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Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: 2b Grundgedanken
Zum: Kapitel 4: Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich
Fortsetzung: 5. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich




3. Kann die antiautoritäre Erziehungsbewegung als eine konsequente Weiterentwicklung bzw. als praktische Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik verstanden werden ?

3.1. Entstehung und Zielsetzung der antiautoritären Erziehungsbewegung

Mitte der 60er Jahre begann allmählich ein gesellschaftlicher Umdenkungsprozess bezüglich des bis dahin wenig hinterfragten, repressiven Erziehungsstils. Vor allem Studenten (die Kinder der Trümmerfrauen und des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg) organisierten sich Ende der 60 Jahre, um sich gegen die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen aufzulehnen.

In diesem Zusammenhang entwickelte sich eine nicht-autoritäre Auffassung von Erziehung, welche primär die Bewusstmachung politischer, gesellschaftlicher und pädagogischer Machtausübung zum Ziel hatte.

Die antiautoritäre Erziehungsbewegung sah sich als Protestbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft und zielte nicht nur auf die Veränderung von Individuen, sondern auch von gesellschaftlichen und vor allem politischen Verhältnissen. "Langfristig sollte dabei in das zur Herrschaftssicherung dienende äußerst komplexe Sozialisationssystem und seiner Kontroll-organe eingegriffen werden und durch eine Erziehung, die den Normen der kapitalistischen Gesellschaft widersprach, freiere und kritikfähigere Kinder darauf vorbereiten, als Erwachsene den Kampf um die Überwindung der Klassengesellschaft weiterzuführen" (Rauch/Anzinger 1975: 26)

Durch eine Initiative des Aktionsrates zur Befreiung der Frau im Februar 1968 wurden in Berlin die ersten sozialistischen Kinderläden gegründet. Motivation hierfür war die Diskussion der Frauen über die Schaffung von Möglichkeiten, mehr Zeit und Energie für die politische Arbeit freizusetzen, verbunden mit dem Anspruch nach einem nicht-repressiven Erziehungsstil.

Mit der praktischen Arbeit kristallisierten sich durch Diskussionen der Eltern verschiedene Konzeptionen der antiautoritärer Erziehung heraus. Vor allem bei der Frage des politischen Anspruchs teilten sich die Meinungen. Die einen fassten den Begriff "Politik" weiter, sie verstanden darunter eine bestimmte Lebensform, welche sich dadurch kennzeichnet, dass man Vorstellungen von der Welt und den Idealen im konkreten, alltäglichen Handeln umsetzt. Der andere Teil der Bewegung war wesentlich radikaler und versuchte den "Klassenkampf" in die Kinderläden zu tragen. Im Laufe der Zeit entwickelten sich zudem noch mehrere unterschiedliche Erziehungsansätze der antiautoritären Erziehung (emanzipatorischer Ansatz, revolutionärer Ansatz, proletarischer Ansatz, psychoanalytischer Ansatz, sozialistischer Ansatz...).

Um die Theorie der antiautoritären Erziehung zu untermauern, griff man auf Psychoanalytiker und Reformpädagogen der 20er Jahre wie z.B. M. Klein, A.S. Neill, S. Bernfeld, W. Reich, W. Schmidt, S. Bernfeld zurück. Auch die bedeutendsten Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas bedienten sich psychoanalytischer Argumentationsfiguren in ihrer Gesellschafts- und Erziehungskritik.

In der Zielsetzung der antiautoritären Erziehung wurden viele Elemente der psychoanalytischen Pädagogik übernommen und konkretisiert. Die Beziehung zu den Erziehenden sollte nicht-repressiv und angstfrei sein.

Die grundlegenden Erziehungsziele kann man wie folgt zusammenfassen:

  • Erziehung zur Kritikfähigkeit

  • Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Ich-Stärke

  • Enttabuisierung der kindlichen Sexualität, repressionsfreie Sauberkeitserziehung

  • Entwicklung von Sozialkompetenz

  • Erziehung zur Konfliktfähigkeit

  • Berücksichtigung der kindlichen Bedürfnisse

3.2. Resümee der antiautoritären Erziehungsbewegung

Die antiautoritäre Erziehungsbewegung hatte eindeutig ihre Berechtigung und historische Bedeutung. Unumstritten kamen ihr viele positive Verdienste zu. Pädagogisch relevante Denkanstöße, speziell auch aus der psychoanalytischen Pädagogik wurden erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gesellschaftlich diskutiert. Es begann ein Umdenkungsprozess bezüglich des herkömmlichen repressiven Erziehungsstils und viele damals revolutionäre Forderungen sind heute selbstverständlicher Bestandteil des pädagogischen Alltags geworden.

Trotz dieser Erfolge bzw. Teilerfolge gilt die antiautoritäre Erziehung weitgehendst als gescheitert, sie ist zum Schlagwort geworden. Dies hat verschiedene Gründe. Zunächst muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie stelle nicht das Kind und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des pädagogischen Handelns, sondern man missbrauchte die Kinder dazu, seine eigenen gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen zu verwirklichen.

Die erzieherische, politische Grundhaltung verbirgt eine pauschal gegen-indoktrinierte Erziehungstendenz in sich. Sie setzt zur Bekämpfung der kritisierenden Gesellschaftsstrukturen nun gerade wieder (Gruppen-)Zwänge, Suggestion und (Gegen-) Identifikationsangebote ein, verfestigt damit dauerhaft und mit gezielten Lernprozessen gerade jene Charakterstrukturen, gegen deren Beseitigung man anzutreten meinte (Disziplinierung zur Disziplinlosigkeit).

Die antiautoritäre Erziehungsbewegung verstand sich als Provokation gegenüber traditionellen Erziehungssystemen. Provokationen beinhalten jedoch immer gebundene Aggressionen, es kann daher nicht dienlich sein, diese als Basis zur Entwicklung von neuen Erziehungskonzeptionen mit einfließen zu lassen. Zudem gefährdet eine aggressive Grundhaltung in ihrer praktischen pädagogischen Umsetzung die freie Entwicklung von Kindern, da die Motivation hierfür auf primär emotionale Reaktionen zurückzuführen sind, welche oft in der eigenen repressiven Erziehung wurzeln. Oftmals wurden Autoritäten grundsätzlich negativ besetzt, eine Differenzierung fand nicht statt. Dadurch bestand zusätzlich die Gefahr, dass eigene autoritäre Ansprüche verschleiert oder zwanghaft verleugnet wurden, bzw. man projizierte eigene Machtansprüche.

Auch in der praktischen Umsetzung der antiautoritären Erziehung im Elternhaus bzw. in den Kinderläden ergaben sich große Schwierigkeiten. Die Erziehenden waren oftmals stark verunsichert und wussten sich vielfach nicht zu verhalten, um ihren neuen pädagogischen Forderungen gerecht zu werden. Diese pädagogische Orientierungslosigkeit und Verunsicherung führte dann leicht zu einer Grenzenlosigkeit (Laisser-faire Haltung) in der Erziehung.

Leider waren Versuche zu einer konstruktiven, kritischen Reflexion erst Jahre später möglich (wenn überhaupt). In der Blütezeit der antiautoritären Erziehungsbewegung haftete ihr der Vorwurf zur Unfähigkeit bezüglich Selbstkritik und Reflexion an.

3.3. Abgrenzung der psychoanalytischen Pädagogik bezüglich der antiautoritären Erziehungsbewegung

Die psychoanalytische Pädagogik entwickelte sich langsam durch die wachsenden Erkenntnisse und Forschungsarbeiten der Psychoanalyse. Diese wissenschaftlichen Arbeiten bildeten die Fundamente und das Basiswissen dieser Erziehungstheorie.

Die antiautoritäre Erziehungsbewegung war hingegen eine eher emotionale Protest- und Gegenbewegung, welche auf den Theorien der wieder hervorgeholten Schriften und Raubdrucke von Psychoanalytiker und Reformpädagogen der 20er Jahre basierte. Man versuchte jedoch nicht die Theorien der psychoanalytischen Pädagogik weiterzuentwickeln, sondern benutzte die Thesen, um eigene, neuen Ideen zu untermauern. Engagierte Psychoanalytiker und Reformpädagogen wie z.B. Wilhelm Reich oder Alexander Sutherland Neill wurden hierbei zur Orientierung herangezogen und erhielten Vorbildcharakter. Dabei kam es häufig zu Verwischungen und Fehlinterpretationen von Begrifflichkeiten. Oftmals wurden Teilbereiche erziehungswissenschaftlicher Konzeptionen herausgenommen, (wobei durch diese Isolierung der ganzheitliche Kontext fehlte) und mit anderem Thesen, teilweise auch widersprüchlichen, vermischt (so vermischten z.B. die ersten Berliner Kinderläden sozialistische Ideologien von Marx und Engels mit den unpolitischen, pädagogischen Konzeptionen von A.S. Neill und "bastelten" daraus ihre eigene Konzeption) (Auchter 1973: 35 - 39)

Es bleibt zu betonen, dass hierbei weder Neill, noch Marx bzw. Engels Vertreter oder Befürworter der antiautoritären Erziehungsbewegung waren. Die Begründer der psychoanalytischen Pädagogik waren eine andere Generation mit völlig unterschiedlichen Zielsetzungen als die Aktivisten der antiautoritären Erziehungsbewegung und einige Psychoanalytiker wie M. Klein oder W. Reich waren zur Zeit der Anfänge der Studentenbewegungen längst verstorben und konnten sich daher bezüglich der Deformierung ihrer Thesen auch nicht mehr zur Wehr setzen (bis in die Gegenwart reichen z.B. auch die Fehlinterpretationen der sexualökonomischen Thesen W. Reichs. Diese wurden in der 68er Bewegung fälschlicher Weise mit der Forderung nach der "freien", zügellosen Liebe gleichgesetzt. Die pädagogischen Auswirkungen dieser Fehlinterpretation waren mitunter für die kindliche Entwicklung gefährlich, sie führten teilweise zu einer gezielt forcierten Förderung kindlicher Sexualität).

Auch die Grundphilosophie und die Motivation der jeweiligen Erziehungstheorien differierte.

Die psychoanalytische Pädagogik orientierte sich in ihrer Zielsetzung ausschließlich am Individuum. Selbst Psychoanalytiker, welche soziologische und/oder politische Aspekte in ihre Theorien haben einfließen lassen, wie z.B. S. Bernfeld, E. Fromm oder W. Reich gingen in ihren erziehungswissenschaftlichen Fragen primär vom Kind und dessen Bedürfnissen aus. Die antiautoritäre Erziehungsbewegung hingegen versuchte ihre politische Zielsetzung und gesellschaftliche Umwälzung mithilfe von Erziehungskonzepten zu realisieren. Das Kind dient hierbei als Mittel zum Zweck.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Form der Auseinandersetzung. Erkenntnisse der psychoanalytischen Pädagogik wurden auf einer sachlich fundierten Ebene diskutiert, Thesen der antiautoritären Erziehung auf einer emotionalen Ebene.

Die Frage, ob die antiautoritäre Erziehung eine Weiterentwicklung bzw. Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik sei, erübrigt sich in Anbetracht dieser unüberwindbaren Differenzen.

Kapitel 3

4. Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich

Die psychoanalytische Pädagogik entwickelte sich, wie bereits erwähnt, parallel mit den frühen Erkenntnissen der Psychoanalyse. Die Grundlagen, sowie das praxisbezogene Basiswissen des psychoanalytischen Denkens und Forschens wurzeln in der wissenschaftlichen Produktivität der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (1902 - 1938). Innerhalb dieses Zusammenschlusses kam es jedoch zu heftigen, thematischen Kontroversen, welche zur Folge hatten, dass viele Freud-Schüler sich von den "reinen", ursprünglichen Freudschen Theorien distanzierten, um eigene Theorien weiterzuverfolgen. So entstanden in dieser Zeit zahlreiche Splittergruppierungen; eine Entwicklung, welche sich als förderlich erwies, da die Vielzahl der Meinungsdifferenzen auch fruchtbare Dialoge anregte.

Wilhelm Reich wurde 1920 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Dort traf er auf Sigmund Freud. Die Person Freuds, wie auch seine Arbeiten, beeindruckten den jungen Reich zutiefst, sie bildeten die Basis seiner weiteren Forschungen und prägten damit seine eigenen Werke nachhaltig. Auch Freud hielt zu dieser Zeit große Stücke auf Reich und schätzte ihn als einen seiner hervorragendsten Assistenten. Reich sammelte in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wertvolle analytische Erfahrungen und regte 1922 zu der Gründung eines technisch-therapeutischen Seminars an, an welchem systemische Studien individueller Fälle in analytischer Behandlung diskutiert werden sollten (von 1924 - 1930 übernahm Reich die Leitung dieses Seminars). Hier wird erkennbar, dass Reich durchaus als konventioneller Psychoanalytiker anfing und erst nach und nach zum "Steckenpferdreiter" wurde, als den ihn Freud zu späteren Jahren ironisch glossierte.

Seit 1928 wurden unüberbrückbare Differenzen bezüglich der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Psychoanalyse deutlich, welche es zwischen Reich und Freud gab. Reich distanzierte sich in dieser Zeit von Freud und siedelte zwei Jahre später nach Berlin um. Dass Freud ihn trotz dieser Differenzen noch immer sehr geschätzt haben musste, zeigt die Tatsache, dass er ihm den Posten des stellvertretenden Direktor der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik anvertraute, welcher die Leitung des technischen Seminars, d.h. die Ausbildung der Analytiker beinhaltete.

An der Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik war Reich anfangs maßgeblich beteiligt. Bereits 1926 publizierte er eine Aufsatzreihe mit dem Titel "Eltern und Erzieher - Der Erziehungszwang und seine Ursachen". Darin setzte er sich intensiv mit den Vorstellungen und Zielsetzungen der psychoanalytischen Pädagogik auseinander. Reich prägte die psychoanalytische Pädagogik entschieden mit und sie kann daher als das Grundfundament gesehen werden, auf dem W. Reich später sein Erziehungstheorem, das Prinzip der Selbstregulation, spezialisiert.

Die gemeinsamen Wurzeln von S. Freud und W. Reich lagen in dem ursprünglich energetischen Konzept Freuds, der Libidotheorie. Freud ging Anfang der 20er Jahre davon aus, dass die Libido in unmittelbarem Zusammenhang steht mit psychischer Krankheit und dass keine Krankheit auftritt, wenn diese affektiven, sexuellen Energien adäquat abreagiert werden können. Angst war hierbei das Ergebnis umgewandelter, nicht abgeführter Libido, d.h. sie entstand aus der Verdrängung der sexuellen Energie ins Unbewusste. Freud stieß jedoch im Rahmen seiner Arbeiten zur Libidotheorie auf drei grundlegende Probleme, welche er nicht zu klären vermocht hatte: "1. die Beziehung zwischen Sexualspannung und Lusterleben, 2. die biologischen Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität besteht und 3. die Beziehung von sexueller Erregung und Angstneurose" (Kriz, 1989: 34)

Freud wand sich später (eventuell aus Opportunismus oder als Art Kapitulation vor diesen Problemen) von seiner frühen Trieblehre ab und konzentrierte sich zukünftig auf die gesellschaftlich konform laufende Entwicklung der Ich- Psychologie.

W. Reich setzte hingegen die ursprüngliche Forschungsarbeit Freuds konsequent fort und stellte speziell die energetischen Aspekte der Libidotheorie in den Vordergrund seiner damaligen Arbeit; präziser gesagt, er untersuchte die Prozesse der Abfuhr und Speicherung von Energie, welche für die Manifestation neurotischer Störungen verantwortlich sind. Dabei erarbeitete er auf jedes der drei Probleme Freuds Antworten (vergleiche hierzu Punkt 6.1) und entwickelte als eigenständige Richtung die charakteranalytische Vegetotherapie, später dann psychiatrische Orgontherapie, sowie in Bezug auf die erziehungspraktische Umsetzung, das Prinzip der Selbstregulation.

Seit dieser Spaltung zwischen Reich und Freud kam es folglich zusehends zu Unstimmigkeiten in der bis dahin gemeinsamen analytischen Forschungsarbeit.

Sigmund Freud hatte den Sexualitätsbegriff der damaligen Zeit stark revolutioniert. Während vor Freud die Sexualität als rein genitale Erfahrung betrachtet wurde, differenzierte Freud mit dem Begriff der "Libido" die verschiedenen Formen, in denen sich der Trieb ausdrückt. Die Libido ist folglich nicht nur das Verlangen und der Vollzug von Sexualität, sondern die dahinterstehende Energie des Sexualtriebes. Dennoch definierte Freud unter der reifen Sexualität den vollständig vollzogenen Koitus, welcher durch den Orgasmus endet, und der durch die Überwindung der Partialtriebe gekennzeichnet ist (vergl. Selg 1979: 29 f.).

Wilhelm Reich ging in diesem Punkt wesentlich weiter, er betonte hierbei besonders die qualitativen Unterschiede der genitalen Vereinigung. Er erweiterte den Begriff der Sexualität, in dem er ihn durch die "orgastische Potenz" definierte. Gemeint ist hierbei nicht die Tatsache körperlich zum Orgasmus zu kommen, sondern um die Fähigkeit eine sehr viel tiefer reichende emotionale und körperliche Befriedigung erlangen zu können. Es geht "um die Fähigkeit, sich dem Strömen der biologischen Energie, die sich vornehmlich in unwillkürlichen Muskelkontraktionen entlädt, ohne Hemmungen und Blockierungen hingeben zu können, umfasst also die gesamte Beziehung eines Menschen zu seinem Körper und zu seinem Partner" (Kriz 1989: 81).

In diesem Zusammenhang ist zudem relevant, dass Freud annahm, das Geschlechtsorgan, die erogene Zone, setze eine gewisse Menge von sexueller Energie frei, also ein körperlicher Vorgang, welcher zu einem psychischen Reiz wurde. Reich betonte hingegen die Psycho- somatische Einheit, die Körper-Seele-Einheit. Er verstand den Körper und die Seele als einen parallel laufenden Prozess, welcher sich gegenseitig bedingt und wechselseitig ineinander eingreift. Diesem dynamischen Dualismus untersteht, nach Reich, natürlich auch die Sexualität.

Bezüglich der Analyse von Neurosen gewann Reich die Überzeugung, dass es keine neurotischen Symptome ohne eine Erkrankung des Gesamtcharakters gebe (Charakterneurose); deshalb sei es wichtig die Gesamtpersönlichkeit des Patienten zu erfassen, mit allen seinen non- verbalen Ausdrucksmitteln. Freud verstand hingegen neurotische Symptomatik als eine Art Fremdkörper im sonst intakten Seelenleben; die Neurose war also primär ein Erinnerungsproblem, bei dem er sich auf isolierte Systeme und Symptomatologie konzentrierte (vergl. Roazen, 1997: 480).

Von besonderer Bedeutung sind auch die Meinungsdifferenzen in der Frage, ob Sexualunterdrückung kulturnotwendig sei.

Freuds kulturphilosophischer Standpunkt bezüglich dieser Frage war (in späteren Jahren) eindeutig bejahend. Er unterstrich in diesem Punkt die Notwendigkeit der Sublimierung sexueller Energien, um dadurch in einer sozialen, kultivierten Gesellschaftsform existieren zu können (man beachte hierbei Freuds negative Grundhaltung, und Wertigkeit bezüglich der Sexualität; eine wahrhaft humane, freie und schöpferische Sexualität hätte demnach in unserer Gesellschaft keinen Platz). Offen blieb hingegen die Frage, wie sich die Wandlung eines Triebimpulses mit sexuellem Ziel in einen Impuls vollziehen soll, der in der Arbeit sich nicht nur verausgabt, sondern eine vollständige Befriedigung zu finden in der Lage sein soll (vergl. Zimermann, 1995: 68).

Auch seine Definition von Sublimierung unterschied sich erheblich von der S. Freuds. Reich sah in der Sublimierung keine Konkurrenz zwischen sexueller Triebkräfte und Arbeitsleistung. Vielmehr steht sie in wechselseitiger Interaktion zueinander. "Die Beziehung zwischen Sexualunterdrückung und Sublimierung ist keine mechanische (je mehr Sexualunterdrückung, desto mehr soziale Leistung), sondern eine funktionelle: bis zu einem gewissen Grade kann die sexuelle Energie sublimiert werden. Geht die Ablenkung zu weit, so schlägt die Förderung der Sublimierung in ihr Gegenteil, in eine Störung der Arbeitsfähigkeit um" (Reich, 1986 : 137). Er sah grundsätzlich keinen Gegensatz zwischen Sublimierung sexueller Energien und der sexuellen Befriedigung, sofern Sublimierung nicht als Sexualunterdrückung (in Form von Abwehrmechanismen z.B. Angst, Ekel, Scham ect.) missverstanden werde.

"Die analytische Pädagogik und Therapie versucht die Verdrängung der Sexualität zu beheben. Was geschieht, so lautet die nächste Frage, mit den Trieben, die aus der Verdrängung befreit sind? Die analytische Auskunft war: Die Triebe werden verurteilt und sublimiert. Von realer Befriedigung war keine Rede und konnte keine Rede sein, weil das Unbewusste als das Inferno asozialer und perverser Regung allein aufgefasst war." (Reich 1987 : 163)

Reich zweifelte an den Erzieherforderungen der psychoanalytischen Pädagogik, da diese, seiner Ansicht nach, auf einem grundsätzlichen Irrtum der Beurteilung der Sexualität beruhte. In Bezug auf die in der psychoanalytischen Pädagogik geforderte Sublimierung kindlich, sexueller Bedürfnisse, vertrat er die Auffassung, dass sich der Trieb zunächst einmal entfalten muss, ehe er sublimiert werden kann. Es bestehe ansonsten die Gefahr, dass sich frühe Versagungen sozial schädlich auswirken können. (vergl. Reich, 1926)

Im Zusammenhang mit den soziologischen Studien Reichs, kritisierte er Freuds Thesen bezüglich des Ödipuskomplexes. Er vertrat die Auffassung, dass nur die Auflösung der bürgerlichen Familie zum Verschwinden des Ödipuskomplexes führen könne ("und z.B. die Erfahrungen der israelischen Kibbutzim sollte später beweisen, dass er recht hatte", P. Roazen 1997 : 481)

Kein Einvernehmen bestand zudem in der Freudschen Todestriebtheorie. Freud hatte der Libido den Todestrieb gleichberechtigt zur Seite gestellt, er ging davon aus, dass manche Menschen einen scheinbar unüberwindbaren psychischen Widerstand gegen die eigene Gesundung entwickelten (vergleiche dazu auch Punkt 2.5.2.). Für W. Reich erwiesen sich seelischen Äußerungen, die als Todestrieb gedeutet werden konnten, als "Produkte einer Neurose". Durch die Weiterentwicklung der therapeutischen Technik gelang es Reich, solche Widerstände aufzulösen (Widerstandsanalyse), und er war damit im Stande, tiefere Schichten von verdrängten Impulsen freizulegen. Gemäß dieser Erfahrungen erkannte Reich, dass im Kern menschlicher emotionaler Strukturen keine destruktiven Impulse vorhanden sind; die irrationale Destruktivität war für ihn ein kulturelles Produkt, welches sich als sekundärer Trieb aus der kulturellen Sexualunterdrückung ergeben habe.

Wenn man eine Sentenz bezüglich der Disposition Freuds und Reichs aufstellen wollte, könnte sie wie folgt lauten: bei Freud "Wo Es war, soll Ich werden (ein Über-Ich gesteuertes Ich)" und bei Reich "Wo Über-Ich war, soll Ich werden" (wobei Reich zum Ziel hatte, es gar nicht soweit kommen zu lassen)

Wilhelm Reich stieß im Rahmen seiner Forschungen auf einen inneren Widerspruch in der Psychoanalyse, den man bis dahin und auch bis heute weitgehend verdrängte. Er hinterfragte die Psychoanalyse (die eine Nacherziehung des "neurotischen" Klienten sein will) nach dem Ziel der Erziehung bzw. dem Kriterium der Heilung. Es gab keinen Begriff von seelischer und sexueller Gesundheit, auf den hin die Therapie auszurichten sei. Die Zielsetzung der Psychoanalyse war (und ist oftmals auch heute noch) das möglichst reibungs- und konfliktlose Funktionieren des Individuums in der gegebenen gesellschaftlichen Umwelt. Reich kritisierte diese normative Anpassung des Menschen an der gesellschaftlichen Situation. Wer in der gegebenen gesellschaftlichen Realität symptomfrei funktionierte, musste nach seiner Auffassung keineswegs als gesund gelten. Er orientierte sein Therapieziel nicht an beliebigen, historisch gewachsenen oder gesetzten Kriterien, sondern an psycho-physiologisch gegebenen Gesetzmäßigkeiten; er konzipierte die "orgastische Potenz" als ein Therapieziel.

Auch die Psychoanalytische Pädagogik wollte das Kind nach ihren sozialen und gesellschaftlichen Idealen "umerziehen", wobei Reich auch in diesem Punkt nicht von äußerlichen Kriterien ausging, sondern vom biologischen Kern des Kindes.

Freuds Menschenbild geht, vereinfacht dargestellt, davon aus, dass das Kind bzw. der Mensch, von seinem Ursprung her (dem Unbewussten, dem Es), ein wildes und schwer zu kontrollierendes Wesen ist, welches es gilt, im Rahmen seiner Sozialisation (Erziehung) normativ anzupassen und zu zähmen. Das Menschenbild Reichs hingegen ist wesentlich lebenspositiver und humanistischer.




Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
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