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Literatur & MedienZurück: Das Modell Summerhill in der heutigen Praxis Forwärts: Kritische Analyse der antiautoritären Erziehung Neills und seiner Schule Summerhill
"Antiautoritäre Erziehung war plötzlich in." (Paffrath 1972, 10). Aus dieser Situation kann sich auch die weite Verbreitung von Neills Buch erklären, denn man glaubte hier ein Modell einer antiautoritären Erziehung zu finden. Diese Diskussion um die antiautoritäre Erziehung erreichte 1971 einen weiteren Höhepunkt, als der Sammelband "Summerhill - pro und contra" mit Stellungnahmen führender amerikanischer Fachleute veröffentlicht wurde. In den ersten beiden Jahren nach der Veröffentlichung wurden etwa 220 000 Exemplare verkauft (Rowohlt Verlag, 23. Februar 1996). Wie durchschlagend die Idee der antiautoritären Erziehung war, zeigt zum einen die überschwemmende Fülle von Büchern, Rezensionen, Zeitungs- oder Zeitschriftenartikeln und zum anderen die Aufnahme des Themas als Lehrangebot zahlreicher Hochschulen und Universitäten. Paffrath spricht in diesem Zusammenhang von einer "Volksbewegung". Ferner stellte er die Behauptung auf, daß es sich kaum eine Zeitung oder Zeitschrift erlauben konnte, zu diesem Problem nicht Stellung zu beziehen (vgl. Paffrath 1972, 12). Nachdem ich im vorigen Kapitel versucht habe, A.S. Neills Erziehungskonzept und sein Verständnis von Autorität zu skizzieren, möchte ich in diesem Kapitel den Einfluß der Pädagogik Neills und seiner Schule Summerhill auf die pädagogischen und antiautoritären Ansätze Ende der 60er Jahre umreißen. Ich möchte untersuchen, wie weit der Einfluß reichte und welche Konsequenzen er hatte. Dabei werde ich allerdings nicht ausführlich auf die "antiautoritäre Bewegung" insgesamt eingehen, da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Jedoch soll hier der Versuch einer Definition von Antiautorität unternommen werden, um die Komplexität des Gegenstandes darzulegen und unterschiedliche Ansätze, Ausgangspunkte und das intendierte Ziel Neills und der deutschen Bewegung darzustellen. Das Phänomen der antiautoritären Erziehung ist in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu sehen und kann daher nicht losgelöst von diesem behandelt werden. Die antiautoritäre Entstehungsgeschichte ist eng verknüpft mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre, auf die ich im folgenden eingehen möchte.
In der Krise von 1967 wurde deutlich, daß die veralteten Bildungsstrukturen den Ansprüchen nach höher qualifizierten Arbeitskräften nicht mehr gerecht werden konnten. Eine Reform des Bildungswesen war überfällig. Die Unzufriedenheit innerhalb der Studentenschaft ist jedoch nicht nur auf ökonomische Probleme zurückzuführen, ein zentraler Punkt für das zunehmende politische Engagement der Studenten und Studentinnen war die 1966 gebildete große Koalition zwischen SPD und CDU/CSU, deren innenpolitisches Konzept studentische Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich des Parlamentarismus nicht erfüllten. Auch wenn nun der Eindruck entstanden ist, daß der studentische Protest sich zunächst gegen politische und soziale Strukturen richtete, so muß er dennoch auch als Widerstand gegen die universitären Mißstände gesehen werden. Den Ansatzpunkt für kritische Angriffe bildeten die schlechten Studienbedingungen aufgrund von Überfüllung der Hochschulen, Unfähigkeit und Unwilligkeit der Universität zur Selbstreform, unangemessene Hochschulmaßnahmen der Länder, unüberschaubare Fakultäten, zunehmende Stoffülle, starre, vielfach berufs- und wirklichkeitsfremde Prüfungsordnungen, mangelnder Kontakt zwischen Studenten und Professoren, veraltete, erstarrte Formen dogmatischen Dozierens, eine unkontrollierte, patriarchalische Ordinarienherrschaft, verbunden mit der Zurückdrängung kritischer und fortschrittlicher Fragestellungen aus dem Wissenschaftsbetrieb sowie mangelnde Einflußmöglichkeiten der Studenten auf die Organisation ihrer Lernprozesse und auf das Selbstverständnis der Universität (vgl. Masthoff 1981, 10). Dadurch daß die Studenten und Studentinnen mit ihrer Forderung nach einer Hochschul- und Studienreform immer häufiger auf gesellschaftliche Barrieren trafen und somit in den außeruniversitären Bereich stießen, wurde der Zusammenhang zwischen hochschulpolitischen Demokratisierungsprozessen und den Gesellschaftsstrukturen sichtbar. Die Studentenbewegung lehnte "eine von ihnen als verbürgerlicht, erstarrt, verlogen, etabliert und heuchlerisch interpretierte Wohlstandsgesellschaft" ab (Masthoff 1981, 25) und wendete sich somit radikal gegen die bestehende Gesellschaft. Überlieferte gesellschaftliche Denk- und Verhaltensmuster wurden aufs schärfste bekämpft und durch andere Vorstellungs- und Verhaltensmuster ersetzt. Die Studentenschaft richtete sich eindeutig gegen autoritäre Herrschaftsbeziehungen - vor allem von Menschen über Menschen-, die Masthoff als irrationale, nicht begründete und illegitime Beziehungen beschreibt. Die Studenten und Studentinnen distanzierten sich hier klar von einer durch Machtmittel gesteuerten Gesellschaft. Ihr zentraler Denkansatz forderte vielmehr eine neue, repressionsfrei organisierte Gesellschaft der Zukunft. Der Erziehungsbereich gewann an Bedeutung. Eine Umgestaltung der Gesellschaft setzte eine Veränderung des Bewußtseins und auch der Erziehung voraus. Bei der Schaffung eines "neuen Menschen" (Masthoff 1981, 28) spielte die antiautoritäre Erziehung eine entscheidende Rolle. Antiautoritäre Erziehung sollte in gewisser Weise vor der gedankenlosen Übernahme von außen vorgegebener Ordnungen und Verhaltensmuster bewahren und damit die kritische Auseinandersetzung mit jenen Formen politischer Herrschaft, die Freiheit und Selbstbestimmung verhindern, ermöglichen.
Der Ansatz der antiautoritären Erziehung stellt kein Ergebnis einer wissenschaftlichen Forschung dar, sondern ist als eine erzieherische Provokation der sechziger Jahre, im Zusammenhang mit der gesellschaftskritischen Praxis der revolutionär-sozialistischen orientierten Studentenbewegung zu sehen. "Antiautoritäre Erziehung läßt sich rein formal als Ablösung der als autoritär verstandenen, herkömmlich praktizierten Erziehung fassen." (Masthoff 1981, 30). Entstehungs- und Ursachenzusammenhang hinsichtlich antiautoritärer Erziehung versteht Breiteneicher (1971, 125f) wie folgt: "Antiautoritäre Erziehung ist zunächst eine Erfindung des kleinbürgerlichen Intellektuellen, geboren aus seinem Konflikt, den er in unserer Gesellschaft durchstehen muß, den Konflikt mit den Autoritäten." Es erscheint sinnvoller, die antiautoritäre Erziehung ex negativo zu definieren: antiautoritäre Erziehung lehnt eine als repressiv verstandene Erziehung radikal ab. Bei der Abgrenzung des Begriffs antiautoritäre Erziehung sollte man die Bedeutung des Präfix "anti" hinweisen. Die ursprüngliche griechische Präposition bedeutet so viel wie: entgegen, gegen, gegenüber, im Angesicht von (vgl. Claßen 1973, 161). Die Vorsilbe "anti" drückt in deutschen Wortverbindungen wie Antifaschismus, Antisemitismus, Antiliberalismus eine "feindlich-aggressive, kämpferisch-angreifende Komponente" (Masthoff 1981, 31) aus. Eine Verbindung zu Gewaltsamkeit, Fanatismus, Auflehnung und Rebellion ist leicht herzustellen. Wer eine Anti-Haltung eingenommen hat, wird nicht zwangsläufig bereit sein, sich in einen Dialog mit anderen Positionen, in den Argumentationszusammenhang des Gegenübers einzulassen, Reflexionen eventuell kritisch zu überprüfen (vgl. Masthoff 1981, 31). Die Anti-Haltung kann leicht als starr, statisch und unflexibel verstanden werden, die sehr stark mit Affekten, Emotionen und Irrationalismen verbunden ist. Die antiautoritäre Erziehung definiert sich demnach aus den Gegensätzlichkeiten, aus dem konträren. Antiautoritäre Erziehung wendet sich gegen Autoritätselemente, die sich einer argumentativen Legitimation verweigern und sich statt dessen auf Machtbefugnisse stützen. Nach Breiteneicher (1971, 20) gehört zur antiautoritären Erziehung "Realitätstüchtigkeit und Anerkennung der objektiven Notwendigkeit. Denn wenn ein Schiff sinkt, muß man es verlassen." Wogegen wendet sich nun die antiautoritäre Erziehung?
Im folgenden sollen nun ähnliche Wörter aufgelistet werden, die häufig als Leitbegriff der antiautoritären Erziehung gebraucht werden: "freie Erziehung", "freiheitliche Erziehung", "repressionsfreie Erziehung", "repressionsarme Erziehung", "nichtrepressive Erziehung", "angstfreie Erziehung", "unautoritäre Erziehung", "autoritätsarme Erziehung", "nichtautoritäre Erziehung", "nichtfrustierende Erziehung", "Laissez-faire-Erziehung", "antiautoritative Erziehung", "kollektive Erziehung", "revolutionäre Erziehung", "sozialistische Erziehung", "antikapitalistische Erziehung", "proletarische Erziehung", "emanzipatorische Erziehung" (vgl. Kron 1973, 8ff und Paffrath 1972, 14). Die hier dokumentierte unterschiedliche Zusammenfassung unterschiedlicher Ansätze zeigt, wie schwierig es ist, den Terminus antiautoritäre Erziehung festzulegen. Paffrath konstatiert: "In Diskussionen und Gesprächen zeigt sich in letzter Zeit immer deutlicher [...] eine heillose Verständigungsschwierigkeit und Begriffsverwirrung. Fast jeder meint oder intendiert mit antiautoritärer Erziehung etwas Unterschiedliches." (Paffrath 1972, 14). Die unter antiautoritärer Erziehung subsumierten Begriffe können außerdem deshalb kein Hilfsmittel bei der Definition darstellen, da sie zum größten Teil selber inhaltlich nicht klar voneinander abzugrenzen sind. "Ein Schlagwort kann nicht das andere erklären, sondern trägt nur zu weiterer Ratlosigkeit bei." (Masthoff 1981, 39). Eine endgültige Definition ist sicherlich erst dann gefunden, wenn antiautoritäre Erziehung sich inhaltlich konkret definieren läßt. Dann besteht jedoch die Gefahr, daß durch feste Maßgaben, Normen und neu aufgebaute Positionen aus der antiautoritären Erziehung ein autoritär-dogmatisches Konzept wird.
Innerhalb der antiautoritären Erziehungbewegung lassen sich nach Paffrath (1972, 32) zwei verschiedene Grundpositionen unterscheiden: Summerhill und die sozialistischen Modelle. Auch Masthoff (1981, 84) und Kron (1973, 8) nehmen eine Unterscheidung von zwei extremen Polen vor. Das eine Extrem ist gekennzeichnet durch Selbstverständnis, Selbstregulation, Freiheit, Autonomie, Ich-Stärke, Selbstverwirklichung und Glück des Individuums. Außerdem gibt sie sich als unpolitisch aus. Genau diese antiautoritären Erziehungsbestrebungen liegen der von A.S. Neill gegründeten Internatsschule Summerhill zugrunde. Das andere Extrem wird durch eine konsequent gesellschaftspolitische Perspektive der Erziehung definiert. Erziehung ist hier im politischen Sinne zu sehen, da sie im Kontext mit Klassenkampf und Befreiungsarbeit gesehen werden muß. Es wird Kritik an den bestehenden Verhältnisse geübt und eine "revolutionäre Wandlung des tradierten Gesellschaftssystem" (Masthoff 1981, 41) gefordert. Ihre Zielposition "ist die einer revolutionären oder antikapitalistischen Erziehung als Teilziel der Revolution der bürgerlichen, d.h. der bestehenden Gesellschaft" (Kron 1973, 8). Diese sozialistische Richtung schlägt sich am deutlichsten in den Kinderläden nieder. Deutsche Landerziehungsheime und antiautoritäre Ferienlager lassen sich ebenfalls diesen Modellen zuordnen. Eine Übereinstimmung von den sozialistischen Modellen und Summerhill in manchen Punkten läßt sich nicht leugnen, so lehnen sich beide an Freuds Psychoanalyse an und eine religiöse Erziehung radikal ab. Ein bedeutender Punkt liegt darin, daß der Klassenkampf die sozialistischen Modelle, nicht jedoch das Neillsche Konzept charakterisiert. Nach Paffrath (1973, 14) läßt sich jedoch eine entscheidende Gemeinsamkeit herausarbeiten. Der Anpruch auf antiautoritäre Eziehung trifft nur dann zu, wenn Autorität nicht in jeder Form konsequent abgelehnt wird. Denn wie bereits nachgewiesen wurde, trifft dieser Anspruch ebensowenig auf Summerhill wie auch auf die sozialistischen Modelle, die mit einer klaren Zielvorgabe -der Erziehung zum Klassenkampf- arbeiten, zu.
Zunächst wurden die Kinderläden als "Inseln einer repressionsfreien Erziehung" angesehen, die sehr stark von Freuds Modell der Psychoanalyse beeinflußt wurden. Die repressionsfreie Erziehung lehnte Autoritätshörigkeit, Anpassung und Unterdrückung entschieden ab und forderte statt dessen Freiheit und Glück des Kindes, womit letzlich eine politische Erziehung zum Klassenkampf gemeint war. Im folgenden soll nun auf das pädagogische Konzept der Kinderläden eingegangen werden. "Autoritäre Persönlichkeit bezeichnet [...] ein Syndrom von charakterlichen Zügen und Verhaltensweisen, das das Resultat aus elterlichen Erziehungspraktiken und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen darstellt." (Masthoff 1981, 73). Die Anwendung von Zwang, Reinlichkeitserziehung, sexualitätsverneinender und sexualitätsunterdrückender Erziehungspraxis und eine Durchsetzung äußerer Ordnungsprinzipien nach vorgegebenen Normen seien als die direkte Ursache der Entstehung einer autoritären Erwachsenenpersönlichkeit zu sehen und für die Herausbildung eines autoritären Charakters verantwortlich. Hieraus muß zwangsläufig eine nicht familienfixierte Erziehungspraxis folgen, da die "bürgerlichen Erziehungsmethoden bei Kindern die Weichen stellen für angepaßtes und autoritäres Verhalten und damit in einem Zirkelprozeß für die Beibehaltung gegebener Zustände und Verhältnisse sorgen" (Duve 1971, 115). Der Kinderladen sollte sich demnach als Institution erweisen, die dem Kind genausoviel Sicherheit bot wie die Familie, nicht jedoch deren autoritäre Strukturen besitzt. Das Kind lebt mit anderen Kindern in einem Kollektiv, um Verhaltensweisen wie Ich-Stärke, Selbstbewußtsein, Solidarität und Kritikfähigkeit einzuüben und die Isolierung aufzuheben (vgl. Masthoff 1981, 74). Das Leben im Kinderkollektiv sollte eine ausschließliche Fixierung der Kinder auf die Eltern verhindern. Das daraus resultierende Erziehungsziel wird wie folgt skizziert: "Die Kinder sollen [...] unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse glücklich leben und gleichzeitig zu autonomem, kompetentem, kritischem, widerstandsfähigem Handeln in Lebenssituationen befähigt werden, so daß sie in solidarischer Aktion gegen unterdrückende, irrationale Realitätsbereiche im Sinne einer radikalen Veränderung der vorfindlichen Gesellschaft angehen" (Masthoff 1981, 75) können. Basierend auf den Theorien Sigmund Freuds und Wilhelm Reichs beruht der Erziehungsansatz der Kinderläden auf dem Grundprinzip der Ermöglichung freier Bedürfnisbefriedigung und damit einer Sozialisation, die der Triebstruktur des Kindes adäquat sein soll. Selbstregulierung bedeutet jedoch nicht zielloses Handeln oder bloßes Gewährenlassen, sondern die Befähigung des Kindes, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu artikulieren und zu befriedigen. Es setzt ein Klima affektiver Wärme und Zuwendung und einen Erfahrungsspielraum voraus, der keine äußerliche Einengung seitens der Erwachsenen erfahren soll, jedoch dort eine Begrenzung erhält, wo die Selbstregulierung des anderen eingeschränkt wird. Um eine Selbstregulierung zu ermöglichen, gilt es als unumgänglich, ein notwendiges Ordnungsgefüge aufzustellen, an dessen Erarbeitung die Kinder jedoch so weit wie möglich aktiv beteiligt sein sollen, um die Wahrnehmung ihrer Interessen zu gewährleisten. Mit der Möglichkeit, an der Gestaltung der äußeren Ordnung im Kinderladen aktiv mitzuwirken, ist gleichzeitig die Chance zur Selbtregulierung gegeben, denn "jede Möglichkeit [...], die dem Kind gegeben wird, seine Ordnung zu realisieren, bedeutet für es, ein Stück seiner verlorenen Autonomie zurückzuerobern" (Duve 1971, 63). Da die Sexualerziehung in Kinderläden eine wichtige Rolle einnimmt, soll kurz darauf eingegangen werden. Die Kinderläden schließen sich der Theorie Wilhelm Reichs an, nach der autoritäre Gesellschaften eine lustfeindliche Sexualmoral verordnen. Demnach stehen Sexualität und Machtsystem insofern in einem engen Zusammenhang, als das eine sexualitätsverneinende Erziehung als notwendiger Bestandteil gesellschaftlicher Herrschaftsstabilisierung angesehen wird. Selbstregulierung in sexueller Hinsicht fordert, daß die Erwachsenen sexuelle Bedürfnisse des Kindes nicht nur zur Kenntnis nehmen und dulden, sondern bejahen, was den Neillschen Auffassungen entspricht. Die studentischen Vorstellungen über eine radikale Veränderung des bestehenden kapitalistischen Gesellschaftssystem bewegte sich langsam hin zu einer marxistischen, klassenlosen Gesellschaft. "Die Erziehung in den Kinderläden kann sich nicht als Vorbereitung auf ein Leben in einer klassen- und repressionslosen Gesellschaft verstehen, sondern als Vorbereitung auf eine Klassengesellschaft, die es radikal zu verändern gilt." (Masthoff 1981, 84). Diese handlungsorientierte, explizit zielgerichtete Auffassung von antiautoritärer Erziehung entfernte sich zunehmend vom Neillschen Ideal einer selbstbestimmten Erziehung. Sozialistische Reformer erkannten dies und distanzierte sich von Neills Erziehungsmethoden, die als "schlechte Tarnung für eine Erziehung zur totalen Anpassung" (Breiteneicher et al. 1971, 48) bezeichnet wurden.
An dieser Stelle ist jedoch interessant, was eigentlich durch sie erreicht worden ist? Die antiautoritäre Erziehungsbewegung hat sicherlich positiv auf die Diskussion der Problematik von Strafe, Autorität, Freiheit und Gehorsam ausgewirkt. Durch die Konfrontation mit ihr wurde eine kritische Revision von Unterricht und Schule, von Lehrinhalten, Erziehungszielen und Gesellschaftsbezug erreicht. Die antiautoritäre Erziehung bot eine Alternative zum als teilweise veraltet angesehenen traditionellen Bildungssystem. Summerhill ist in diesem Zusammenhang immerhin als ein verwirklichtes Projekte anzusehen. Doch die Bewegung ist weithin "versandet" (Paffrath 1972, 67). Fragt man nach den Ursachen des Scheitern der antiautoritären Erziehungsbewegung, so gibt es eine Reihe von offenliegenden Gründen, versteckten Motiven oder sich bereits von Anfang an abzeichnenden Tendenzen, die im folgenden kurz skizziert werden sollen.
Auf einige der damals gegründeten Alternativschulen wird nun kurz eingegangen.
Die Glocksee-Schule bei Hannover ist die am längsten genehmigte Alternativschule in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Masthoff 1981, 113). Sie besteht seit 1972/73 und umfaßt 6 Klassen mit ca. 150 Jungen und Mädchen im Alter von sechs bis zwölf Jahren (vgl. Ziehe 1979, 53). Das Land Niedersachsen finanziert diesen Schulversuch. Freiwillige Teilnahme an von Lehrkräften wie Schülern und Schülerinnen geplanten Aktivitäten ist ein zentrales Charakteristikum dieser Schule, deshalb herrscht keine zeitliche Unterteilung eines Vormittags vor. Es gibt keine Noten und keine Jahrgangsklassen. Ein wichtiges Prinzip ist die Selbstregierung, was in Glocksee bedeutet, "unabhängig von Erwachsenenverboten seine kindlich-gesellschaftlichen Konflikte ausleben zu dürfen, um sie wahrnehmen zu können und zu erfahren, daß auch andere Kinder dieselben Probleme haben. So wird ein Fundament geschaffen für gegenseitiges Helfen und Verstehen, das auf keine Weise mit der verordneten Rücksichtnahme' einer traditionellen Schulordnung zu vergleichen ist." (van Dick 1979, 192f). Für die Lehrkräfte bedeutet die Selbstregulierung der Kinder, daß sie nicht passiv zusehen, sondern beobachten, anregen, helfen, unterstützen und Lernanlässe initiieren sollen. Im Mittelpunkt stehen erfahrungsnahe Unterrichtsprojekte, die von Fragestellungen der Kinder ausgehen. Die Eltern kooperieren mit den Lehrkräften. Ihr primäres Anliegen ist es, eine Schule zu schaffen, die einen angstfreien Erfahrungsraum für die Schüler und Schülerinnen darstellt. Die Geschichte der Freien Schule Frankfurt hängt unmittelbar mit der Geschichte der Kinderladenbewegung zusammen. Als 1969 abzusehen war, daß die erste Kindergruppe bald schulpflichtig würde, stellte sich für die Eltern die Frage: Was kommt nach den Kinderläden? "Antiautoritär erzogene Kinder und Schule sind im landläufigen Vorurteil genauso unvereinbar wie Elefanten und Porzellanläden - wobei die Haut der Kinder leider erheblich dünner und Schulen unzerbrechlich sind." (von Werder, 1977, 167). Es wurde ein Verein von Eltern gegründet, der nicht von Anfang an eine Schulgründung in Betracht zog, weil ihre Kinder nicht isoliert sein sollten, da sie sich so nicht genug für die Verbesserung der Schulbedingungen für alle Schüler und Schülerinnen einsetzen konnten und sie zudem das Gefühl hatten "auszusteigen". Es wurde die Bürgerinitiative "Verändert die Schule - jetzt!" gegründet (vgl. van Dick 1979, 176) und eine Versuchsklasse in einer Grundschule in Frankfurt-Rödelheim eingerichtet. Aus diesem Modell heraus entstand der Gedanke, die bereits gemachten Erfahrungen in einer eigenen Schule fortzusetzen. Die Freie Schule Frankfurt besteht seit 1974 und ist seit 1986 eine genehmigte Kindertagesstätte und eine genehmigte Grundschule und Förderstufe (vgl. Informationsprospekt der Freien Schule Frankfurt 1996). 47 Jungen und Mädchen im Alter von 3 bis 13 Jahren besuchen diese Schule. In der Freien Schule Frankfurt geht es darum, die Kinder Schule als angstfreien Erfahrungsraum erleben zu lassen und sich den Alltagserfahrungen und Bedürfnissen des Kindes zu orientieren. Dem Kind wird eine weitgehende Selbstregulierung ermöglicht. Eine Verbindung zwischen Elternhaus und Schule wird durch engagierte Mitarbeit der Eltern gewährleistet. Leistungskontrolle durch Notengebung findet nicht statt, ebensowenig gibt es Hausaufgaben und das Wiederholen von Klassenstufen. Ausführliche Gutachten und regelmäßige Berichte auf dem wöchentlichen Elternabend geben ein Bild über den Leistungsstand der Schüler und Schülerinnen ab. Die Schule arbeitet nicht in Jahrgangsklassen, sondern in 3 Lerngruppen, die jedoch durchlässig sind, indem sie sich nach den individuellen Lernbedürfnissen des Kindes richten. Das Hauptanliegen der Freien Schule Frankfurt ist es, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in die Schülergruppen zu integrieren und nicht auszusondern. Es gibt 7 Erwachsene, die sich um die Kinder kümmern. Zusätzlich bieten andere Erwachsene (z.B. Musiklehrkräfte) an verschiedenen Tagen in der Woche Kurse an. Ein Koch sorgt für die gemeinsamen Mahlzeiten: das Frühstück, das Mittagessen und den Kakao zum Schulschluß. Die Freie Schule Essen war anfangs die Gründung einer eigenständigen und ganztägigen Versuchsschule im Grundschulbereich. Aus dem Seminar "Das Ende der Schule" an der Universität Essen entwickelte sich 1975 der Arbeitskreis "Freie Schule Essen"; 1976 wurde ein Papier "Leben ohne Angst" erarbeitet und dann eine umfangreiche pädagogische Konzeption für eine zu gründende Freie Schule Essen vorgelegt (Kanauer et al. 1979, 183). 1977 wurde dann ein offizieller Antrag zwecks der Errichtung eines Schulversuchs an das nordrhein-westfälische Kultusministerium geschickt. Ohne konkrete Stellungnahme vom Kultusministerium begannen im Oktober 1977 nicht genehmigungspflichtige pädagogische Aktivitäten (vgl. Masthoff 1981, 115). Vormittags findet ein von Eltern gestalteter alternativer Kindergarten statt; nachmittags werden Kurse, wie Kochen, Töpfern, Fotografieren, Musizieren, Spielen und Hausaufgaben angeboten. Zusätzlich findet eine Kindertheraphie statt (vgl. Winkel 1979, 57). Die Schule wird von Spenden, von Mitgliedsbeiträgen der Vollmitglieder des Vereins (1% vom Nettogehalt) und durch Einnahmen aus Publikationen und Vorträgen finanziert (vgl. Winkel 1979, 57). Im Frühjahr 1978 bot das Kultusministerium einen Kompromiß an, der besagte, daß die Freie Schule Essen als Unterstützung eines vierjährigen einklassigen Schulversuchs in einer benachbarten Grundschule mit finanziellen Mitteln von Land und Stadt existieren sollte, wobei die nachmittaglichen Aktivitäten weiterhin in Essen-Katernberg stattfinden sollten. Dieser Kompromiß führte zu heftigen Auseinandersetzungen: "Der Schulversuch in Öffentlicher Trägerschaft würde zwar die finanzielle Absicherung bringen, aber gleichzeitig droht die pädagogische Abwässerung; umgekehrt würde der Status einer privaten Ersatzschule die pädagogische Konzeption größtenteils bewahren, jedoch den finanziellen Kollaps heraufbeschwören." (Winkel 1979, 58). Nachdem Korrekturen vorgenommen worden waren, stand die Genehmigung als öffentlich finanzierter Schulversuch im Jahre 1980 immer noch aus. Das Konzept der Freien Schule Essen läßt sich anhand folgender Merkmale umreißen:
Die Kritik, die die Alternativschulbewegung an die Institution Schule richtet, soll im folgenden dargestellt werden. Das Lernen in der Regelschule wird als "passive Rezeption vorgedachter Sinnstrukturen" (Ramseger 1979, 226) definiert. Der Lernbegriff, der die Praxis der Alternativschulen kennzeichnet, wird als selbständige, spontan-entdeckende, erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit Menschen und Sachverhalten verstanden. Regelschulen zeigen dem Schüler und der Schülerin täglich, wie inkompetent und unwissend er oder sie ist. In der Alternativschule soll Lernen nicht als "diskriminierender und verunsichernder Prozeß" erlebt werden, sondern "als alltagsverstehend und -bewältigend, als ein Mittel zur Befreiung" (van Dick 1979, 156). Lernen in der Regelschule wird mit "Zwangsbelehrung" (Masthoff 1981, 117) gleichgesetzt. Lernen ist ein fremdbestimmter Prozeß, da der Unterricht zum einen durch ministerielle Strukturen vorbestimmt wird und zum anderen die Entscheidungsräume der Lehrkräfte zu gering sind. "Lernen hat sich an einer minutiös präformierten Lernzielmatrix zu orientieren" (Masthoff 1981, 117), so daß es unmöglich gemacht wird, vom Neuen und noch nicht Erfahrenen auszugehen. In der Alternativschule werden Inhalte und Organisationen dagegen selbstimmend organisiert. Hier entscheiden Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte gemeinsam, was getan wird, wie, wann, wo und wie lange. Lehrkräfte, Schüler und Schülerinnen erfahren keine Einengung durch verpflichtende, lückenlos fixierte Lernpläne. Lehrplanentwicklungen werden in einem selbstverantwortenden Prozeß von den Beteiligten selbst gemacht. Masthoff weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, daß die Beliebigkeit der Inhalte, die Unbekümmertheit im Sinne eines Laissez-faire und das Fehlen einer jeglichen systematischen Planung Konzeptlosigkeit bedeutet, was nämlich vielfach angenommen wurde, nämlich das antiautoritäre Erziehung mit Laisse-Faire gleichgesetzt wurde. Der Betroffene erfährt Unterricht als eine Sache, die ihn selbst angeht und die er selbst bestimmt. In der Regelschule sind verschiedene Fächer einzuhalten, die in Zeiteinheiten von 45 Minuten fixiert und verplant sind. In Alternativschulen geschieht Lernen dagegen in fächerübergreifendem Unterricht, z.B. in offenem Unterricht oder in Projektarbeit. Borchert und Derichs-Kunstmann fordern eine Abschaffung der Unerrichtseinteilung in Schulstunden und Pausen. "Interessen von Schülern und Lehrern lassen sich nun einmal nicht in ein festes Leitkorsett von Stundeneinheiten und -plänen pressen. Individualisierung des Lernens, das Anknüpfen an spontane Bedürfnisse und die Versuche zur Selbstregulierung werden nämlich behindert, wenn nicht gar unmöglich gemacht." (Borchert, Derichs-Kunstmann 1979, 139). In der Regelschule wird das affektive und soziale Lernen zugunsten einer einseitigen Dominanz des kognitiven Lernens vernachlässigt. In der Alternativschule werden dagegen affekt-emotionale und soziale Lernprozesse angesprochen. Lernen bedeutet hier nicht nur Wissenserwerb, sondern betrifft ebenso auch Gefühle und das Verhalten sich selbst und anderen gegenüber. Da in der Regelschule eine deutliche Trennung zwischen Theorie und Praxis, Wissen und Handeln herrscht, wird die Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen in der gesellschaftlichen Umwelt kaum berücksichtigt. Lerninhalte bleiben oftmals abstrakt und nicht nachvollziehbar und eine Wirklichkeit wird immer nur simuliert. In der Alternativschule wird versucht, diese Isolierung aufzuheben, indem sie Erfahrungen der Kinder zum Gegenstand von Unterricht werden lassen, aus dem konkrete Erfahrungen resultieren. Wünsche, Probleme, Interessen und Konflikte der Kinder werden bewußt in den Schulalltag miteinbezogen. In diesem Sinne versteht Kunstmann die Alternativschule als eine "auf lebenspraktische Vorzüge gerichtete Wissenaneigung" (Kunstmann 1979, 192). Die Regelschule geht davon aus, daß Jahrgangsklassen nicht nur eine Altershomogenität, sondern auch eine Homogenität der Motivation, der Lernfähigkeit, des Lerntempos, des Lernrhythmus und der Interessen besteht. Die Alternativschule geht jedoch davon aus, daß jedes der Kinder anders lernt und dementsprechend behandelt werden muß. Daraus folgt die pädagogische Konsequenz, daß der geschlossene Klassenverband zugunsten einer informellen, flexiblen Unterrichtsorganisation aufgehoben werden muß, in der Kinder alleine oder in kleinen Gruppen, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Aktivitäten lernen. Zwang, Druck, Gehorsam und Unterordnung sind wichtige Faktoren, die die Regelschule kennzeichnen. Selbstregierung bildete das wichtigste Prinzip der Alternativschule. Autorität im Sinne von Herrschaft und Gewalt ist nicht vorhanden, da es der Selbstregulierung entgegenwirkt. Selbstregierung heißt, "den Kindern soweit irgend möglich die Gelegenheit zu geben, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen" (Borchert, Derichs-Kunstmann 1979, 140). Lernen in der Regelschule ist sehr stark mit Angst verbunden, hervorgerufen durch Sitzenbleiben, Zensuren und Strafen. Schulisches Lernen wird "tendenziell vom Interesse an den jeweiligen Inhalten abgekoppelt und auf das formale Interesse an "guten" Noten ausgerichtet." (Kunstmann 1979, 194). "Lernen ohne Zwang" bedeutet für die Alternativschulen einen völligen Verzicht auf Auslesemechanismen. "Daß Zensuren sozialschädliches Verhalten bewirken, Konkurrenz aufbauen, Lernfreude zerstören und immer mehr Kinder in Krankheiten treiben, ist für die Alternativschulen an sich ja schon Argument genug für die konsequente Abschaffung des Notenterrors." (Borchert, Derichs-Kunstmann 1979, 141). In der Regelschule findet eine traditionell definierte Abgrenzung zwischen Schüler-, Lehrer- und Elternrolle statt. Die Alternativschule sieht eine Veränderung der "gleichgültig-resignativen oder aggressiven Schülerrolle in Richtung auf spontan-konstruktive, eigenverantwortete Mitgestaltung der Lernprozesse vor" (Masthoff 1981, 120). Eltern werden aktiv an Planung, Erarbeitung und Durchführung beteiligt. Die bislang dominierende, unangreifbare Stellung des Lehrers soll unter der Perspektive seiner Bereitschaft zur Hilfestellung bei Organisation und Durchführung von Lernprozessen umstrukturiert werden. Das Verhältnis zwischen Lehrkräften, Schülern und Schülerinnen basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Daraus entwickelt sich eine positive Zuwendung anstelle einer angsteinflößenden Beurteilung, ein partnerschaftliches Verhalten anstelle eines autoritären Verhaltens und ein Miteinander anstelle eines Gegeneinanders.
Generell läßt sich sagen, daß das in seiner Unschärfe schon dargestellte Konzept des Antiautoritären eine Gemeinsamkeit von deutschen Alternativschulen und Summerhill darstellt. Die unterschiedliche Struktur der Schulen - die deutschen Schulen sind hauptsächlich Tagesschulen, - und die teilweise stark differierende Schülerzahl verbunden mit einer unterschiedlich-ideologischen Verwurzelung der Schulgründer läßt kaum Gemeinsamkeiten, abgesehen von den in Schlagwörtern in Selbstbestimmung usw. erkennen.
Wiss. Hausarbeit, 1. Staatsex. 1996, B. Ahrens, PH Heidelberg Zurück: Das Modell Summerhill in der heutigen Praxis Forwärts: Kritische Analyse der antiautoritären Erziehung Neills und seiner Schule Summerhill |