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Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: 2a Grundgedanken
Fortsetzung: 3 Kann die antiautoritäre Erziehungsbewegung als eine konsequente Weiterentwicklung bzw. als praktische Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik verstanden werden? und zum Kapitel 4. Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich




2.6. Schlüsselbegriffe und deren Bedeutung in der psychoanalytischen Pädagogik

2.6.1. Sexualität

Die psychoanalytische Pädagogik hat die Sexualerziehung zu einem zentralen Thema ihrer Diskussion gemacht. Frühkindliche Sexualität gilt als die treibende Kraft zur persönlichen, körperlichen und seelisch-geistigen Entwicklung. In der Sexualforschung gilt es als erwiesen, dass ein lustfeindlicher Erziehungsstil prägend ist für spätere Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung sowie in der Beziehungs- und Liebesfähigkeit (vgl. Ziebel-Luttmer 1972: 42)

"Folge einer autoritär-repressiven (Sexual-)Erziehung ist die Reproduktion autoritären Verhaltens, die Produktion des sado-masochistischen Charakters, sowie der autoritären Persönlichkeit."(vergl. Auchter 1973: 56)

Es geht hierbei weniger um punktuelle Aufklärung, Sexualerziehung sollte vielmehr ein selbstverständlicher Bestandteil des gesamten Erziehungsprozesses sein.

Konkret kann man die Zielsetzungen bezüglich der Sexualerziehung in folgende Punkte zusammenfassen:

  1. Förderung der Geschlechtsidentität und damit Erziehung zur Liebesfähigkeit

  2. Akzeptanz der kindlichen Sexualität, Enttabuisierung und Aufklärung

  3. Gewährung des kindlichen Forscherdrangs (z.B. in der kindlichen Onanie)

  4. Ausbalancieren zwischen dem Wunsch nach Triebbefriedigung und der Triebversagung

  5. Schaffung von Sublimierungsmöglichkeiten

  6. Förderung der Entwicklung eines starken Ich

Unter Geschlechtsidentität versteht man die individuelle Identifikation und die Freude und Lust an seinem Geschlecht, verbunden mit der natürlichen Beziehungs- und Liebesfähigkeit. Gemeint ist hierbei keine unkritische Anpassung an gesellschaftliche Geschlechterrollen und kulturelle Rollenerwartungshaltungen.

Jedes Geschlecht beinhaltet neben den eigenen auch gegengeschlechtliche Anlagen. Ziel ist es nun, sich mit beiden Geschlechtsidentitäten auseinander zusetzen, beide Anlagen anzunehmen, bejahen zu können und seine individuelle geschlechtliche Identität zu verwirklichen (vgl. Auchter 1973: 70). Diese Fähigkeit, sich selbst als Frau bzw. Mann annehmen zu können, bildet die Basis für eine spätere Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Diese Liebesfähigkeit des Menschen setzt notwendigerweise ein "gesundes" Sozial- und Kommunikationsverhalten voraus. Die Achtung des Partners wird auch bedingt durch das eigene Selbstwertgefühl und die Selbstachtung.

E. Erikson definierte in seiner "Utopie der Genitalität" den Begriff der Liebes- und Beziehungsfähigkeit:

"Wechselseitigkeit des Orgasmus mit einem geliebten Partner des anderen Geschlechts, mit dem man wechselseitiges Vertrauen teilen will und kann und mit dem man imstande und willens ist, die Lebenskreise der Arbeit, der Zeugung und der Erholung in Einklang zu bringen, um der Nachkommenschaft ebenfalls alle Stadien einer befriedigenden Entwicklung zu sichern." (Auchter 1973: 69)

Die hier angesprochenen emotionalen Fähigkeiten, werden primär von den Eltern vermittelt. Eltern besitzen Vorbildcharakter und je befriedigender und lebendiger die (sexuelle) Beziehung der Eltern ist, desto positiver wirkt sich dies auf die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit aus.

Für gewöhnlich treten in der ödipalen Phase auch die ersten Fragen über Geburt und Zeugung auf. Diese Fragen über Sexualität und Menschwerdung sind Ausdruck kindlicher Neugier und Forscherdrang und sollten daher auf jeden Fall beantwortet werden. Das Kind wertet die Aufklärung als Erlaubnis, sich mit der Sexualität auseinandersetzen zu dürfen, was wiederum nicht zuletzt auch ein Liebes- und Vertrauensbeweis an die Eltern ist.

Eine Tabuisierung sexueller Fragen kann sich negativ auf die emotionale und intellektuelle Entfaltung des Kindes auswirken. Sexualität und Triebansprüche können dann als etwas Verbotenes, Böses oder Unerlaubtes angesehen werden, etwas, das Schuldgefühle provoziert und eventuell gar nicht wahrgenommen werden darf, d.h. verdrängt werden muss. Wird diese Neugier in sexuellen Fragen nicht ausreichend gestillt, so kann das Kind an diese Phase fixiert bleiben.

Bereits 1912 entbrannte in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung die Diskussion um die kindliche Onanie. Die Ergebnisse sind heute weitgehend theoretisch akzeptiert worden, die Praxis ist jedoch auch heute noch von emotionaler Abwehrhaltung und Verschleierung geprägt (wobei sich die Form der Sexualabwehr von der damaligen zur heutigen Zeit geändert hat, anstatt absoluter Tabuisierung tritt heute Intellektualisierung, Affektentleerung und Verleugnung der emotionalen Betroffenheit) (vgl. Trescher 1990: 47).

Unterschieden wird in drei entwicklungspsychologische Onanieperioden:

Die Säuglingsonanie, sie wird als reflexartige Reibung des Genitals beobachtet, zumeist im Rahmen der Reinigung.

Für die Phase der Onanie des Ödipusalters wurden die körperlichen Grundlagen der genitalen Reize noch nicht ausreichend erforscht. Man geht davon aus, dass das Kind in diesem Alter seinen Körper neu wahrnimmt und geschlechtlich erforscht. Diese Phase ist hochsensibel, bei dem die infantile Sexualbetätigung tiefe, unbewusste Eindrucksspuren hinterlässt.

Die Pubertätsonanie resultiert aus zunehmendem sexuellen Körperbewusstsein und geschlechtlicher Neugier. Sie führt zudem zu einer schubartigen Reifung des Geschlechts-apparates.

Die Onanie ist entsprechend der einzelnen Phasen für die psychische und physische Reifung von Bedeutung. Sie ist Lustgewinn am eigenen Körper und erfüllt u.a. bei Kleinkindern oftmals die Funktion, Trost zu spenden (vergl. Trescher 1990: 47).

Über das Problem der angemessenen Didaktik der Enttabuisierung und Aufklärung wurde viel diskutiert. Es kristallisierte sich heraus, dass das Kind erst mit dem Themenkreis Sexualität konfrontiert werden soll, wenn es die entsprechenden Fragen darüber stellt. Der Umfang der Antworten sollte sich unmittelbar auf die Frage beziehen. Zullinger wies 1928 darauf hin, dass man dem Kind nichts sagen und nichts aufdrängen sollte, was es noch nicht wissen will und nicht verstehen kann. (vgl. Trescher 1990: 45) Bei den Antworten ist Offenheit und Aufrichtigkeit geboten. Das Wissen um die sexuellen Vorgänge sollte nicht explosiv auf das Kind eindringen, sie sollten in ihm wachsen können.

Die psychoanalytische Pädagogik warnte schon früh davor, bei dem Thema der Tabuisierung von Sexualität in das andere Extrem zu verfallen. Zum einen sollte die Aufklärung das gesamte Feld der menschlichen Beziehungen und ihre Konflikte miteinbeziehen, zum anderen ist eine frühzeitige und übermäßige Reizung der kindlichen Sexualität oder betonte Sexualbejahung einer natürlichen Sexualentwicklung ebenso wenig nützlich, wie Tabuisierung und Sexualablehnung.

Kinder sollten keinen elterlichen Geschlechtsverkehr miterleben. Koitusbeobachtungen können von den Kindern als sadistische Handlungen aufgefasst werden (der Vater "vergewaltigt" die Mutter), was wiederum kindliche Ängste erzeugt und traumatische Folgen (z.B. Sadismus) haben kann.(vgl. Freud 1972: 102)

2.6.2 Aggressionen

Definition: lat. (affektbedingtes) Angriffsverhalten, feindselige Haltung eines Menschen oder eines Tieres als Reaktion auf eine wirkliche oder vermeintliche Minderung der Macht mit dem Ziel, die eigene Macht zu steigern oder die Macht des Gegners zu minimieren. (Duden 1990)

Diese umgangssprachlich recht eng gefasste Definition von Aggressionen spiegelt die ausschließlich negative Besetzung des Begriffes in dem gesellschaftlichen Leben wieder. Die verschiedenen aggressiven Ausdrucksformen werden demnach nicht differenziert, sondern zielen absichtlich auf Verletzungen und Schädigungen.

In der psychoanalytischen Pädagogik hingegen werden Aggressionen zunächst als wertfreie und neutrale Triebe angesehen, welche nicht ausschließlich als schlecht oder böse zu bewerten sind. Der Begriff "Aggression" wird stärker differenziert, um die Ursachen oder Absichten aggressiven Verhaltens klarer herauszustellen (Aggressionen werden sowohl in Form von Zynismus, als auch durch Kriege, Völkermorde ausgelebt). Schramel bezeichnete beispielsweise die Zivilcourage als eine Hochform der kultivierten Aggression.(vgl. Asanger/ Wenninger 1994: 1)

Treffender ist es daher, den Begriff "Aggressionen" durch die entsprechenden Gefühlszustände zu beschreiben, wie Ärger, Wut, Zorn, Hass, mit den dazugehörigen Verspannungen, die gelegentlich durch Aggressionen abreagiert werden. Es gibt heute verschiedene Theorien über die Entstehung von Aggressionen.

Sigmund Freud begründete die dualistische Triebtheorie, wobei er alle Triebe in zwei Kategorien zusammenfasste und sie als die zwei Grundkräfte einander gegenüber stellte - den Sexualtrieb (oder einige Jahre später auch Lebenstrieb) und den Selbsterhaltungstrieb (später dann Todestrieb bzw. Aggressionstrieb). Diese Theorie wurde 1963 von Konrad Lorenz wieder neu aufgegriffen, belebt und modifiziert.

Zunächst ging Freud (anknüpfend an W. McDougalls Aggressionstheorien,1913) von der Grundannahme aus, dass der Aggressionstrieb einem ähnlich hydraulischen Schema unterliegt wie der Libidotrieb ("Die Libido nimmt zu - die Spannung steigt - die Unlust nimmt zu; der Sexualakt vermindert die Spannung und die Unlust, bis die Spannung wieder zu steigen beginnt") (Fromm 1973: 14). Diesem Phänomen schenkte er anfangs noch recht wenig Beachtung. Erst in den zwanziger Jahren wendete er sich erneut und intensiver der Aggressionstheorie zu. Er stellte nun den angeborenen lebensbejahenden Sexualtrieb dem selbstzerstörerischen Todestrieb gegenüber. Der Todestrieb ist nach außen gerichtet und tendiert ehr dazu, andere zu zerstören, als sich selbst. Konsequenter weise führt diese Theorie zu der tragischen Alternative, entweder sich selbst oder den/die anderen zu zerstören oder leidend zu machen. Man folgerte nun, dass der Todestrieb immer in Verbindung mit dem lebensbejahenden Libidotrieb gesehen werden muss. Der Mensch würde sich demnach in einem permanenten Spannungsfeld dieser beiden Pole befinden.

Die Zurückhaltung von Aggressionen ist für Freud (wie auch für Konrad Lorenz) ungesund und wirkt sich krankmachend aus.(vgl. Fromm 1973: 14- 19)

Bedeutend für die psychoanalytische Pädagogik ist die Frustrations-Aggressionstheorie (Fenichel, K. Horney, Fromm), welche Aggressionen nicht als Ausdruck eines spontanen Triebes ansieht, sondern als reaktives, soziales Phänomen. Zentrale Aussage der Frustrations- Aggressions-Hypothese ist: Aggressionen sind immer Folge von Frustrationen, und Frustrationen führen immer zu einer Form von Aggressionen. Demnach ist die Entstehung von Aggressionen unvermeintlich, da das Erkennen der Grenzen des Ichs nur über den Weg der Begegnung mit äußeren, versagenden und frustrierenden Situationen gehen kann.

Konform mit Freud, vertritt auch diese Theorie die Annahme, dass der aggressive Trieb eine Steigerung erfährt, wenn er keinen Ausdruck findet und unterdrückt wird.

Es geht in der psychoanalytischen Pädagogik nicht darum, Aggressionen zu verdrängen bzw. eine innere Abwehr dagegen zu mobilisieren, sondern vielmehr um das Erlernen von Aggressionsbewältigungsstrategien und Kanalisierung von Aggressivität.

Als erzieherische Konsequenzen soll das Ich des Kindes gestärkt werden, denn erst eine gefestigte Persönlichkeit ist in der Lage, Frustrationstoleranz zu entwickeln und bewusst und reflektierend mit ihrer eigenen Aggression umzugehen. Voraussetzung für diesen Lernprozess ist es, in der frühen Kindheit überflüssige Frustrationen zu minimieren. Unabdingbare Versagungserlebnisse sollten durch konstante, liebevolle Zuwendung der Eltern/Erziehenden ausgeglichen werden. Kinder sollten lernen, Konflikte auszutragen, dazu benötigen sie positive Modelle, welche ihnen alternative und gewaltfreie Problemlösungsstrategien aufzeigen und vor allem vorleben. Fördernswert ist eine Sublimierung der aggressiven Energien in konstruktive Leistungen, wie z.B. das bekannte "Holz hacken", sportliche Wettkämpfe ect.. Destruktives Verhalten sollte konsequent missbilligt und verhütet werden, jedoch nicht durch Bestrafung oder Drohung, sondern durch Prävention, aufklärende Gespräche oder im äußersten Fall durch aggressive Äußerungen.(vgl. Auchter 1973: 80- 90)

2.6.3 Kreativität

Die Kreativitätsforschung beschäftigt sich neben dem kreativen Denken und dem kreativen Prozess u.a. auch mit der Erfassung der kreativen Persönlichkeit.

Aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen Pädagogik ist Kreativität ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Elemente des psychischen Apparates. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch primär von seinen Trieben geleitet wird, ist die Sublimierung eine Möglichkeit, innere Triebansprüche mit sozialen Realitäten in kreativen Aktivitäten zu vereinen .

Im Zusammenhang mit Aggressivität ergibt sich die These, dass ein Kind durch seine Produktivität und seinen Schöpfertum versuchen kann, aggressive Impulse und Schuldgefühle bezüglich seiner Eltern auszugleichen. Kreativität kann demnach als Vergangen-heitsbewältigung und Hilfestellung zur Verarbeitung innerer Konflikte gesehen werden. Das freie, kindliche Spiel ist als Sublimierungsversuch in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Die sogenannte Ich-Psychologie steuert einen weiteren Ansatz zur Erklärung kreativen Verhaltens bei. Sie sieht "den kreativen Akt als ein Schwingen zwischen Regression und Progression, der wieder zur Realität hinführt" (Auchter 1973: 96) Das heißt, das Individuum muss den Mut und die Beweglichkeit besitzen, die strukturierenden, logischen und realitätsgerechten Funktionen seines Ichs teilweise zugunsten phantasievoller, nichtlogischer Funktionsweisen aufzugeben. Zur Ausbildung von Kreativität ist es demnach notwendig, sein realitätsprüfendes Ich zeitweilig zurückzustellen und kurzfristig loslassen zu können.

Gisela Ammon ist der Auffassung, dass sich die Kreativität als "Ich-Funktion mit eigenem Recht nur im Zusammenhang mit der freien Entfaltung von Sexualität und konstruktiver Aggression entwickeln kann" ( Auchter 1973: 96). Sie ordnet den schöpferisch, kreativen Akt zwischen dem primären, irrationalen Denkprozess (Schlafen) und dem sekundär, rationalen Denkprozess (Wachen) ein. Die Kreativität kann sich ihrer Meinung nach nur im Rahmen eines freien Milieus entfalten.

Im Rahmen der Erziehung zur Kreativität ergeben sich folgende Konsequenzen: Eine sichere und emotional stabile Atmosphäre ist die Grundvoraussetzung, welche schöpferisches Handeln erst möglich machen kann. Erst die nötige Sicherheit verleiht Kindern das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen, Herausforderungen anzunehmen, Veränderungen umzusetzen und Lösungen zu entwickeln.

Dazu benötigt das Kind einen stabilen Bezugsrahmen. Die Fähigkeit zur Betroffenheit und zum Staunen kennzeichnet die Begegnung zur Umwelt. Altersspezifische Anregungen des Kindes können Erfahrungsoffenheit, Mut zur Selbstverwirklichung und somit eine positive Lebenseinstellung fördern. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die Kinder ihren eigenen Bewertungsrahmen stecken zu lassen, denn sie selbst sollten in erster Linie mit ihren Leistungen zufrieden sein, nicht die anderen. Durch eine übermäßige Erwartungshaltung der Erziehenden entsteht Druck, welcher sich sehr demotivierend auf die Lernbereitschaft des Kindes auswirkt.

Auch der unangemessene Einsatz von Belohnungen kann sich als Verstärker in gegenteiliges Verhalten kehren, Kinder machen nichts mehr aus Spaß an der Sache selber und die innere Motivation verlischt. Um die Experimentierfreude und die damit verbundene Risikobereitschaft zu fördern, ist es unabdingbar, dass Kinder nicht unter permanenter Beaufsichtigung stehen; man sollte ihnen aber auch nicht das Gefühl geben, dass sie alleingelassen werden, sondern ihnen den Freiraum zur Selbstständigkeit und zu einer angemessenen Entscheidungsfreiheit gönnen.

Auf der Grundlage eines stabilen Ich sollten Kinder nicht nur Hinterfragen und Kritikfähigkeit lernen, sie sollten auch zum aktiven Fragen, verbunden mit der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten, erzogen werden,

In diesem Sinne können gewisse Versagungen und Konflikte sehr anregend sein (Not macht erfinderisch). Ein angstfreier, repressionsarmer Umgang mit dem Kind wirkt sich, im Gegensatz zu dogmatischen Strukturen und übertriebenen Ordnungszwängen, wesentlich kreativitätsfördernder aus.

2.6.4. Identität

E. Erikson reflektierte "Identität" als einen Begriff, der eine wechselseitige Beziehung ausdrückt zwischen dem Individuum in seiner kontinuierlichen Übereinstimmung mit sich selbst (die als "Selbst" erlebte innere Einheit der Person) einerseits, und seiner Identifikation mit bestimmten Gruppen andererseits (vgl. Psychologie und Erziehung 1995: 461 f.).

Die Identitätsbildung kann als ein lebenslanger dynamischer Entwicklungsprozess betrachtet werden, bei dem sich durch die Gesamtheit der bisherigen Erfahrungen, Lernprozesse, sowie der phasenspezifischen Krisen und Konflikte allmählich die Persönlichkeit bzw. die Ich-Identität entwickelt. Dieser Entwicklung muss ein dialogisches Verhältnis innerhalb der Familie zugrunde liegen, da sich die Identität der Eltern unmittelbar auf die Identitätsentwicklung der Kinder auswirkt.

Man kann zwischen Identitätsbewusstsein und Identitätsgefühl unterscheiden. Aus dem Identitätsbewusstsein erwachsen Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven sowie Lebens-erwartungen und Hoffnungen. Identitätsgefühl wird, nach E. Erikson, vorbewusst als psychosoziales Wohlbefinden erlebt, Voraussetzung hierfür ist ein möglichst positives Selbstbild und ein Gefühl des Sich-selbst-seins.

Neben dieser persönlichen Identität, ist die soziale Identität für die Ich-Stärkung und Identitätsentwicklung ebenso wichtig. Durch die Beteiligung am sozialen Leben, verbunden mit deren spezifischen Rollenerwartungen, Kritiken, gemeinsamen Aktivitäten ect., ist der Mensch gezwungen sich und seine Rolle innerhalb der Gemeinschaft immer wieder neu zu überdenken und zu reflektieren. Aus dieser permanenten Auseinandersetzung und der sich ständig wandelnden Beziehungsdialektik entwickelt das Kind sowohl seine soziale Identität, wie auch sein Selbstwertgefühl. Auch die Notwendigkeit, im sozialen Zusammenleben permanent nach Konfliktlösungen suchen zu müssen, fördert und fordert die Ausbildung einer starken Ich-Identität.

Altersgemäße, angebrachte Versagungen haben ihre Berechtigung, da das Kind dadurch lernt eigene Kräfte zu entwickeln und zu mobilisieren. Gleichzeitig ist es maßgeblich für das Kind, auch die Erfahrung von Sicherheit, Vertrauen und Akzeptanz zu erleben; eine konstante, kontinuierliche Eltern-Kind-Beziehung ist der Grundstock für die Identitätsbildung.

Das Zugeständnis zum persönlichen Autonomiebedürfnis des Kindes steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausbildung des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls. In dieser Entwicklungsphase der Ich-Abgrenzung (anale Phase und oft zeitgleich mit der ersten Trotzphase), sollte das Kind die Möglichkeit bekommen, sich im Nein-sagen ausprobieren zu können, ohne das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den Eltern vermittelt zu bekommen.

Dieser Abgrenzungsprozess vollzieht sich in den ersten Lebensjahren im familiären Rahmen. Es ist jedoch zwingend notwendig, dass er sich auch auf einen größeren, gesellschaftlichen Rahmen ausweitet. Um mündig in der Gesellschaft bestehen zu können, müssen Kinder Nein sagen können, um sich in der pluralistischen Gesellschaft (mit seiner ganzen Informations- und Konsumüberflutung) behaupten zu können.

Konflikte und Spannungen innerhalb der Familie werden in der psychoanalytischen Pädagogik als positives Gesundheitsmerkmal und Zeichen geistiger Lebendigkeit gewertet. Konflikte entstehen durch Konfrontationen mit anderen, d.h. Grenzen ziehen, Einschränkungen und Versagungen. Durch die Verschiedenheit der Persönlichkeiten und die ständige Dynamik der alltäglichen Lebensumstände sind Konfrontationen unausweichlich und für das eigene Denken und Handeln sehr von Bedeutung. Die Fähigkeit, Konflikte bewusst zu erleben, auszuhalten und zu lösen, ist eines der wichtigsten Lernziele und stärkt die Ich- Identität enorm. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Eltern ihren Kindern die Einsicht vermitteln, dass sie als Konfliktpartner akzeptiert werden, dass Eltern nicht mit emotionalem Rückzug reagieren, sondern möglichst sachlich bleiben, und dass die Einschränkungen und Verbote transparent und sinnvoll sind.

Der dynamische Gegenpol zur Abgrenzung ist die Identifikation. Dieser Anpassungsvorgang ist ein wesentlicher Faktor in der zwischenmenschlichen Interaktion. Zur sinnvollen Auseinandersetzung mit seinem Selbst und der Umwelt benötigt das Kind Vorbilder und Leitfiguren. Zu dem Identifikationsobjekt muss eine positive Beziehung bestehen, das Kind muss sich angenommen fühlen, damit es sich messen und sich orientieren kann. "Identifikation aus Angst, birgt immer die Gefahr, unbewusste Gegenkräfte zu mobilisieren, die zu einer Fragmentarisierung oder Verkehrung der Identifikation führen können." (Auchter 1973: 131) Besonders die Sicherheit in der Geschlechtsidentität ist ein wichtiger Aspekt in der Identitätsbildung.

Identitätsstörungen können durch Übertragungen und Projektionen traumatischer Rollenbilder der Eltern auf die Kinder entstehen. Überladen Eltern ihre Kinder mit unangebrachten Rollenbeziehungen wie z.B. Kameraderie oder als Substitut für einen anderen Partner ect., kann dies zu Verunsicherungen und Überforderungen führen.

Minderwertigkeitsgefühle, Einsamkeit oder auch Isolationsgefühle (manchmal auch in Verbindung mit narzisstischen Kompensationsversuchen) gehören zu den leichten Identitätsstörungen. Eine extreme Form einer pathologischen Identität stellt die Schizophrenie dar. (zusammengefasst aus Auchter 1973: 113- 130)

In späteren Jahren stellte E. Fromm einer gesunden sozialen Identität den Begriff der "Entfremdung" gegenüber: "Unter Entfremdung ist eine Art der Erfahrung zu verstehen, bei welcher der Betreffende sich selbst als Fremden erlebt. Er ist sozusagen sich selbst entfremdet. Er erfährt sich nicht mehr als Mittelpunkt seiner Welt, als Urheber seiner eigenen Taten.... Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt - mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten" (Fromm 1960: 120)

2.6.5 Autorität

Man kann den Begriff "Autorität" in zwei unterschiedliche Richtungen unterscheiden. Die rationale Autorität und die institutionelle Autorität oder auch "Autoritärität".

Die rationale Autorität zeichnet sich durch einen einholbaren Vorsprung an Wissen und Erfahrung aus, welcher als Vertrauensmacht fungiert. Sie kann daher nicht als fester Bestandteil bzw. Eigenschaft einer Persönlichkeit gesehen werden, sondern erwirbt ihre Bedeutung durch positive, soziale Beziehungen und durch das Vertrauen, welches ihr von anderen Personen geschenkt wird. Damit zeichnet sie sich durch das Element der Freiwilligkeit und Angstfreiheit aus. Man kann rationale Autorität auch als das seiner Identität innewohnende Selbstbewusstsein ansehen. "Die Identität gewährt der Autorität die innere Freiheit zur Rücknahme oder Änderung einer autoritativen ("autoritativ" ist der positive Gegenbegriff zu "autoritär") Entscheidung. Autorität ist damit nicht auf einseitige Kommunikation abgestellt, sie ist von ihrem Wesen her dialogisches Geschehen, Interaktion" (Auchter 1973: 133)

Die institutionelle Autorität versteht sich als Machtinstanz und Befehlsgewalt, sie ist irrational, wie auch selbstzweckhaft. Unter psychoanalytischem Aspekt, kann man diese Form der Autorität als "eine "Überkompensation" im Sinne von zwanghaft phallischen Agierens verstehen" (Auchter 1973: 133). Ein partnerschaftliches Verhältnis ist unter diesen Umständen nicht aufzubauen, man kann unter der institutionellen Autorität lediglich mit Rückzug, Rebellion oder Kapitulation reagieren.

Das Verhältnis zwischen dem Kind und dem Erwachsenen ist von Natur aus ungleich. Der Säugling und das Kleinkind sind zunächst einmal auf Autorität im Sinne von einer gewissen Schutzmacht angewiesen (autoritätsbedürftig). Auch im weiteren Entwicklungsprozess sind Autoritäten unabdingbar und notwendig. Eine Identitätsfindung ist z.B. ohne die Begegnung mit Autoritäten (Vorbildern) nicht möglich. Mit der Ausbildung der eigenen Ich-Stärkung wird jedoch auch ein Loslösungsprozess von Autoritäten zwingend notwendig.

Autorität sollte als dynamischer, dialoger Prozess gesehen werden. "Autorität muss einerseits durch den erzieherischen Bezug erst und immer wieder neu gewonnen werden, andererseits muss sie sich im Verlauf des Entwicklungsprozesses immer mehr überflüssig machen." (Auchter 1973: 135) In sozialen Beziehungen sollte sich folglich Autorität durch Partnerschaft ausweisen, welche der Selbstverwirklichung und der Ausbildung des Selbstbewusstseins dienen sollte. Man kann diesbezüglich zwischen vier erzieherischen Funktionen der rationale Autorität unterscheiden:

  1. "als Hilfs-Ich
  2. als Identifikationsobjekt
  3. als Konfliktobjekt
  4. als Ablösungsobjekt (als Objekt der Erkenntnis und der Verkleinerung von Allmachtsphantasien)" (Auchter 1973: 139)

Die autoritäre Erziehung fördert die Entwicklung eines überstarken Über- Ichs, das entsprechend die Ich-Funktionen und die Genussfähigkeit beeinträchtigt. Im Gegensatz dazu entwickelt sich in der Laisser-faire Erziehung leicht ein Übergewicht des Es, verbunden mit eventuellen Ich- und Über-Ich-Schwächen. Jedes Extrem in der psychoanalytischen Erziehung sollte daher vermieden werden.

2.7. Die Versuche zur praktischen Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik

2.7.1. Das Kinderheim Baumgarten von Siegfried Bernfeld

Mit einer der ersten konkreten Versuche, die psychoanalytische Pädagogik in die Praxis umzusetzen, stammt von Siegfried Bernfeld. Im August 1919 gründete er in Wien das Kinderheim Baumgarten. Es wurden 300 verwahrloste Kinder im Alter zwischen drei bis 16 Jahren in dem Internats- und Schulbetrieb aufgenommen. Gearbeitet wurde unter psychoanalytischen Gesichtspunkten: "unbedingte Liebe und Achtung gegenüber den Kindern; rücksichtslose Hemmungen aller Macht-, Eitelkeits- und Erziehergelüste" (Peters 1979: 105 f.)

Das Kinderheim genoss unter den Befürwortern der psychoanalytischen Pädagogik einen sehr guten Ruf. Es scheiterte jedoch nur 7 Monate später an der Verwaltung; der finanzielle Sponsor (die jüdische Hilfsorganisation "Joint Committee" aus der USA), wollte massiv Einfluss nehmen in die pädagogische Konzeption Bernfelds.

2.7.2. Die Fürsorgeerziehungsanstalt für verwahrloste jugendliche Knaben von August Aichhorn

Auch August Aichhorn nahm die Psychoanalyse als theoretische Grundlage, als er von 1919 - 1922 das Heim St. Andrä in Ober-Hollabrunn für schwer erziehbare und verwahrloste männliche Jugendliche leitete. Aichhorn, der ein Schüler Freuds und in späteren Jahren auch Vorstand der Wiener Psychoanalytischen Institute war, sah es als erwiesen an, dass die Hauptursache der Verwahrlosung in dem Mangel an Nestwärme und in ungünstigen Erziehungsbedingungen der Familie des Heranwachsenden begründet liegt (er faßte Aggressionen als eine Haßreaktion auf, die sich aus völliger Nichtbefriedigung des Lustbedürfnisses herleitet und aus übermäßiger Strenge).

Das Ziel seiner Einrichtung sollte es sein, in Kleingruppen (die Gruppengröße pendelte sich dann doch bei 25 Kinder pro Gruppe ein) eine freie Siedlung zu schaffen, in der verwahrloste aggressive Jugendliche durch einfühlsame, liebevolle Erziehung zu lebensbejahende Menschen heranreifen konnten.

Seine pädagogischen Maxime waren: gewaltlose Erziehung, absolute Güte und Milde, fortwährende Beschäftigung und Spiel, um Aggressionen vorzubeugen, fortgesetzte Aussprachen mit den Jugendlichen. Er lehnte Angst, Mißtrauen und Züchtigung als Erziehungsmaßnahmen kategorisch ab (vor allem auch sehr moralische und religiöse Erziehung); gleichzeitig richtete er sich jedoch gegen die beiden Extreme in der Erziehung: die lieblose Erziehung und die Verwöhnung.

Aichhorn arbeitete überwiegend mit der positiven Übertragung und Bildung einer Vertrauensbasis gegenüber den Jugendlichen.

Sexuelle Bedürfnisse seiner Zöglinge versuchte er durch lustbetonte Arbeitsleistungen zu sublimieren, wobei Zärtlichkeitsbedürfnisse durchaus befriedigt werden durften und sollten.

Aggressionen wurden durch Förderung der Abreaktion kanalisiert. Aichhorn ließ dabei bewußt die Aggressionsschwelle überschreiten, da er davon ausging, dass anschließend den Ausbrüchen der echte Affekt fehlte.

Die Kinder besaßen im Heim sehr viele Freiheiten, Erzieher wurden dazu angehalten die Jugendlichen weitmöglichst gewähren zu gelassen. Es gab zwar Regeln wie z.B. feste Schlafens- und Essenszeiten, aber sie waren für den einzelnen mit bindend.

Die Zöglinge hatten sehr viel Bewegungsfreiheit, ihnen wurde zunächst möglichst wenig Widerstand entgegengesetzt (was zu häufigen Konflikten mit dem Umfeld des Heimes führte), da man den richtigen Zeitpunkt für die Versagung abpassen wollte.

In der Institution sollte eine grundsätzlich versöhnliche Atmosphäre herrschen, selbstbeherrschte, lebensfrohe, positiv eingestellte Erzieher sollten eine Vertrauensbasis zu den Zöglingen aufbauen.

Es gab auch Schwierigkeiten, wenn die verhaltensauffälligen Jugendlichen dieses freundliche Milieu ablehnten. Jedoch wurde in einem solchen Fall nicht versucht verbal auf die Kinder einzuwirken, sondern sie wurden zunächst einfach gelassen.

Die Fürsorgeanstalt wurde nach drei Jahren Arbeit geschlossen.

2.7.3 Bruno Bettelheims Schule zur Rehabilitierung emotional schwerst gestörter Kinder

Ab Herbst 1944 leitete Bruno Bettelheim fast 30 Jahre lang die Orthogenic School in Chicago; in ihr lebten dauerhaft zwischen 32-35 Kinder im Alter von 6-14 Jahre. Die Schule war vielmehr eine therapeutische Einrichtung, speziell für Kinder mit schweren psychischen Störungen, die erwiesener maßen durch gewöhnliche therapeutische Methoden nicht mehr zu beeinflussen waren (die Störungen umfaßten den Symptomkreis von Verwahrlosung über Autismus bis hin zu Schizophrenie). Die Aufenthaltsdauer der Kinder in der Schule lag durchschnittlich zwischen vier und sechs Jahren. Zielvorstellung war es, auf der Grundlage der Psychoanalyse die Kinder zu rehabilitieren, so dass eine Rückführung in die Familien angestrebt werden konnte.

Die Voraussetzung für eine positive therapeutische Intervention war, so Bettelheim, dass die Kinder die Schule als ein Zuhause akzeptierten und sich an diesem Ort sicher und geborgen fühlen konnten. Jedem Kind wurde daher ein Recht auf Privatsphäre zugestanden, d.h. die Kinder hatten die Möglichkeit ihren privaten Raum frei zu gestalten und diesem auch eigenverantwortlich zu verwalten. Andere Kinder bzw. Betreuer durften das eigene Zimmer nur betreten, wenn sie ausdrücklich dazu eingeladen wurden; persönliche Besitztümer der Kinder (Kleidung, Spielsachen etc.) wurden als solche ebenso respektiert, wie die persönliche Haltung in bezug auf Lärm und Ordentlichkeit in den eigenen vier Wänden.

Bezüglich dem Sexualverhalten und der Sauberkeitserziehung der Kinder ging Bettelheim konform mit der freien, offenen Haltung der psychoanalytischen Erziehung.

Grundsätzlich sollten unechte höfliche und moralische Konventionen der emotionalen Aufrichtigkeit weichen.

Bruno Bettelheim hebt in seiner Arbeit die wichtige Bedeutung des freien Spiels als selbstregulative Instanz hervor. Jedes Kind hatte die Freiheit zu spielen, sich zu bewegen und zu ruhen, wie es ihm beliebt. Für ihn war Bewegung ein Ventil, um Streß, Aggressionen und andere unangenehme Gefühle abbauen zu können.

Schulbesuch war in der Schule Bettelheims zwar regelmäßige Pflicht, jedoch wurde der Unterricht sehr flexibel mit den individuellen Bedürfnissen der Kinder abgestimmt. Leistungsdruck wurde entschieden vermieden, es wurde in der Schule verstärkt auf die vorhandenen Ressourcen der Kinder eingegangen, auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmtes Lernen wurde besondere Rücksicht genommen.

Bettelheim legt viel Wert auf die Echtheit, Aufrichtigkeit, das Zuhören und das emphatisches Verstehen in der Beziehung zu seiner Patienten. Er verfügte über die seltene Gabe, sehr schnell die Verhaltensweisen zu entschlüsseln und die verborgenen Mechanismen einer Beziehung zu durchschauen. Dabei richtete er sein Augenmerk nicht nur auf verbale Äußerungen der Kinder, sondern auch auf den emotionalen und körperlichen Ausdruck der Kinder.

Leider gab es an der Schule einige Probleme mit der Mitarbeiterauswahl und deren Arbeitszuweisung. Da dieses Arbeiten sehr hohe Anforderungen an die Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Mitarbeiter stellt, ging man dazu über spezielle Mitarbeiterschulungen und - heute würde man sagen Supervisionen - einzuführen.

Die Schule verstand sich als einen großen dynamischen Organismus, der sich ständig veränderte und weiter entwickelte.

Als Erziehungswissenschaftler untersuchte Bettelheim u.a. die Sozialisation von Kindern die in israelischen Kibbuzim aufwuchsen. Er vertrat diesbezüglich die Meinung, dass Kibbuzim-Kinder trotz ihrer von Geburt an erheblich gelockerten Bindung zu den Eltern, zufriedener und gefestigter aufwuchsen, als so manches Kind in seiner Kernfamilie. Er war daher ein Verfechter der Gemeinschaftserziehung.

Bekannt wurde Bruno Bettelheim auch vor allem mit seinen Studien über die psychoanalytische Bedeutung von Märchen in der Kindererziehung.

Bettelheim kam in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder bezüglich seiner pädagogischen Arbeit in der Schule stark unter Beschuß (Kritik kam vor allem von ehemaligen Mitarbeitern und Schülern). Ihm wurden im nachhinein eine sehr autoritäre Persönlichkeitsstrukturen vorgeworfen, welche sich negativ auf die Entwicklung der Kinder ausgewirkt hätte. Diese Prägung seiner Persönlichkeit wurde dabei in direkten Zusammenhang mit seinem einjährigen KZ-Aufenthalt zwischen 1938-1939 in Dachau und Buchenwald gebracht.

Mit 86 Jahren setzte Bruno Bettelheim selbst seinem Leben ein Ende, nachdem er in einem Altenheim in Silver Spring (US-Bundesland Maryland) einen Schlaganfall erlitten hatte. (zusammengefaßt aus: Bettelheim 1990 und Bettelheim 1955)

2.7.4. Das Kinderheim-Laboratorium von Wera Schmidt

Die russische Psychoanalytikerin Wera Schmidt gründete am 19. August 1921 in Moskau das Kinderheim-Laboratorium, mit der Absicht, auf der Basis der psychoanalytischen Erkennt-nisse neue Wege in der Erziehung zu erproben.

Anfänglich lebten 30 Kinder im Laboratorium. Die Kinder lebten die ganze Woche im Heim, die Eltern hatten die Möglichkeit, ihre Kinder Sonntags zu besuchen oder sie auch gelegentlich mit nach Hause zu nehmen. Aus bürokratischen Gründen wurde die Anzahl der dort lebenden Kinder von 30 auf 12 Kinder verkleinert. 1923 wurde das Projekt mit Hinweis auf die hohen Erhaltungskosten behördlich in Frage gestellt (es bekam zudem eine ungünstige Beurteilung des Moskauer Psychoneurologischen Instituts, an dessen Spitze zu dem Zeitpunkt ein überzeugter Gegner der Psychoanalyse stand). 1924 musste das Kinderheim- Laboratorium geschlossen werden.

Wera Schmidt veröffentlichte ihren Erfahrungsbericht 1924 in ihrer kleinen Schrift "Psychoanalytische Erziehung in Sowjetrussland". Dieser erschien 1968 als Raubdruck in Berlin und beeinflusste die antiautoritäre Erziehungsbewegung, welche damals gerade im Entstehungsprozess war. (vergl. Breinbauer 1980: 314)

Das Kinderheim-Laboratorium legte seinen pädagogischen Schwerpunkt auf die ersten sechs Lebensjahre des Kindes. Die drei wichtigsten Erziehungsziele waren hierbei:

  1. Die allmähliche Anpassung an die Forderungen der Realität; Kinder sollten für ihre unbewussten Regungen (Herrschaft des Lustprinzips) nicht verurteilt werden, sondern behutsam die Bedeutung des Realitätsprinzips erfassen und überwinden lernen. Innerhalb dieses Prozesses sollte das Kind die Realität, an die es sich anpassen soll, zunächst einmal als möglichst angenehm erleben, es sollte sich gerne an ihr orientieren und sich dann freiwillig anpassen. Zur Anpassungserleichterung sollte das Selbstwertgefühl und Unabhängig-keitsgefühl der Kinder gestärkt werden.

  2. Die Beherrschung der Exkretionsvorgänge; in Bezug auf die Reinlichkeitserziehung sollte auf die Kinder keinerlei Druck ausgeübt werden.

  3. Die Anbahnung von Sublimierung infantiler Triebregungen; Äußerungen kindlicher, infantiler Sexualität müssen als normale und notwendige Phänomene akzeptiert und bei der erzieherischen Arbeit berücksichtigt werden. Auf die einzelnen Phasen der prägenitalen Entwicklung sollte pädagogisch eingegangen werden, so dass diese ohne größere Störungen durchlebt werden können und Entwicklungshemmungen dadurch möglichst vermieden werden, d.h. absolute Bejahung der kindlichen Sexualität und somit auch kindlicher Onanie.

Eine positive Bindung des Kindes an den Erziehenden, stand für Wera Schmidt im Vordergrund, denn eine guten Beziehungsebene bildet die Grundlage zur Bereitschaft des Kindes zu Sublimierungsmöglichkeiten und zur Unterwerfung an das Realitätsprinzip.

Zu den weiteren pädagogischen Grundsätzen gehörten u.a. dass das Strafen von Kindern nicht geduldet wurde, auch kein Sprechen in einem strengen Ton. Dem Kind sollte bereits früh vernünftig erklärt werden, was von ihm verlangt wird.

Subjektive Beurteilungen wie Lob oder Tadel sollten vermieden werden, da man nicht das Kind selbst beurteilen wollte, sondern ausschließlich die objektiven Ergebnisse seines Handelns. Die Bewegungslust der Kinder wurde in keiner Weise gehindert, sie hatten Gelegenheit zu raufen, springen, zu laufen, wie es ihnen beliebte. Auch jegliche Bewertung bezüglich Eigenheiten und Benehmen der Kinder waren sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne zu unterlassen. Zärtlichkeiten und Liebkosungen sollten von den Erziehenden lediglich mit äußerster Zurückhaltung ausgeübt und auch erwidert werden. Durch dieses neutrale Verhalten der Erziehenden sollte jedem Kind gleiches Wohlwollen geschenkt werden, es sollte keine geliebten und ungeliebten Kinder geben.

Durch die Auswahl von altersgemäßem, pädagogisch sinnvollem Spielzeug sollten die kreativen, schöpferischen Kräfte und der Forscherdrang der Kinder angeregt werden. Entstanden neue Bedürfnisse, wurden dementsprechend auch das Spielzeug, bzw. die Arbeitsmaterialien gewechselt. Das Prinzip hierbei war: Anpassung des Materials an die Bedürfnisse des Kindes, anstatt die Bedürfnisse an die bestehenden Möglichkeiten anzupassen.

Zur Umsetzung dieser Ziele wurde im Kinderheim-Laboratorium besonderer Wert auf die Erziehung des Erziehers durch Eigenanalyse gelegt.(vergl. Auchter 1973: 18f.)

2.8. Kritische Reflexion der psychoanalytischen Pädagogik

Die Erziehungsreform der Psychoanalytischen Pädagogik ist auf ihr entsprechendes gesellschaftliches Ideal hin ausgerichtet und konzipiert worden. Diese Tatsache an sich ist natürlich immer problematisch, da solche festgelegten Zielvorstellungen und Ideale immer die Gefahr in sich bergen, dass letztendlich der Mensch als Individuum nicht mehr gesehen wird und somit leicht in neue und angeblich bessere Schemen gepresst wird.

Die Psychoanalyse, und somit auch die psychoanalytische Pädagogik, müssen sich grundsätzlich mit der Kritik auseinander setzten, es mangele ihr an wissenschaftlicher Genauigkeit. Geforscht wurde anhand von Fallstudien, experimenteller Forschung, wobei das Ergebnis dieser Studien mit den Hypothesen oft in ungeklärter und vager Verbindung stand. Manche psychoanalytischen Konstrukte führen zu sich teilweise auch widersprechenden Vorhersagen menschlichen Verhaltens.

Bereits in den 30er Jahren, nach dem Abklingen der optimistischen Phase bezüglich der psychoanalytischen Pädagogik, kamen erste Zweifel auf, ob psychoanalytische Methoden mit Erziehungsfragen grundsätzlich kompatibel sind. Kernpunkt dieser Diskussion waren hierbei die "unüberwindbar erscheinenden Differenzen in der Methodik, in den Praxisfeldern und meist auch bezüglich der Klienten von Psychoanalyse und Pädagogik" (Trescher 1985: 119)

Das Ziel der Neurosenprophylaxe entpuppte sich als eine Illusion. Anna Freud betonte 1965, dass der Fehler nicht im Versagen von erzieherischem Handeln liegen würde, sondern in den unberechtigten Erwartungen und dass die psychoanalytische Erfahrung zeige, dass die Neurosen der Preis sind, welche die Menschheit für die Kulturentwicklung zahlen müsse. (A. Freud 1965, zit. nach Trescher 1985: 146)

Biologisch-genetische Einflüsse, wie auch die gesellschaftliche Sozialisation des Kindes wurden diesbezüglich wenig berücksichtigt.

Die psychoanalytische Pädagogik musste sich zudem den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Entwicklungsaufgaben, welche eine professionelle Erziehung zu leisten hat, nicht ausreichend diskutierte und reflektierte. Die Idee der Neurosenprophylaxe entsprang der Grundannahme, psychische Krankheitsanlässe ausschalten zu wollen. Gesundheit wird demnach durch Abwesenheit von Krankheit formuliert. Explizit gibt es also kein eigenständiges, sich unterscheidendes Kriterium von Gesundheit. Dieser Mangel impliziert, dass das Kind entweder wieder an die herrschende gesellschaftliche Norm angepasst wird, oder an Kriterien eines gesellschaftlichen Ideals (welches zum einen meist von Person zu Person differiert, zum anderen ist es sehr zweifelhaft ob dieses undefinierte Ideal überhaupt realisierbar ist). Mal abgesehen von diesem Paradoxon, ist auch das Ziel folglich nicht mehr pädagogisches Selbstverständnis, sondern wird aus Sicht der Psychoanalyse als ärztliches Heilverfahren bzw. als Präventivmaßnahme gesehen (frühkindliche Traumatisierungen sind verantwortlich für psychische Leiden erwachsener Patienten, daher die Forderung nach Prophylaxe).

Dieses ärztliche Selbstverständnis wurde lange nicht als solches erkannt, es bildet jedoch ein erhebliches Hindernis in der Methodik und Umsetzung dieser pädagogischen Richtung. Die Gefahr besteht in der Identifikation des Erziehenden mit der Person des Therapeuten und damit in der Dysfunktionalität seines Handelns. Es besteht dadurch leicht die Gefahr, Kindern Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen oder sie in Bezug auf bestehende Hemmungen besonders schonend zu behandeln. Dieses Verhalten steht wiederum dem eigentlichen Erziehungsziel, der Ausbildung eines starken Ichs, gegenüber.

Auch die Grundhaltung zu dem Kind ist demnach eine sehr distanzierte und zweckdienliche. Der Erzieher ist nicht mehr authentisch mit seinen Gefühlen. Er nimmt eine umstandslose, passiv- wohlwollende, nicht-wertende Haltung dem Kind gegenüber ein (ähnlich dem Psychotherapeuten in seinen therapeutischen Sitzungen) und entfernt sich dabei emotional vom Kind.

S. Bornstein-Windholz beobachtete bei Erziehern der psychoanalytischen Pädagogik ein oft ängstliches Verhalten, dass Kinder das pädagogisch angemessene Verhalten sabotieren. "Der analytische Erzieher aber, der nicht aufgrund seiner pädagogischen Begabung und Erfahrung, sondern aufgrund seiner in der Analyse erworbenen Erkenntnisse erzieht, erlebt eine Spezialform der Angst vor der Angst des Kindes, Angst vor der Traurigkeit, den Schuldgefühlen, den Konflikten des Kindes" (S. Bornstein-Windholz 1937, zit. nach Trescher 1985: 148) Diese Schuld- und Versagungsängste des Erziehenden können sich auf die emotionale Bindung zum Kind sehr entfremdend auswirken, ebenso wie das andere Extrem, Allmachtsgefühle (die Erziehenden/Eltern besitzen allein die Macht darüber, ob ihr Kind seelisch ausgeglichen bzw. glücklich wird oder nicht). Diese Beziehung wird kognitiv gesteuert, sie wird versachlicht und mechanisiert; der Erziehende verliert dadurch seine natürliche Intuition im Umgang mit dem Kind; es besteht die Gefahr des Verlustes der dialogen Dimension und somit einer fruchtbaren Gegenseitigkeit, und anstelle der Erzieherpersönlichkeit tritt die Methode, die Erziehung wird zur Technik.

Ein weites Paradoxon der psychoanalytischen Pädagogik ist die konform zu Freud ausgerichtete Grundannahme, welche die Sexualunterdrückung als gesellschafts- und kulturnotwendig erachtet. Wie kann es möglich sein, frage ich mich, auf der Grundlage von "wissenschaftlich anerkannter" frühkindlicher sexueller Unterdrückung eine lebensbejahende und offene Sexualerziehung aufzubauen? Neben diesem bis heute bestehenden Dogma, der grundsätzlichen verneinenden Haltung zur Sexualität des Menschen, halte ich es für äußerst problematisch ein Kriterium für psychische, wie auch psychosomatische Gesundheit zu postulieren, als auch ein bejahendes Konzept für die Sexualpädagogik zu erstellen (zumal sich die freudschen Sublimierungsangebote bereits auf die frühe kindliche Sexualentwicklung beziehen und damit eher auf Verdrängung abzielen).

Durch die Tatsache, dass die Psychoanalyse das Individuum in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, ergab sich für die psychoanalytische Pädagogik das Problem, dass sie die regelhaften Gruppensituationen in der pädagogischen Praxis vernachlässigte. Eine Reflexion bezüglich der Leitposition des Erziehers und seine Beziehung zu der Gruppe fand nur unzureichend statt.



Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
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Fortsetzung: 3 Kann die antiautoritäre Erziehungsbewegung als eine konsequente Weiterentwicklung bzw. als praktische Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik verstanden werden? und zum Kapitel 4. Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich