft unumgänglich machten und demnach als Provokation wirkten.

In späteren Jahren distanzierte sich Reich klar von kommunistischen Organisationsformen, und auch allgemein von der Politik. Er kritisierte speziell den Sozialismus als ein System, welches durch persönliche Machtgelüste motiviert sei, d.h. seine sozialistischen Thesen wurden seiner Meinung nach instrumentalisiert (d.h. sie sind nicht so gemeint wie gesagt und daher nicht verantwortungsvoll, sondern irreführend). Weiter kritisierte er, dass das sozialistische System um den Widerspruch zwischen der menschlichen Sehnsucht nach Freiheit und der menschlichen Unfähigkeit, diese zu erlangen, wisse; es benutze jedoch dieses Wissen zur Stärkung seiner eigenen Machtposition und bekämpfe diejenigen, welche sich an das Problem heranwagten. Politische Macht setzte Reich gleich mit institutioneller Autorität (vergl. hierzu Punkt 2.5.5.), welche unausweichlich die Unterdrückung anderer beinhalte. Mit dieser Erkenntnis zog sich Reich ein für alle Mal aus der politischen Welt zurück.

6.2.4. Die Massenpsychologie des Faschismus

"Das Volk wurde nicht von Hitler unterworfen, sondern Hitler wurde durch das Volk gemacht" (Reich 1997 : 338)

"Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein... (ein Zitat Hitlers, aus Chamberlain 1997 : 156)

Reich setzte sich unter dem Druck des nahenden Faschismus bereits recht früh mit dessen Strukturen auseinander. 1933 erschien sein Buch "Massenpsychologie des Faschismus", in welchem er sich mit der psychologischen Struktur der Beteiligten auseinandersetzte, durch die diese politische Bewegung realisiert werden konnte ("Jede Gesellschaftsordnung schafft sich diejenigen Charakter, die sie zu ihrem Bestand benötigt." (Reich 1989 : 12)).

Seine konkrete Frage diesbezüglich war, wieso angesichts der massiven Krisen des Kapitalismus der große Teil der unterdrückten, verarmten und hungernden Massen der Bevölkerung nicht zur Revolte drängte, sondern seiner eigenen bevorstehenden Unterdrückung euphorisch zujubelte?

Das massenpsychologische Fundament zur Entstehung des Faschismus begründete Reich durch einen lange währenden Prozess der Sexualunterdrückung, welcher in den Menschen bzw. in den Massen autoritäre und ängstliche Charakterstrukturen verankert und sie so unfähig macht, ihre Rechte wahrzunehmen und ihr Leben vor den Übergriffen durch Staat und unmenschliche Wirtschaft zu schützen. In der sexuellen Repression sah Reich die mächtigste Waffe des gesellschaftlichen Autoritarismus.

"Rebellische und sexuelle Antriebe werden gleichermaßen mit Angst besetzt, da sie für das Kind unentwirrbar miteinander verknüpft, von den Erziehenden beide in gleicher Weise unterdrückt wurden. Furcht vor der Revolte und Furcht vor der Sexualität sind in der Charakterstruktur der Massen in gleicher Weise verankert" (Sharaf 1994 : 194) Dieses Phänomen wird auch als "Irrationalität der Arbeiterklasse" bzw. als "die Macht der Traditionen" bezeichnet.

Die faschistische Ideologie weist nach Reich drei grundlegende Elemente auf, welche an die unbewussten Ängste und Phantasien rührten und somit prädestiniert waren, Menschen zu manipulieren:

  1. Die Rassentheorie
  2. Sie unterscheidet klar zwischen Gut und Böse ("Reinheit des Blutes"), wobei sich die Menschen mit dem Arier-Mythos identifizieren konnten und ihnen somit ein Gefühl von Schutz, Reinheit und Sicherheit verliehen wurde (Krankheit, Unreinheit und Sexualität wurden den minderwertigen Randgruppen zugeschrieben). Es entstanden die "Sündenböcke", an welchen Menschen ihren Hass "abreagieren" konnten, der sowohl in ihrer sexuellen Misere, wie auch in ihrer wirtschaftlichen Not fußte.

  3. Die Familienideologie
  4. Die patriarchische, autoritäre Familienstruktur der damaligen Zeit erwartete von ihren Kindern absoluten Gehorsam und versuchte, die Vorstellung der gegenseitigen Verpflichtung durchzusetzten. Die faschistische Ideologie verband den Stolz auf die eigene Familie mit dem Stolz auf die eigene Rasse und Nation. Mutter und Vater wurden dabei durch Hitler und die Nation ersetzt, dem man Treue und Gehorsam schuldete. Damit impliziert der Faschismus dem unselbständigen, gehorsamen Kind durch emotionale Unselbständigkeit, eine engere Bindung an den Staat, als an die eigenen Familie. Diese Charakterstruktur lässt nun kein Aufbegehren gegen den Staat mehr zu, und ihr latenter Hass wird auf untere Machthierarchiegruppierungen abgelenkt. So gelang es Hitler, sowohl die Fixierung auf, als auch die Rebellion gegen die Familie für sich auszunutzen.

    Rebellische Gefühle der Jugendlichen gegen die Familie wurden ausgenutzt, indem man sie in politisch motivierte Jugendgruppen steckte. Die Akzeptanz des Faschismus wurde von traditioneller, deutscher Ehrfurcht vor- und Sehnsucht nach politischer Autorität gestützt (dem Gegenteil von rationaler Autorität). (zusammengefasst aus Boadella 1988 : 90 f.)

  5. Die Sexualfeindlichkeit
Hitler wusste, dass die menschliche Sexualität nicht nur genital ist und benutzte sexualpolitische Mechanismen, die sowohl Manipulations- als auch Bindungscharakter besitzen. Diese Politik der sexuellen Unterdrückung und gezielten Frustration ebnete ihm den Weg zur frühzeitigen Gewöhnung an eine totalitäre, machtorientierte Hierarchie, sowie deren Gehorsam.

"Ist die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreibt sie den Weg der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus" (Reich 1988 : 44)

Die daraus resultierenden massiven Aggressionen, setzte Hitler gezielt ein, um seine Rassenpolitik durchzusetzen und um eine Kriegsbereitschaft unter den Massen zu fördern.

"Er (Hitler) wusste, welche Loyalität er von Sadisten bekommen würde, wenn er ihnen erlaubte, ihre Mitmenschen herumzukommandieren, zu foltern und zu töten..." (Bornemann 1992 : 185 f.)

Hitler differenzierte klar zwischen dem Sexualitätsbegriff und dem Fortpflanzungsgedanken. Er machte letzteren zum Grundprinzip seiner Kulturpolitik und nicht das (ohnehin schwerer erreichbare) befriedigende Liebesleben. Der Faschismus war geprägt von sexuellen Beschränkungen und Tabus, lediglich im Hinblick auf ein zielgerichtetes Interesse der Rassenzüchtung durften Jugendliche ohne größere moralische Einschränkungen Geschlechtsverkehr haben (wobei die "Blutreinheit" gleichgesetzt wurden mit "Sündenfreiheit").

Soziale Randgruppen (z.B. Juden, Farbige, Franzosen) bekamen eine "sexuell-sinnliche" Bedeutung impliziert, d.h. ihnen wurde ein selbstbewusster Umgang mit ihrer eigenen Sexualität unterstellt. Dies stand im schmerzlichen Gegensatz zu den unbewussten Sehnsüchten der Massen nach sexueller Lebensfreude. Um sich diesen Frustrationen nicht stellen zu müssen, sah man sich gezwungen, diese Gruppierungen bekämpfen.

Die nationalsozialistische Erziehung definiert sich nicht allein nur durch die Gleichsetzung mit der autoritären Erziehung der patriarchischen Kleinfamilie. Der wesentliche Unterschied dieser beiden Erziehungsrichtungen ist der: Die autoritäre Erziehung kann als mögliche Folge ihres repressiven Charakters die Beziehungsunfähigkeit des Kindes haben. Das Erziehungsprogramm des Nationalsozialismus hingegen wurde bewusst so ausgerichtet, dass das Kind durch eine brutale und organisierte "Erziehung" beziehungsunfähig werden musste und sollte. (Chamberlain 1997 : 168 f.) Es fand eine früheste Disziplinierung des Kindes durch vollständige Missachtung aller seiner Gefühle, Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Fähigkeiten statt (z.B. Schreien lassen, Hungern lassen, sowie durch Ignorieren aller seiner Signale, wie Laute, Blicke, Mimik; durch Zensur jeglicher Äußerungen des Kindes). Das Kleinkind machte dadurch die Erfahrung, dass seine natürlichen Zustände und deren natürlicher Ausdruck etwas zu Bestrafendes seien. Erreicht wurde damit sowohl die Zerstörung des Urvertrauens, als auch die Zerstörung der Autonomie (einschließlich Intelligenz, kritisches Denken, die Fähigkeit, Lebenserfahrungen und Begabungen zu nutzen ect.), welches die Menschen wiederum an das totalitären Regime binden sollte. (Chamberlain 1997 : 139 - 142) Die grundsätzliche Haltung und Wertschätzung, welche dem Kleinkind in dieser Zeit zugedacht wurde, war zutiefst menschenverachtend; man förderte das innere Totsein des Kindes, um nachfolgende Todesbereitschaft der Jugendlichen im Krieg zu erzielen.

Diese Sichtweise der Entstehung eines "faschistischen Charakters" von S. Chamberlain, deckt sich mit den Erkenntnissen Reichs, wenn man berücksichtigt, dass Reich einen weitgefassteren Begriff von Sexualität hat.

Hitler operierte primär nicht mit dem Denken und Wissen der Menschen, sondern mit kindlichen Gefühlsreaktionen, wie z.B. Freiheitssehnsüchten. Er versprach die Aufhebung der individuellen Freiheit, zugunsten einer nationalen Freiheit. Die Menschen waren sofort bereit, diese nationale Freiheit, welche eine illusionäre Freiheit ist, gegen die persönliche einzutauschen. Diese Identifizierung mit der Idee der illusionären Freiheit enthob sie aus der Hilflosigkeit angesichts der gesellschaftlich chaotischen Zustände, und damit auch aus jeder individuellen Verantwortung, einschließlich der Angst davor; sie mussten sich nicht persönlich erheben und in Bewegung setzten. Diese Erstarrung und Hilflosigkeit der Massen veranlasste sie zu der mystischen Identifizierung mit ihrem Führer, um diesem dann projektiv das zu übertragen, was ihnen fehlte. (zusammengefasst aus Reich 1987 : 179)

Eine konkrete psychologische Aufarbeitung bzw. Vergangenheitsbewältigung faschistischer Strukturen (vor allem auch in der Erziehung) wurde nicht nur in Deutschland bis heute unzureichend angegangen. Der wiederaufkeimende Rechtsextremismus der heutigen Tage begründet sich noch immer auf die von Reich dargestellten Strukturen.

Wie bereits erwähnt sind die heutigen Familienstrukturen nicht mehr in dieser extremen Form von Autoritätshörigkeit geprägt wie noch vor 70 Jahren, sondern kennzeichnen sich eher durch Desorientierung, Unsicherheit, persönliche und gesellschaftliche Überforderungen, Ohnmachtsgefühle und oftmals Bindungslosigkeit(!). Kinder verinnerlichen diese Unsicherheiten und Ängste der Mütter bzw. Eltern und spiegeln diese in der eigenen, persönlichen Instabilität wider. In Peer-groups suchen sie oftmals eine Aufwertung ihres Selbstwertgefühls in dem jeweiligen, unmittelbaren Bezugssystem, verbunden mit dem Wunsch nach Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl.

Gleichzeitig setzt die moderne, leistungsorientierte Klassengesellschaft ihre Kinder unter einen enormen Druck. Die Rassentheorie zeigt sich in einem neuen Kleid, in der leistungsorientierten Gesellschaft, welche wiederum die Trennung in Gut und Böse bzw. heute in Gewinner und Verlierer unterteilt. Durch diese Leistungsanforderungen, verbunden mit Statusverunsicherungen und Absturz-Ängsten der Jugendlichen, werden die alten Strukturen des Aggressionsabbaus an Sündenböcken klar ersichtlich (Ideologie der Ungleichheit, um sich persönlich aufzuwerten).

Auch die Aggressionsbereitschaft bzw. der Sadismus fußt noch immer auf sexuellen Frustrationen. In der Neo-nazi-Szene gibt es einen eindeutigen Überhang an männlichen Mitgliedern, welche ihre eigene Sexualität zu einem großen Teil als sehr problembesetzt erleben. (vergl. hierzu Wendt 1993 : 20)

Diese Aggressionsbereitschaft ist jedoch auch das Abbild unserer gesellschaftlichen Beziehungen und der Medienwelt (man beachtet in diesem Zusammenhang den zunehmend wachsenden Stellenwert der medialen Beeinflussung in der Sozialisation unserer Kinder; verbunden mit deren Deformationsprozessen durch die zunehmende Brutalisierung, pornographische Sexualisierung und Kommerzialisierung).

Präventivmaßnahmen in Form von politischen und gesellschaftlichen Umdenkungsprozessen, aber auch in Form von demokratischen Ansätzen in der kommunalen Jugendsozialarbeit sind bezüglich dieses Themas dringend erforderlich. (vergl. hierzu Wendt 1993 : 13 - 30)

6.3. Die psychiatrische Orgontherapie

In den vorhergehenden Kapiteln wurde klar ersichtlich, welche Auswirkungen die emotionale Panzerung auf den Menschen, sein Umfeld und auf die gesamte Gesellschaftsform haben kann. Diese Panzerungen lassen sich jedoch weitgehendst in einem therapeutischen Prozess auflösen.

Reich baute die Vegetotherapie auf den Grundlagen der klassischen Psychoanalyse auf. Im Gegensatz zu dieser sah Reich den Menschen in seiner Gesamtheit als untrennbare Körper-Seele-Einheit, folglich behandelte er seelische Störungen fortan auch auf der körperlichen Ebene. Er entwickelte somit eine Methode, emotionalen Panzerungen auf der körperlichen Ebene systematisch aufzulösen und damit auch gleichzeitig psychische Störungen und Verkrampfungen abzubauen. Im Zuge dieser Therapie konnte Reich nachweisen, dass bestimmte Charakterzüge ihre Verankerung in jeweils ganz bestimmten körperlichen Verkrampfungen haben, die segmentartig über den Körper verteilt sind (Segmentpanzerungen). Einer bestimmten Charakterstruktur (Verhaltensmuster) entspricht somit mindestens eine bestimmte Struktur der Segmentpanzerung.

Unter Einbeziehung der Energiefunktionen und des expressiv-energetischen Körperbildes nannte Reich die Vegetotherapie um in psychiatrische Orgontherapie. Therapieziel ist die extensive Entpanzerung des Patienten (und somit die emotionale und energetische Wiederbelebung des Körpers), die Freilegung des menschlichen Kerns, verbunden mit einer verbesserten emotionalen Ausdrucksfähigkeit und Lebendigkeit, sowie eine intensivere Erlebnis- und (aber nicht nur sexuelle) Hingabefähigkeit (orgastische Potenz). Und um es umgangssprachlich auszudrücken: es geht darum sich wieder fallen lassen zu können. Die grundsätzlichen Behandlungsschritte sind: Stabilisierung, Integration und Identitätsbildung.

Die psychiatrische Orgontherapie praktiziert eine duale Herangehensweise: Die Gesprächstherapie verbunden mit der energetischen Körperarbeit.

Die körperliche Entpanzerung und die damit verbundene emotionale Entladung bedürfen einer Bewusstwerdung und daher auch einer konsequenten verbalen Aufarbeitung und Integration. Bei manchen Symptomen wie z.B. Schuldgefühlen ist die verbale Bearbeitung für dessen Auflösung unumgänglich. Auch können sich Panzerungen ebenso auf der gedanklichen Ebene manifestieren, z.B. in Form von intellektueller Abwehr.

Da die Methodik der Gesprächstherapie grundsätzlich bekannt ist (wenn auch individuell unterschiedlich angewendet), möchte ich gezielter auf die energetische Körperarbeit eingehen.

Grundlage der energetischen Körperarbeit ist die systemische Vernetzung zwischen Konflikten, abwehrend-bewältigenden Kommunikationsmustern (Charakterstrukturen) und entsprechend verspannten Muskelsystemen, die sich wechselseitig aufrechterhalten. "Zum Beispiel dient die flache Atmung zur Unterdrückung bestimmter Gefühle, die Muskeln, die sich für und durch das verhaltene Atmen ausbilden, verhindern nun wieder ein tiefes Atmen und damit auch intensivere Gefühle" (Kriz 1989 : 237)

Am häufigsten zeigt sich eine Panzerung in muskulären Spannungen. Reich entdeckte, dass es sieben Segmente im menschlichen Organismus gibt, in denen das freie Fließen von Energie durch Panzerung blockiert bzw. fixiert werden könne. Diese Manifestationszentren sind: Augensegment, Mundsegment, Halssegment, Brustsegment einschließlich Arme, Zwerchfellsegment, Bauchsegment und Beckensegment einschließlich Beine.

Bei Traumatisierungen kommt es zu einer Speicherung negativer (zumeist ängstlicher) Energien in den bestimmten Segmenten (oftmals manifestiert sich ein Gefühl auch in mehreren Segmenten; Wut kann sich beispielsweise in den Augen "widerspiegeln", durch Beißen, also den Mund ausgedrückt werden, durch die Stimme, durch Schlagen mit den Armen oder Treten).

Die Orgontherapie zielt darauf ab, dass der Organismus sich selbstregulatorisch durch Wiedererinnern (z.B. in Form von Flash-backs) und durch den Ausdruck des jeweiligen Traumas der Panzerung entledigen und diese auflösen möchte. Die Arbeit an dem jeweiligen Körpersegment unterstützt und fördert den freien emotionalen Ausdruck und somit das Loslassen verdrängter negativer Gefühle und Informationen. Dies äußert sich durch einen spontanen, physiologischen Entladungsreflex; ein den Körper durchdringendes Beben, welches von einem Glücksgefühl des Durchströmt-seins begleitet ist. Der Patient muss, bevor er zu seinem eigentlichen Kern vorstößt, zunächst seine jeweiligen hasserfüllten Anteile erkennen, fühlen und ausdrücken können.

Konzentriert man also die therapeutischen Bemühungen direkt auf die körperlichen Ausdrucksformen, kann der Vorgang der Freisetzung der unterdrückten Affekte wesentlich effizienter unterstützt werden. Dies sollte jedoch nicht künstlich forciert werden (wie in manchen Neo-Reichianischen Therapieformen z.B. Skan).

Der Therapeut sollte dabei so wenig wie möglich deuten und analysieren, sondern sich in erster Linie an die zu beobachtenden Phänomene halten. Der Weg zu den frühen Traumata darf nur systematisch und in dem individuellen Tempo des Patienten freigelegt werden.

Die folgende Systematik hat logische Gründe und gehört zum wesentlichen Bestandteil der Methodik der psychiatrischen Orgontherapie:

  1. "Die Panzerung in den höheren Segmenten bindet Energie, die für die Auflösung der Panzerung in den unteren Segmenten notwendig sind.
  2. Die am tiefsten sitzende und stärkste Angst (Sexualangst) steckt im Beckensegment, und wir tasten sie nicht an, bis der Patient genug emotionale Kraft und Energie aus seiner Auseinandersetzung mit den Ängsten der oberen Segmente gewonnen hat.
  3. Die Panzerungsschichten haben sich von innen nach außen entwickelt, sie wurden im Laufe der individuellen Geschichte und Entwicklung von innen nach außen aufgeschichtet." (D. Fuckert 1997 : 142)
Der letzte Punkt bedeutet, dass Symptome in der umgekehrten Reihenfolge zur historischen Entstehung aufgearbeitet werden müssen, die jüngsten zuerst.

Um einen kleinen Einblick in die Praxis und Methode der Orgontherapie zu vermitteln, versuche ich stichpunktartig die einzelnen Segmente darzustellen. Es ist jedoch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich die verschiedenen Segmente in der Realität wesentlich differenzierter, komplexer und systemischer darstellen, als nun in dieser Kurzfassung. Aus diesem Grunde sei auf die weiterführende Literatur am Ende des Kapitels hingewiesen.

Als Hauptmanifestationsort frühkindlicher Traumatisierung bezeichnete Reich das Augensegment. Alle Emotionen sollten voll durch die Augen ausgedrückt werden können, tiefe Sehnsucht, Traurigkeit, heftige Angst, vernichtende Wut ect. In diesem Augenausdruck spiegelt sich dann das Ausmaß der Integration wieder ("die Augen sind der Spiegel der Seele"). Sind die Augen nicht in Kontakt mit der Außenwelt (in ihrer Bewegung und emotionalem Ausdruck eingeschränkt), hat dies nach orgontherapeutischer Auffassung mit der Unfähigkeit zu tun, Reales von Unrealem zu unterscheiden und spiegelt das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt wider. An der Auflösung der Augenpanzerung kann man arbeiten, indem man Patienten auffordert, jede ihnen mögliche Emotion auch mit den Augen auszudrücken. Man kann auch versuchen sie wieder "in diese Welt" zurückzuholen, indem erstarrte Augen durch Bewegungsübungen vitalisiert werden.

Das Mundsegment äußert sich primär in der Stimme (wimmernde oder bellende Stimme z.B.) und in den verschiedenen Arten des Lächelns und des Mundausdrucks (verkniffene, dünne, gepresste Lippen, zynisches Lächeln, erstarrtes Dauerlächeln ect.) Durch das Imitieren der Stimme oder des Gesichtsausdrucks kann der Therapeut z.B. dem Patienten diesen Ausdruck aufzeigen. Auch Beiß- und Stimmübungen gehören in diesen Bereich.

Am Halssegment offenbart sich z.B. Hartnäckigkeit oder Hochmut (und damit der Versuch den Kopf vom restlichen Körper abzutrennen). Probleme in diesem Bereich hängen zumeist auch mit der Unfähigkeit zusammen, tief weinen zu können oder laut zu schreien, sie sind oft mit dem Laut-sein verbunden. Um die unterdrückte Wut bzw. Angst hervorzulocken, die sich dahinter verbirgt, kann der Therapeut z.B. die verspannte Halsmuskulatur massieren (mit unter auch bis kurz über die Schmerzgrenze) und/oder den Patienten laut schreien lassen.

Das Brustsegment ist ein bedeutender Panzerungsbereich, da die volle Ausatmung für den Ausdruck aller Emotionen eine wichtige Rolle spielt. Tiefe Emotionen gehen immer einher mit tiefer Atmung (ob in Leidenschaft oder in Zorn). Bei Angst halten wir den Atem an ("man bekommt keine Luft mehr" oder hat das Gefühl von "zugeschnürt"-sein), um so die intensiven Emotionen abzuschwächen. Atmung führt dem Körper Energie zu und erhöht so die emotionale Intensität. Atemübungen (Vertiefung des Atems) sind deshalb auch ein zentraler Bestandteil der therapeutischen Praxis. Bei diesen Übungen kommt es häufig zu dem energetischen Phänomen, dass es an verschiedenen, individuell unterschiedlichen Stellen des Körpers anfängt zu kribbeln. Dieses Kribbeln, welches nicht in Körperregionen dringt, die stark gepanzert sind, ist eine Strömungsempfindung der Orgonenergie. Verbunden mit diesen energetischen Körperempfindungen und durch die vertiefte Atmung ist der Patient in der Lage, intensive Emotionen wieder zu fühlen, oftmals können sich Patienten bei solchen Übungen an traumatische Situationen wieder erinnern, welche lange Zeit verdrängt wurden.

Das Zwerchfellsegment wird bei allen austreibenden Vorgängen benutzt (Niesen, Weinen, Husten, Lachen, Erbrechen ect.). Es kann tiefe Wut binden, Weinen unterdrücken und das Erbrechen beim Würgereflex blockieren und eine volle Ausatmung verhindern.

Im Bauchsegment manifestiert sich in erster Linie die Angst. Zumeist wird der Bauch in Angst fest angespannt und so gehalten. A.S. Neill liebte es z.B. seine Schüler in steife und weiche Bäuche einzuordnen, grob gesagt in Ängstliche und Selbstbewusste.

Die mit dem Beckensegment verbundene Panzerung ist in unserer Kultur praktisch universell (vor allem durch rigides Sauberkeitstraining und die dahinter stehende sexualverneinende Grundhaltung unserer Gesellschaft) und verhindert die uneingeschränkten energetischen Strömungsempfindungen in den Genitalien. Die Menschen empfinden dieses Phänomen als Lust- oder Orgasmusangst (dieser Begriff ist identisch mit der Angst vor Kontrollverlust oder vor dem sich-fallen-lassen-könnens). Die massiven Ängste verhindern die Fähigkeit der (nicht nur - aber auch sexuellen) Hingabe und ist gleich zu setzten mit orgastischer Impotenz.

Dies äußert sich in der Einschränkung von Empfindungen im ganzen Beckenbereich und in den Genitalien (bei Frauen sind z.B. vaginale Empfindungen oft stark eingeschränkt, die sexuelle Stimulation ist dann hauptsächlich auf die Klitoris beschränkt; Männer erleben nicht nur den Penis als eingeschränkt empfindungssensibel, sondern ebenfalls den gesamten Beckenbereich). Es sollte jedoch nochmals betont werden, dass sexuelle Problematiken nicht isoliert angegangen werden, da sie Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit sind.

Das Auflösen der Beckenpanzerung ist die kritischste Phase und gleichzeitig auch der Beginn der Endphase in der Orgontherapie. Angstzustände können sich in dieser Phase noch einmal in bisher noch nicht da gewesener Intensität zeigen. Deshalb ist es wichtig dieses Segment zum Schluss anzugehen, um sicherzustellen, dass die größtmögliche Energiemenge für diesen Prozess der Entpanzerung zur Verfügung steht (und nicht z.B. durch manifestierte, massive Wut an anderen Segmenten abgezogen wird). Durch Atem- und Körperübungen wird in diesem Segment gearbeitet und Ziel ist der freie Fluss von Energie in diesen Bereich und die damit verbundene Wiederherstellung orgastischer Potenz. Die Gefühle und Empfindungen, die während der Körperarbeit auftreten, teilt der Patient dem Therapeuten mit. Umgekehrt teilt der Therapeut seinen Patienten die Emotionen mit, welche aus der Körperhaltung, Mimik ect. ersichtlich sind. Oftmals führen die angesprochenen Gefühle zu unerwarteten heftigen Gefühlsregungen: "Plötzlich wird die explosive Wut frei, die hinter dem gefrorenen Lächeln eingesperrt war; oder die tiefe Sehnsucht, die sich hinter der rigiden Starre versteckte, löst sich in Zittern und Tränen auf. Mit den Gefühlen kommen auch die verdrängten Erinnerungen hoch und können im Gespräch verarbeitet werden" (Federspiel, Lackinger, Karger 1996 : 453)

Die Rolle des Therapeuten ist in diesem Prozess von erheblicher Bedeutung (sie wurde in früheren Zeiten und auch von Reich unterschätzt). Die Intensität und Echtheit der therapeutischen Beziehung ist zu einem großen Teil für den positiven Verlauf der Therapie verantwortlich. Da das Medium des Therapeuten u.a. visueller Kontakt, Körpersprache und Berührung ist, setzt dies eine permanente Wachsamkeit und Präsenz des Therapeuten voraus; eine Gruppentherapie ist u.a. auch deswegen undenkbar.

Eine weitere wichtige Rolle spielen in der Orgontherapie die Übertragungs- und Widerstandsmechanismen, mit denen sich sowohl der Therapeut, als auch der Patient auseinandersetzen muss.

Frau Dr. D. Fuckert, eine langjährig praktizierenden und eine der führenden Orgontherapeuten der BRD, beschreibt die zu beobachtenden Veränderungen, zu denen es im Verlauf des beschriebenen Therapie- und Entwicklungsprozesses kommt: "Die Patientinnen und Patienten gewinnen mehr Ich-Stärke, Abgrenzungsfähigkeit und Autonomie, sie werden selbstsicherer, kraftvoller, lebensfroher, extravertierter, emotional ausgeglichener, sozialer, bindungsfähiger und beziehungsfähiger. Diese "biologischen Kerneigenschaften" entfalten sich von selbst, von innen heraus, brauchen also nicht angelernt werden. Gegen Ende dieses Entwicklungsprozesses stellt sich die natürliche Fähigkeit zur Hingabe und damit zu dauerhaften Liebesgefühlen mit sexuellem Genuss von selbst ein." (D. Fuckert 1999 : 146 f.) Es sei jedoch auch anzumerken, dass leider nur sehr wenige dieses endgültige Therapieziel der vollständigen orgastischen Potenz erreichen. Man sollte daher bezüglich seiner eigenen Grenzen realistisch bleiben und eine Therapie nicht als Allheilmittel für persönliche, oder globaler gesehen, als gesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten par excellance sehen.

Die orgontherapeutische Technik ist deswegen sehr wirkungsvoll, weil sie wie kaum eine andere Therapieform emotionale Tiefe erreicht. (zusammengefasst aus M. Herskowitz 1996; D. Fuckert 1997 : 138 - 162; D.Fuckert 1994 : 66 - 79; K. Federspiel, I. Karger 1996 : 450 - 454)

Für das praktische sozialpädagogische Arbeitsfeld, kann dieses Wissen über Verpanzerungen und deren Zusammenhang mit dem körperlichen Ausdruck von erheblicher Bedeutung sein. Auch wenn besonders Laien das voreilige Deuten und Analysieren vermeiden sollten, so kann doch dieses orgonomische Wissen, sofern der Blick dafür offen und sensibilisiert ist, einige Einblicke in den jeweiligen Gemütszustand bzw. in die psychische Struktur des Gegenübers geben.




Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
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Fortsetzung: 7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten




Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
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Fortsetzung:
7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten und 8. Leben und Werk W. Reichs