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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
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Fortsetzung (1. Reformbewegung der Jahrhundertwende)


Einführung: Warum gerade Neill?

Der britische Pädagoge A. S. Neill wurde in Deutschland zur Zeit der antiautoritären 68er-Studentenbewegung bekannt als ein äußerst ungewöhnlicher, angeblich einzigartiger und unnachahmlicher Schulgründer und Pädagoge der 60er Jahre. Seine Heimschule Summerhill in England galt bei Freund und Feind als das Musterbeispiel antiautoritärer Erziehung schlechthin und wurde in der Öffentlichkeit heiß diskutiert: Das im Dezember 1969 erschiene rororo-Taschenbuch Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung erreichte bereits im September 1970 die Auflage von 500.000 und im März 1971 die von 750.000 Stück und liegt derzeit um 1,1 Millionen.

Als Neill 1967/68 in Deutschland bekannt wurde, war er bereits ein etwa 85jähriger Greis, der sein Lebenswerk längst hinter sich hatte. Es wurde in Deutschland kaum wahrgenommen, dass der wesentliche Abschnitt seines Lebenswerkes bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen lag und die wesentlichen Passagen seines Erfolgsbuches den dreißiger Jahren entstammen: Hier galt er weniger als bedeutender Reformpädagoge der Zwischenkriegszeit, sondern als brandaktueller Vertreter der Pädagogik der antiautoritären Studentenbewegung der 1968-Jahre, als isolierte singuläre Erscheinung der 60er Jahre.

Neill betonte stets deutlich, dass er seine Ideen und Methoden weitgehend von seinem 1925 gestorbenen, in Deutschland unbekannt gebliebenen Freund und Lehrer Homer Lane übernommen hatte. Damit steht Neill in der Tradition der reformpädagogischen Kinderrepublikbewegung, viele seiner Methoden waren keineswegs einzigartig, sondern gehören meist zum erprobten Repertoire einer freiheitlichen psychoanalytischen Pädagogik.

Die Beschreibung der Pädagogik Neills erfolgt in fünf Kapiteln; zwei historischen und drei systematischen. Das erste historische Kapitel gibt einen Abriß der gesellschaftlichen und pädagogischen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, an die Neill anknüpfte: psychoanalytische Pädagogik, Straf- und Gefängnisreformbewegung, demokratische und sozialistische Bestrebungen. Danach folgt eine Kurzdarstellung des freiheitlichen Stranges der reformpädagogischen Kinderrepublikbewegung.

Das zweite Kapitel beschreibt Leben und Werk Neills. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei deutlich auf der Zeit vor der (erneuten) Gründung der Summerhill-Schule 1924 in England, auf den entscheidenden viereinhalb Jahren in London und Dresden, die gut die Hälfte des Kapitels einnehmen. Ich lege großen Wert darauf, Neill vor allem als einen schon damals international bedeutenden und bekannten linken Vertreter der Reformpädagogik der Zwischenkriegszeit darzustellen: Als Mitherausgeber der international führenden reformpädagogischen Zeitschrift New Era, Mitbegründer des international bedeutendsten Reformpädagogen-Verbandes New Education Fellowship und Lehrer einer der bedeutendsten reformpädagogischen Schulen Englands, der King Alfred School, war er schon Anfang der 20er Jahre im Zentrum der internationalen Reformbewegung tätig und kannte alle Reformschulen Englands aus eigener Anschauung.

Zur Gründungsgeschichte Summerhills in Dresden habe ich - offenbar als erster - einige Forschungen angestellt, die Neills Darstellung wesentlich korrigieren (Name, Gründungsjahr) und die hier zusammenfassend referiert werden. Neills Schule baut auf einem Geheeb'schen Landerziehungsheim in der Dalcroze-Rhythmikanstalt in Dresden-Hellerau auf. Als sich 1923 dort die (finanziellen) Machtverhältnisse verschoben, wurde Neill offenbar vertrieben (was er systematisch verschleierte) und zog nach einigen Monaten in Österreich Mitte 1924 auf den Summer Hill in England. Summerhills Kurssystem dürfte auf diesem Wege von der Odenwaldschule übernommen worden sein, der damals wohl radikalsten reformpädagogischen Heimschule Deutschlands (Koedukation von Jungen und Mädchen im Heim!).

Von seinen ersten pädagogischen Veröffentlichungen 1915 bis zu seinem Tod 1972 war es immer derselbe zentrale Punkt, an dem Neill sich mit fast allen anderen (Reform-) Pädagogen überwarf, als Lehrer der King Alfred School, als Herausgeber der New Era, im Verhältnis zu Montessori und Paul Geheeb und auch zu seinen eigenen Anhängern: Stets ging es ihm um die radikale Verteidigung von persönlicher Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung, gegen normative Ansprüche von Autorität und Kultur (Moral, Sitte, Ästhetik, Religion, Sexualmoral). Im Gegensatz zu fast allen anderen Pädagogen wollte Neill die üblicherweise als selbstverständlich und notwendig akzeptierten subtilen, sanften Formen der Freiheitsbeschränkung nicht akzeptieren.

Als Vertreter der radikalen Reformbewegungen ihrer Zeit wurden Neill und andere radikale Praktiker der Kinderrepublikbewegung heftig angefeindet. Die gewaltsame und sehr emotionale und pauschale Reaktion vieler Erzieher (Eltern, Lehrer etc.) war weder verwunderlich noch unbegründet: Es ging nicht um die Reform einiger Einzelprobleme, sondern um den grundlegenden Ansatz, ums große Ganze. Neill stellte praktisch alle wesentlichen Grundüberzeugungen und Legitimationen der zeitgenössischen Erzieher in Frage: ihre Erziehungsziele, ihre Moralauffassung (freie Liebe und Jugendsexualität statt Ehe und Sexualunterdrückung!), ihre Religion, ihre Institutionen (Kirche, Armee, Ehe, Schule) ihre sozialen Werte (Schulerfolg, Bildung, Kultur, Ästhetik, sozialer Rang), die Erzieherautorität selbst, die Erziehungsmethoden, insbesondere das Recht zu strafen. Strafe und das absichtliche Erzeugen von Angst durch Strafdrohung bezeichnete er nicht nur als nutzlos und schädlich, sondern als Verbrechen. Gleichzeitig beschrieb er seine (in der psychoanalytischen Pädagogik häufiger beschriebenen) scheinbar paradoxen Mittel, etwa wenn er bestimmte Diebe (keineswegs alle; die meisten wurden milde bestraft!) für ihre Taten belohnte statt sie zu strafen. Solche Ansichten widersprachen radikal dem Alltagsverständnis und erschienen als Auf-den-Kopf-Stellen der Verhältnisse.

Als entschiedener Verfechter sowohl der persönlichen Freiheit, der Gleichberechtigung wie auch der kollektiven/gemeinschaftlichen Selbstbestimmung aller (auch junger und weiblicher) Menschen (Demokratie genannt) stellte er die grundlegen7 de gesellschaftliche Frage nach Herrschaft (und damit: Autorität, Macht, Strafbefugnis, Gewalt) neu und griff damit an die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung. Dementsprechend waren Neills Erziehungsvorstellungen und -praxis in Presse und Literatur äußerst heiß umstritten.

Die Meinungen tendierten zu den Extremen: zur völligen Verdammung oder zu begeisterter Zustimmung. Im Laufe dieser Diskussion wurde Neills Erziehung und Schule von rechten und linken Kritikern so ziemlich alles unterstellt, was überhaupt denkbar ist: Sie wurden bezeichnet als Bordell und als heiliger Ort, als kommunistisch revolutionäre Erziehung, als bürgerliche Anpassungserziehung und auch als bloß untätige, gewährenlassende Nicht-Erziehung.

Im dritten Kapitel werden Hauptmerkmale Summerhills - und damit der Pädagogik Neills - beschrieben: Selbstregierung, Freiheit des Schulbesuchs sowie Neills antiakademische Haltung, die Wandlungen der psychologischen Ausrichtung (Freud, Lane, Adler, Stekel, Reich) Neills, Betonung von Kunst und Kreativität, die freie Sexualität. Außerdem Neills problematische, weil Missverständnisse provozierende Wirkung in der Öffentlichkeit. Zuletzt werden die Untersuchungen über die Wirkung Summerhills auf seine Schüler referiert.

Im vierten (systematischen) Kapitel werden Neills theoretische Auffassungen näher erläutert: das Menschenbild, aus dem dann die individuelle Selbstregulierung des Kindes folgt, und Neills politische Auffassungen: der Freudo-Marxismus und die antiautoritäre Kulturrevolution allgemein und das Konzept von Wilhelm Reich speziell. Das Ergebnis zeigt deutlich, dass die verbreiteten Kategorisierungen Neills als laissez-faire Erzieher, bürgerlich und unpolitisch grundfalsch waren. Neills Lebenslauf weist ihn aus als aktiven Sozialisten und bedeutenden Reformpädagogen.

Neills Pädagogik galt weithin als laissez-faire-Erziehung. Im fünften und letzten (systematischen) Kapitel versuche ich zu zeigen, dass Neill, obwohl er Erziehung im Sinne planmäßiger Formung ablehnte, doch auf anderen Wegen mit ganz anderen Mitteln letztlich eine Art funktionales Äquivalent zu dieser Erziehung schafft. Die radikale Selbstregierung wird als eine bislang kaum wahrgenommene indirekte, Strukturbauende pädagogische (oder: antipädagogische) Methode beschrieben, bei der die Erzieher keine Erziehungsmaßnahmen ergreifen und scheinbar untätig sind (der übliche laissez faire- Vorwurf), tatsächlich jedoch höchst aktiv sind und Erziehungsstrukturen aufbauen, wobei diese Aktivität äußerlich nicht wie Pädagogik erscheint, sondern nur wie normales Leben. Die Erzieher belehren nicht, aber sie fördern systematisch das selbstständige Lernen.Auch Werte werden nicht gelehrt, sind aber in die Heimstruktur eingebaut. Hier geht es mir um die Betonung und die Beschreibung der bedeutenden Aufgaben der (keineswegs untätigen!) Erzieher.

Neill war dem Gros der Gesellschaft in vielem um ein halbes Jahrhundert (oder mehr) voraus: In der stärker demokratisierten und individualisierten heutigen Gesellschaft sind viele Ansichten Neills (Frauengleichberechtigung, freiere Jugendsexualität, unautoritärer Umgang) mehr oder weniger Allgemeingut geworden, sodass die Empörung gegen Neill in der stärker autokratischen Gesellschaft zu Anfang des Jahrhunderts, aber auch in den 60er Jahren, heute oft nur noch schwer nachvollziehbar ist. Mittlerweile sind die Popularität und die Aufregung um Neill und Summerhill längst abgeklungen und weithin sogar vergessen.

Trotzdem sind sie nicht nur unter historischen Begriffen wie Reformpädagogik, Psychoanalytische Erziehung, Antiautoritäre Erziehung zu fassen, sondern durchaus noch aktuell:

Themen wie Strafreform, individuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen, demokratische Erziehung, gemeinschaftliche Selbstregierung von Erziehungsheimen und Schulen durch Bewohner und Schüler bieten auch heute noch aktuellen Zündstoff und die Pädagogik von Kinderrepubliken kann hier als ein Beispiel dienen.