paed.com
 Kontakt
 Impressum
 Home
Summerhill
Aktuelles
Homepage UK
Austausch/Forum
Besucherinfos
Bilder
Biografien
A.S. Neill
Lilian Neustätter,
Ena Wood/Neill
Zoë Neill/Readhead
Anfänge
DE: Hellerau
AT: Sonntagberg
EN: Leiston
EN: Festiniog
Pädagogik
Medien/Literatur
von und über Summerhill und Schulkritik
Summerhill und die Situation 100 Jahre später


Medien
Literatur
Literatur

Literatur & Medien

(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (2.5 1921-1924: Schulgründung auf dem Kontinent - Dresden-Hellerau und Sonntagberg)
Fortsetzung (2.8 1945-1946: Familiengründung)


2.6 1924-1940: Summerhill in Lyme Regis, seit 1927 in Leiston

Mit den aus ihrer Internationalen Schule mitgebrachten fünf Kindern errichteten Neill und Frau Neustätter an der englischen Südküste im Haus Pine Crest auf dem Summer Hill in Lyme Regis/Dorsetshire ihre Summerhill School. Das Geld blieb auch hier extrem knapp.

Neill verstand sich längst nicht mehr als Pädagoge, sondern als Kinderpsychologe, und spezialisierte sich ausdrücklich auf Problemkinder. Sein 1926 veröffentlichtes Buch über Problemkinder The Problem Child versuchte in ernsthaftem Sachbuchton, Eltern ihre Fehler zu erklären, im Gegensatz zur bisherigen humoristischen, tagebuchartigen Dominie-Buchserie. Es erlebte innerhalb von zehn Jahren fünf Auflagen und bewirkte eine deutliche Erhöhung der Schülerzahl.

Hausmütter mussten angestellt wurden, häufig angehende Psychologiestudentinnen, später oft auch Ex-Summerhill-Schülerinnen, die die Schule noch nicht verlassen wollten. Diese Hausmütter waren erheblich wichtiger als das Lehrpersonal. Da das älteste Kind erst zwölf war, war es in Lyme anfangs schwer für die Erwachsenen, nicht zu bestimmen.

Die Schule hatte - der Spezialisierung gemäß - viele Problemkinder: Diebe, Lügner, Bettnässer, Kinder mit Wutanfällen und solche, die in Phantasiewelten lebten oder an extremer Eifersucht auf Geschwister litten. Viele waren von ihren Eltern missbraucht und missachtet worden. So schilderte Neill in einem wütenden Brief (in B. RUSSELL 1973, 287) einen soeben nach Summerhill gekommenen verstörten inkontinenten Jungen, den seine Mutter zu kurieren versucht hatte, indem sie ihn zwang, seine eigene Scheiße zu essen. Neill befreit ihn mit Belohnungen in zwei Wochen von der Inkontinenz. Viele gestörte Schüler kamen auch von den Public-Schools mit ihrer betont harten Erziehung. So schrieb Reverend Lyttleton, der frühere Direktor von Eton, 1925 in einem Leserbrief:

    "Kinder gehen zur Schule mit der Überzeugung, dass sie ein Recht hätten, glücklich zu sein, dass Gott ihnen eine gute Zeit bereiten wird. Dies ist eine Perversion der wahren Religion, der Selbstverleugnung und des Gehorsams." (CROALL 1984, 141 f.; Übersetzung von mir)

Neills Ziel war eine freie Umgebung, die es Kindern erlaubte und sie dazu ermutigte, ihre Phantasien bewusstzumachen und zu äußern, über ihre Ängste zu sprechen und auch ihre Aggressionen auszuagieren, um sich so von ihren emotionalen Problemen zu befreien. Während für Neill die freie Atmosphäre die Hauptbedingung für die Heilung in Summerhill war, schrieben Beobachter sämtliche Erfolge (ebenso wie zuvor bei Lane) Neills besonderer Persönlichkeit zu.

Während der Zeit in Lyme Regis wurden die Neustätters offenbar freundschaftlich geschieden, Frau Neustätter wurde nun mit ihrem Mädchennamen Mrs. Lindesay oder kurz Mrs. Lins genannt.

Um der Gefahr moralischer Angriffe gegen die Schule vorzubeugen (Schulleiter lebt in wilder Ehe ...) und um für Mrs. Lins die britische Staatsbürgerschaft zurückzugewinnen (kleinliches Melderecht für Ausländer, Arbeitserlaubnis, Ausweisungsgefahr), heirateten Neill und Mrs. Lins 1927 und teilten diese reine Formsache nachträglich ganz nebenbei der Schule mit. Nach der Heirat unternahmen sie zu viert mit Otto Neustätter und seiner neuen Frau Helen eine verspätete Hochzeitsreise und später viele Urlaube zu viert. Neill und Mrs. Lins bewunderten und achteten einander sehr und bildeten weiterhin ein - unerotisches und unsexuelles - hervorragendes Arbeitsgespann. Angriffe gegen seine Frau waren am ehesten geeignet, Neill wütend zu machen.

In der Literatur zu Summerhill spielt Mrs. Lins praktisch keine Rolle, was Neill im Nachruf nach ihrem Tod mit ihrer Publicity-Scheu begründete. Für und in Summerhill aber mag ihre Bedeutung die Neills sogar übertroffen haben: Sie war die Mutter für die Kinder wie für das Personal und trug ganz wesentlich dazu bei, dass die Kinder sich hier zu Hause fühlten. Sie schaffte eine kultivierte, heimelige häusliche Atmosphäre, spielte abends Klavier, verfügte über Organisationstalent und praktische Fähigkeiten, organisierte die Hauswirtschaft, verwaltete das Geld, setzte auch die Reinlichkeits- und Ordnungsmaßstäbe, die Neill herzlich egal waren, handelte rasch und effektiv und verstieß dabei gelegentlich auch gegen das mühsam-langsame Selbstregierungs-Verfahren, indem sie Ordnungsaktionen einfach anordnete. Die Kinder hatten das Gefühl, ihr gehorchen zu müssen, und auch ein klein wenig Furcht vor ihr. Zwischendurch gab sie (ohne Lehrerin zu sein) Schulstunden in Geschichte, Englisch, Deutsch, Schreibmaschine und Kurzschrift.

Da der Mietvertrag bald ablief, kauften die Neills mit Hilfe von Freunden ein zwei Meilen von der Ostküste entfernt gelegenes altes Haus gegenüber dem jetzt stillgelegten Bahnhof von Leiston/Suffolk mit sehr großem Grundstück (11 acre = 4,45 ha). 1927 zog die Schule mit inzwischen 31 Schülern nach Leiston, wo sie noch immer besteht. Den Namen Summerhill behielt sie bei. Wegen Geldmangels musste sehr improvisiert werden. Vom Bahnhof, der Summerhill direkt gegenüber liegt, wurden alte Eisenbahnwaggons herübergeschafft und zu Zimmern umgebaut, die aber 1968 auf Anweisung der Schulinspektoren durch neue Baracken ersetzt werden mussten.

In Leiston wandelte sich die Schule vom Experiment zu einer Demonstration der - offenbar funktionierenden - freien Erziehung. Summerhill bildete gemeinsam mit den beiden anderen auf Kinderpsychologie aufbauenden Schulen, der von Bertrand und Dora Russell geleitete Beacon Hill School und dem von Bill Curry geleitet Dartington Hall, den äußersten linken Flügel der progressive schools, wobei Neill als der radikalste Vertreter galt.

Infolge der weiter wachsenden Schülerzahl (1934: 71 Kinder und 14 Erwachsene), änderte sich auch die Struktur der bisher recht informellen Vollversammlungen. Ein Kind übernahm den Vorsitz, die Zahl der Gesetze nahm zu und für häufigere Regelbrüche wurde ein System fester Bußen eingeführt. Außerdem wurden nun Beamte für verschiedene Funktionen bestellt.

Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, wo er ziemlich unbekannt geblieben war, war Neill in England und bald auch im Ausland ein recht bekannter Mann und gefragter Referent, der viele Vorträge hielt. Seine Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Die drei Jahre in Lyme Regis veränderten sein Bild in der Öffentlichkeit: aus dem humorvollen pfeifenrauchenden Schulmeister und Autor wurde ein ernsthafter und eifriger Bekehrer oder nach Meinung seiner Gegner: ein gefährlicher Kinderverführer. Einzelne Intellektuelle, Künstler und Linke schickten inzwischen ihre Kinder aus Überzeugung nach Summerhill und sahen die Schule nicht nur als letzte Möglichkeit, gestörte Kinder unterzubringen. Summerhill wurde Treffpunkt für viele künstlerische, literarische und wissenschaftliche Intellektuelle und war in den dreißiger Jahren ein Zentrum linker und antifaschistischer Aktivitäten. Zugleich wurde die große Besucherzahl ein (seitdem andauerndes) Problem.

Seit Homer Lanes Tod 1925 galt Neill unter den Lane-Schülern als sein legitimer Nachfolger: Sie hielten in den 20er Jahren in Leiston anhand von Mitschriften Lane- Wochenendseminare ab, an denen auch viele Summerhill-Lehrer und ältere Schüler teilnahmen. Lane war häufiges Gesprächsthema in Summerhill, und Neill und Mrs. Lins adoptierten nach Lanes Tod informell Olive Lane, ein verwaistes Kindergartenkind des Little Commonwealth, das Lane 1914 adoptiert hatte.

1932 veröffentlichte Neill The Problem Parent (Die Problem-Eltern). Seine Vortragsreise nach Südafrika im Sommer 1936 unternahm er auch mit der Absicht, dort ein südafrikanisches Summerhill zu gründen, das die Summerhill-Lehrer Cyril Eyre und Lucy Francis leiten sollten. Die Anfangsfinanzierung war durch einen Unterstützerkreis in Johannesburg bereits gesichert, doch wegen der massiven Opposition der extrem konservativen reformierten Kirche konnte das Projekt nicht verwirklicht werden.


2.6.1 Die Freundschaft mit Wilhelm Reich

Obwohl die Beziehung zu Homer Lane und zu Wilhelm Reich die wichtigsten und einflußreichsten Beziehungen Neills waren, wird das Jahr der ersten Begegnung mit Reich sehr widersprüchlich angegeben: 1935 (CROALL 1983), 1936 (HEMMINGS 1972), 1937 (NEILL 1982). Die von PLACZEK (deutsch 1989) veröffentlichte umfangreiche Korrespondenz der beiden beginnt am 22. März 1936.

Bei seinem Vortrag in Oslo lernte Neill, der gerade Reichs Massenpsychologie des Faschismus (auf deutsch) gelesen hatte, Reich persönlich kennen. Die beiden korrespondierten einige Monate, Neill las weitere Bücher Reichs, die ihn begeisterten. In den Weihnachtsferien 1937 besuchte Neill zwei Wochen lang Reich und hatte 10-12 Therapiesitzungen bei ihm. Auch 1938 und 1939 machte er einen längeren Therapie-Besuch, bevor Reich in die USA übersiedelte.

Neill hatte zeitlebens eine schwache Gesundheit, weswegen er sich seit den 20er Jahren mit Erfolg von einem befreundeten Heilpraktiker behandeln ließ und sich vegetarisch ernährte. Zu seinen Gesundheitsproblemen trugen psychische Probleme erheblich bei: Er konnte kaum Gefühle ausdrücken, konnte persönliche Konflikte und emotionale Forderungen Erwachsener schlecht ertragen und hatte nur sehr wenige enge Freunde. Trotz aller Hemmungen kam er nur schwer mit seiner Vernunftehe ohne Sexualität zurecht. Die Briefe an Reich zeigen, dass dies ein wesentlicher Grund für die Therapie war. Die nur wenige Wochen dauernde, auf Körpermassage beruhende Vegetotherapie bei Reich half Neill weit mehr als alle bisherigen Therapien bei Homer Lane, Maurice Nicoll und Wilhelm Stekel, deren Deutungen seine Gefühle kaum berührt hatten. Die Muskelverspannungen verschwanden und Neill lernte, seine Gefühle auszudrücken. Neill blieb seiner Ehefrau im allgemeinen treu, trotz der vielen jungen Frauen um ihn herum, die ihn verehrten und bewunderten. Eine großen Ausnahme davon war seine erste langandauernde, tiefgehende Liebesbeziehung: Im Alter von etwa 50 Jahren, Anfang der 30er Jahre, verliebte er sich heftig in die nach Summerhill gekommene junge Österreicherin Helga. Die Liebesaffäre blieb strikt geheim, obwohl Frau Neill vor 1936 davon erfuhr, und dauerte wohl bis 1938, als Helgas Loyalität zu Ehemann und Kind überwog und die Liebe in Freundschaft überging. Danach konnte Neill sich mit seiner Ehefrau arrangieren und erhielt sexuelle Freiheit. Neill hasste die Heimlichkeiten und hätte sich gern offen zu seiner Liebe bekannt, befürchtete aber, dass dies die Existenz der Schule gefährden würde, und dazu war er nicht bereit.

1938 veröffentlichte Neill die Kindergeschichte Last man alive (Die grüne Wolke) und 1939 das Buch The Problem Teacher, in dem er auch von seiner Anwendung ReichÕscher Erkenntnisse in Summerhill berichtete: Er beobachtete, dass die frei aufgewachsenen Kinder einen weichen, die moralistisch erzogenen Kinder einen brettharten Magen hatten, der sich aber in Summerhill parallel zu Befreiung der (zunächst aggressiven) unterdrückten Gefühle langsam löse.

In der Begegnung mit Reich lernte Neill, dass individuelle Therapie nutzlos ist, wenn die Gesellschaft dieselben Störungen gleichzeitig beständig weiterproduziert: um erfolgreich zu sein, musste Psychologie sich mit Gesellschaftsveränderung befassen. Er verlor das Interesse an Psychologie (sein früheres Hauptinteresse!), stellte seine Privatstunden (PL) zeitweise ein und praktizierte danach Reichs Massage-Technik. Zugleich nahm sein politisches Engagement zu (vgl. dazu Kapitel 4.3).

Trotz der wenigen persönlichen Begegnungen verband Neill und Reich eine sehr enge Freundschaft, die letztlich auf ihren unabhängig voneinander entwickelten sehr ähnlichen Erziehungs- und Gesellschaftsvorstellungen beruhte und durch intensiven Briefkontakt aufrechterhalten wurde. Brieflich diskutierten sie ihre Bücher ebenso wie die Entwicklung ihrer etwa gleichaltrigen Kinder. Neill und Reich teilten dieselben Voraussetzungen, dieselben politischen, psychologischen und pädagogischen Auffassungen (freiheitlicher Sozialismus, Psychoanalyse, anti-autoritäre Freiheitspädagogik) und schätzten ihre gegenseitige Arbeit sehr. Beide hatten dieselben Ansichten über die Krankheit der Gesellschaft und waren überzeugt, dass die Sexualunterdrückung von Kindheit an die Menschheit krank macht. Beide strebten durch eine freie Erziehung, welche Kinder schon von Geburt an als individuelle Menschen mit vollwertigen Persönlichkeitsrechten respektiert, die Entwicklung von sich frei selbst regulierenden Menschen an, die nicht feindselig und gewalttätig sein sollten. Sie verstanden sich unmittelbar, brauchten einander ihre Arbeiten nicht erst umständlich zu erklären oder gar zu verteidigen. Dabei blieben sie aber so unabhängig voneinander, dass keiner zum Schüler des anderen wurde.

Nicht mehr als Patient, sondern als sehr enger Freund besuchte Neill im Sommer 1947 und im Sommer 1948 Wilhelm Reich in Maine/USA. Als die drei Neills im Sommer 1950 erneut Reich besuchen wollten, wurde ihnen das US-Visum verweigert, weil Neill sich vor dem Krieg für den Kommunismus ausgesprochen hatte (und nach dem Krieg gegen jede kommunistische Diktatur). Neill war empört, zum Märtyrer einer fremden Sache gemacht zu werden, nicht wegen der sein Leben bestimmenden ureigensten pädagogischen Überzeugungen, sondern wegen der ihm viel ferner liegenden und zudem völlig missverstandenen politischen Ansichten benachteiligt zu werden.

Trotz der engen Freundschaft und gegenseitigen Bewunderung war Neill sich der Grenzen bewusst. Er stimmte den sozialen und politischen Ansichten Reichs vorbehaltlos zu, ebenso Reichs Theorien über die Verbindung von Körper und Psyche, vom Sitz der Neurosen in Muskelverspannungen (Charakterpanzer) und ihre Heilung durch Vegetotherapie. Für ihn blieb Reich stets der frühe Reich, der Autor der Sexuellen Revolution, der Funktion des Orgasmus, der Charakteranalyse und der Massenpsychologie des Faschismus. An den späteren, weitergehenden biologischen und physikalischen Ergebnissen Reichs, den obskuren biophysikalischen Orgon-Energie-Theorien, hatte Neill jedoch erhebliche Zweifel. Zwar versuchte er sich während des Krieges erfolglos am Bau eines Orgon-Akkumulators, bis Reich im April 1947 einen nach Summerhill sandte, und saß dann (ebenso wie andere) eine Weile täglich darin, und er versuchte auch, einige Freunde zu interessieren, doch diese erklärten Reichs Aussagen alle nach kurzer Beschäftigung für falsch.

Reich war ein sehr schwieriger, humorloser Mann, der seine Ideen für die einzige Hoffnung der kranken Gesellschaft hielt und überall Verschwörungen gegen sich und seine Arbeit sah. Ob oder ab wann und wie schwer Reich unter Paranoia litt, ist ein ständiger Streitpunkt zwischen Reich-Anhängern und Gegnern. Neill war durchaus klar, dass Reich schwierig und zuletzt auch verrückt [7] war, und lehnte Reichs Vorschlag, in Summerhill zu lehren, rundheraus ab, da er die Kinder geängstigt hätte, ebenso die Übersiedlung zu Reich in die USA.

Eine Art Ersatz für die Freundschaft mit Reich war die kurz nach Reichs Tod einsetzende, ebenfalls fast ausschließlich briefliche Freundschaft Neills mit dem ähnlich radikal denkenden Henry Miller, der die Welt ebenso - und ebenso sexuell - schockierte. Miller hatte sich sehr intensiv mit freier Erziehung befasst und (als einer von sehr wenigen Amerikanern) bereits etliche Bücher Neills gelesen.


2.7 1940-1945: Kriegsevakuierung in Wales

Nachdem die deutsche Wehrmacht im Mai und Juni 1940 die gesamte Kanalküste eroberte hatte und mit der Invasion Englands drohte, beschlagnahmte die Armee Summerhill für Kriegszwecke. Die ursprünglich geplante Verlegung zur landeinwärts gelegenen, von Dora Russell geleiteten Beacon Hill School war nicht mehr möglich, da diese infolge des Krieges selbst schließen musste. Die Kinder wurden vorerst heimgeschickt. In Sommer 1940 zog die Schule an den Rand des einsames Dorfes Ffestiniog im bombensicheren Nordwales in ein anfänglich fast unbewohnbares Haus, das erst nach und nach repariert werden konnte.

Da viele Eltern ihre Kinder nicht der Erziehung wegen, sondern zum Schutz vor Luftangriffen nach Wales schickten, war die Schule völlig überfüllt. Auch die Evakuierungs-Kinder waren häufig durch Kriegserfahrungen (Bombardierung ihrer Städte) schwer gestört.

Viele von Neills Schwierigkeiten in Wales lagen daran, dass seine inzwischen greise Ehefrau arbeitsunfähig wurde. Der Krieg zwischen ihren Vaterländern Deutschland und England und die Evakuierung hatten ihr sehr zugesetzt, sie wurde hochgradig verwirrt, schwierig und stark pflegebedürftig. Neill verbrachte viel Zeit mit ihr und zeigte eine bisher nicht gekannte Zuneigung, musste sie 1943 aber in ein Heim für Verwirrte bringen, wo er sie häufig besuchte. Nach gut einem Jahr starb sie dort am 30.4.1944. Neill widmete ihr einen gefühlvollen und dankbaren Nachruf in seinem neuen Buch Hearts not Heads in the School (NEILL 1945, 157- 161).

Summerhill konnte im Krieg nicht wählerisch sein, das durch Militärdienst und Internierung von Ausländern verlorene Personal zu ersetzen: viele waren unfähige, neurotische Käuze, weigerten sich, bei der Reparatur des Hauses zu helfen, brachten zudem Freunde, Verwandte und Lebenspartner zum stets knappen Essen mit. Die Betreuung der Kinder war in einigen Gruppen mangelhaft. Schließlich weigerte sich Neill, weiterhin therapeutische Privatstunden für Erwachsene zu geben.

Der in Wirtschaftsführung und Verwaltung weit weniger befähigte Neill musste die Arbeit seiner Frau mit übernehmen. Er war kaum fähig, das ewig unpünktliche Personal zur Ordnung zu rufen, Forderungen zu stellen, Vorschriften zu machen und übernahm Aufgaben im Zweifelsfall eher selbst, als andere dazu zu zwingen. Er war auch nahezu unfähig, Personal zu entlassen. So kam es vor, dass er sich entschied, eine Hausmutter zu entlassen und einen Ersatz anstellte, es aber nicht schaffte, dies der bisherigen Hausmutter mitzuteilen, sodass er schließlich beide Hausmütter beschäftigte. Ein anderer Bediensteter ignorierte mehrfach die Kündigung und blieb weiter beschäftigt.

Mit den fähigen Mitarbeitern hatte Neill ebenso schwere Probleme: In der Konkurrenz mit den fähigen, erfolgreichen, engagierten und beliebten jüngeren Kollegen entwickelte der inzwischen etwa sechzigjährige Neill eine doktrinäre starre Ablehnung aller neuen Ideen und bekämpfte jegliche kleine Abweichung von seiner Summerhill-Tradition.

In Summerhill herrschte zwar die radikale Selbstregierung, doch über das Personal war Neill der absolute Chef, der nach Gutdünken einstellte und entließ und der seit dem Ausfall seine Ehefrau als diktatorischer Boss wahrgenommen wurde, der zudem schlecht mit Erwachsenen umgehen konnte. Obwohl er prinzipiell mit solchen Modellen sympathisierte, weigerte Neill sich, die Schule in eine genossenschaftlich geführte umzuwandeln. Er wollte unter keinen Umständen die Leitung aus der Hand geben: "The established Jesus in Summerhill doesnÕt want any rivalsÓ (Neill in CROALL 1984, 328).

Sachlicher Hauptstreitpunkt war die Motivierung der Kinder zum Unterricht und die Bedeutung des Lernens sowie Neills anti-intellektuelle Haltung und aggressive Abneigung gegen die traditionelle Hochkultur (siehe Kapitel 3.2). Einige Lehrer verließen schließlich enttäuscht die Schule.

Im Kontakt mit Reich war Neill die Notwendigkeit einer Neurosenverhinderung durch Gesellschaftsreformen deutlicher geworden. Ein kleiner, aber wachsender Anteil der Lehrer begann, ähnliche Erziehungsvorstellungen zu entwickeln. Neill überwand seine Abneigung gegen Organisationen, organisierte eine Erziehungs-Konferenz für Lehrer und versuchte mit geringem Erfolg, eine Organisation aufzubauen.

Unter dem Eindruck des Krieges hatte er sich mit der Nachkriegs-Zukunft des Staatsschul-Systems befasst: Nach dem verheerenden Krieg zwischen Demokratie und Faschismus müssten die Überlebenden eine neue - sozialistische - Zivilisation ohne Klassentrennung und ohne imperialistische Eroberung aufbauen, wozu die bestehenden Schulen sie nicht befähigten. Mit dem während des Krieges verfassten Hearts not Heads in the School versuchte Neill, Einfluss auf das Erziehungsgesetz von 1944 zu nehmen, welches ein öffentliches Schulsystem für die Nachkriegszeit schuf. Das Buch konnte aber erst kurz nach Kriegsende erscheinen.

Neill forderte Schulen, in denen bereits die Schüler als freie Bürger einer neuen Welt leben können. Schule müsse sich auf das Unbewusste konzentrieren. Die im neuen Gesetz entworfene moderne Lernschule sei eine vorfreudianische Schule in einer nachfreudianischen Welt. Das Gesetz ließe offen, ob die Kinder in der Schule von Tyrannen beherrscht werden oder Freiheit zum Aufwachsen erhalten sollten, nicht einmal Prügel seien verboten worden (zum Rohrstock siehe Fußnote 21).

In der physischen Isolierung der hinterwäldlerischen Gegend mit der an seine Jugendzeit erinnernden engen Kirchenorientierung und Sonntagsheiligung, wo schon Engländer als Fremde galten und das unordentliche internationale Summerhill als Einrichtung der Sünder und Atheisten galt, war Neill häufig depressiv. Auch die chaotischen Kriegsverhältnisse, das langsame Sterben seiner Frau und die Angst vor einem Sieg des Faschismus setzten ihm zu, und die Depression förderte auch sein altes Nierenleiden wieder zutage.

Am 8. Mai 1945 war Deutschland endlich besiegt. Die hochdisziplinierte Armee hatte in fünf Jahren Gebäude und Gelände Summerhills weitaus gründlicher ruiniert als die antiautoritären Kinder in den dreizehn Jahren zuvor. Nach zweimonatiger Renovierung kehrten die Kinder im Herbst 1945 aus ihren dreimonatigen Ferien nach Leiston zurück. Neill betrachtete diesen Umzug als einen der glücklichsten Momente seines Lebens.



Fußnoten

[7] 1947 hatten feindlichen Zeitschriftenartikel Reichs Orgon-Akkumulatoren als Allheilmittel dargestellt, woraufhin das dafŸr zuständige Ministeriums wegen Kurpfuscherei bei Gericht ein Verbot der Akkumulatoren beantragte. Reich ignorierte dies, weil er u.a. in der Wahnidee lebte, in stillschweigender Übereinstimmung mit dem US-Präsidenten zu handeln. Nach einigem Aufschaukeln wurde er wegen Missachtung des Gerichts verurteilt zu 2 Jahren Haft und amtlicher Verbrennung der Akkumulatoren und aller Schriften, in denen eine Heilwirkung angedeutet wurde. Faktisch wurden restlos alle Schriften mitsamt der Privatbibliothek verbrannt. Am 3. November 1957 starb Reich im Gefängnis an einer Herzattacke.