paed.com
 Kontakt
 Impressum
 Home
Summerhill
Aktuelles
Homepage UK
Austausch/Forum
Besucherinfos
Bilder
Biografien
A.S. Neill
Lilian Neustätter,
Ena Wood/Neill
Zoë Neill/Readhead
Anfänge
DE: Hellerau
AT: Sonntagberg
EN: Leiston
EN: Festiniog
Pädagogik
Medien/Literatur
von und über Summerhill und Schulkritik
Summerhill und die Situation 100 Jahre später


Medien
Literatur
Literatur

Literatur & Medien

Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: Titelblatt/Inhaltsverzeichnis
Fortsetzung: 2a Grundgedanken der psychoanalytischen Pädagogik




1. Einleitung

1.1. Einleitung

Nach jahrelangen, erziehungswissenschaftlichen Diskussionen zeichnet sich heute wieder ein klarer Trend in der Bevölkerung ab: Zurück zur Strenge und Härte. Dies belegen auch Umfragen des "Spiegels" (vom Dezember 1997), in dem "vier von fünf Befragten glauben, dass Kinder in den letzten zehn Jahren zu liberal erzogen worden sind" und "81% der Deutschen wieder der alten Volksweisheit anhängen, ein Klaps könne nicht schaden" (Zangerle 1998: 42f).

Dieses erschreckende Ergebnis spiegelt die Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und die Überforderung vieler moderner Eltern wieder. Auch in Hinblick auf den Anteil von bis zu 30% lern- und verhaltensschwieriger Kinder (Zangerle 2000 : 64) ist es verständlich, dass junge Eltern pädagogisch verunsichert sind und sich auch den gesellschaftlichen Anforderungen der Erziehung nicht mehr gewachsen fühlen.

Meiner Ansicht nach sind, sowohl die Trendwende zur "Schwarzen Pädagogik" und die damit verbundenen Ohnmachtsgefühle (die dann oftmals in eine Laisser-faire Haltung münden), als auch der gesellschaftliche Leistungsdruck auf die Kinder und deren Eltern, sehr alarmierend. Jedoch müssen auch, verbunden mit dieser Entwicklung, die gegenwärtigen Sozialisationsprozesse vieler Familien berücksichtigt werden.

Die moderne Lifestyle-Familie ist oftmals (auch aus wirtschaftlichen Gründen) nicht mehr in der Lage, ihren Kindern die so wichtige Nestwärme und Sicherheit zu geben, welche diese eigentlich benötigen. Oftmals reduziert sich der Aufenthalt in der Familie auf eine Art "Boxenstop" (kurzer Stop und schnelle Befriedigung von Primärbedürfnissen). Kinder leiden bereits früh unter permanentem Zeitdruck, psychischem Wärmeverlust, vorschulischem Leistungsdruck und Überstimulation — kurz unter dem gesellschaftlichen Burnoutsyndrom.

Es ist daher kein Wunder, dass der Ruf nach außerfamiliären pädagogischen Einrichtungen enorm steigt (quasi als Reparaturwerkstatt für Erziehungsdefizite). "In Amerika, sagt die Branche "Kinderbetreuung" bis zum Jahre 2005 eine Wachstumsrate von 43% voraus" (Zangerle 2000 : 68). In diese Richtung wird sich demnach auch die Sozialarbeit und Sozialpädagogik in den kommenden Jahren zusehends orientieren müssen.

Mein Sinnen ist es jedoch nicht, in dieser Diplomarbeit die heutigen familiären Erziehungsprozesse anzuprangern und dadurch den Druck, die Schuldgefühle und Unsicherheiten vieler Eltern noch zu vergrößern. Auch ist es nicht mein Anliegen, andere erziehungswissenschaftliche Ansätze runterzuputzen bzw. durch die Kritik anderer Konzepte die Kritik an dem Prinzip der Selbstregulation zu relativieren. Ich möchte es gerne dem Leser überlassen, sich ein Urteil über dieses Erziehungskonzept und Reichs Arbeiten zu bilden. Jedoch sollte man dabei auch kritisch hinterfragen, nach welcher Intention und nach welchen Kriterien die einzelnen Ansätze arbeiten und aus welchen Gründen manche eine therapeutische bzw. erziehungswissenschaftliche Anerkennung zugestanden bekommen, während man andere Ansätze gerne unter den Tisch fallen lässt.

1.2. Motivation für die Auswahl des Themas

Das Hauptmotiv meiner Arbeit ist das Darstellen des repressionsarmen Erziehungsmodells der Selbstregulation nach Wilhelm Reich. Diese Arbeit sollte nicht als einen Versuch, ein Patentrezept zu bieten, missverstanden werden, sondern ist als pädagogische Orientierungshilfe, Anregung und Schaffung eines Gegenpols zum aktuellen Trend gedacht.

Meine persönliche Motivation zu diesem Thema resultiert u.a. aus meinen Erfahrungen in der Orgontherapie nach Reich. Diese Eigentherapie sensibilisierte mich auch für das Gesamtwerk Reichs, und im Hinblick auf die Geburt meiner beiden Kinder, auf meinen Beruf als Erzieherin (ich bin seit zehn Jahren in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig) und mein Studium der Sozialpädagogik wurde ich natürlich auch auf die erziehungswissenschaftlichen Thesen Reichs aufmerksam.

Im Laufe meiner persönlichen Studien des Gesamtwerks Reichs fesselte mich zusehends die Komplexität seiner Arbeiten und seines Denkens. Reich war zugleich auch ein Mann, der überall aneckte (als marxistischer Psychoanalytiker, als psychoanalytischer Marxist, als laienhafter Naturforscher...), dessen Spottbilder zählebig sind (z.B. "der Sexpapst der Apo", aus dem "Spiegel" Nr. 48/2000). Es bestehen noch immer starke Widerstände gegen eine unvoreingenommene, kritische Rezeption seiner Schriften; Schriften, die ein Gesamtwerk bilden, als dessen "roter Faden" Reich seine Konzeption von der Bedeutung und dem Wesen der Sexualität und der Lebensenergie (Orgonenergie) bezeichnete. Er besaß bereits damals eine systemische Sichtweise, d.h. er sah den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern in seinem sozialen Umfeld, in Familienstrukturen, sowie in gesellschaftlichen und politischen Prozessen eingebettet. Diese dynamische und systemische Sichtweise möchte ich auch in dieser Arbeit zum Ausdruck bringen, verbunden mit einem jeweilig aktuellen Bezug zum Thema.

Auch die praktische Umsetzung des Prinzips der Selbstregulation ist ein sehr dialogorientierter, individueller und dynamischer Prozess. Der Praxisteil ist als beispielhafte Veranschaulichung gedacht, nicht als starrer erziehungspädagogischer Leitfaden, der mit dem erhobenen Zeigefinger Erziehungsfehler anprangern wollte.

Es ist auch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass ich Reichs Thesen zunächst objektiv darstellen möchte (wobei ich meine Sympathie dazu wohl kaum verbergen kann); eine Beurteilung oder Bewertung seiner naturwissenschaftlichen und biophysikalischen Arbeiten steht mir aus Kompetenzgründen nicht zu (ich beschränke mich sowieso primär auf pädagogisch relevante Thesen und deren soziologischen und politischen Kontext).

Was mich zudem zu dieser Arbeit anspornte, war die Tatsache, dass meines Erachtens speziell zu diesem Thema noch keine Literatur dieses Umfangs existiert.

Zudem möchte ich betonen, dass ich persönlich sehr positive Erfahrungen mit diesem Erziehungsstil bei meinen eigenen Kindern gemacht habe und dass deren Lebendigkeit, verbunden mit vielen anderen positiven Rückmeldungen, mich sehr befriedigte und mich motivierte, diese Erfahrungen auch anderen Eltern/Erziehern mitzuteilen.

Es wäre wünschenswert, wenn eine aktuelle Diskussion bzw. ein kritischer Prozess der Neubewertung des Gesamtwerkes Reichs und explizit des Erziehungsmodells der Selbstregulation in die Gänge käme.

1.3. Zum Aufbau der Arbeit

Der Hauptteil der Diplomarbeit gliedert sich grob in drei Bereiche:

  1. Die Wurzeln der Selbstregulation - die psychoanalytische Pädagogik

  2. Daraus spezialisierend, die theoretische Darstellung des Prinzips der Selbstregulation, basierend auf den psychoanalytischen und biophysikalischen Grundlagen Reichs und deren Kontext

  3. Die Umsetzung des Selbstregulationsmodelles in die Praxis

Beginnen werde ich mit einer kurzen Definition des Begriffs der Psychoanalyse. Anschließend folgt eine kurze Darstellung über die Anfänge der Psychoanalyse, verbunden mit dem daraus resultierenden Versuch, diese Erkenntnisse auch erziehungswissenschaftlich zu nutzen. Da Reich sowohl an dem Prozess zur Entwicklung der Psychoanalyse, als auch an der erziehungspraktischen Umsetzung maßgeblich beteiligt war, kann man die psychoanalytische Pädagogik als die Wurzeln der Selbstregulation bezeichnen.

Die Grundgedanken der psychoanalytischen Pädagogik beziehen sich primär auf die Arbeiten Sigmund Freuds. Auch Reich wurde zu seinen Anfängen von den (frühen) Thesen Freuds stark beeindruckt und beeinflusst. Dieses Basiswissen werde ich deshalb unter Punkt 2.3.1. bis 2.3.3. zusammenfassen. Des weiteren werde ich versuchen, die etwas unklare Haltung zu umreißen, welche Freud zu erziehungswissenschaftlichen Themen einnahm. Im Anschluss daran komme ich konkret zu den Zielvorstellungen und deren Umsetzung in der psychoanalytischen Pädagogik, einschließlich der Rolle des Erziehenden.

Wie bereits erwähnt, trug der anfänglich orthodoxe Psychoanalytiker Reich erheblich zur Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik bei. Da jedoch früh Differenzen zwischen Freud und Reich bezüglich Meinungen und Forschungsergebnisse zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse auftraten, distanzierte sich Reich von Freud und seinen Gefolgschaften (bzw. er wurde distanziert). Er entwickelte in den folgenden Jahren eine unkonventionellere Herangehensweise an die Psychoanalyse. Diese Sichtweise spiegelt sich natürlich auch in seinem Erziehungsmodell wieder. Mit diesem Hintergrundwissen, ist es dann weniger verwunderlich, dass sich die praktische Umsetzung der psychoanalytischen Pädagogik in vielen Punkten mit der Praxis des Prinzips der Selbstregulation ähneln mag (Reich war z.B. fasziniert von der praktischen Umsetzung von Vera Schmidts Modellversuch, als er diese in Moskau besuchte), das theoretische Fundament beider Erziehungsmodelle, deren Zielsetzung, sowie deren Sicht- und Herangehensweisen differieren jedoch erheblich.

Um diese Differenzen besser aufzeigen und herausarbeiten zu können, wählte ich die darstellerische Form der Schlüsselbegriffe. In dieser Form lassen sich sehr übersichtlich sowohl die unterschiedlichen theoretischen Ansätze, als auch deren Umsetzung am Beispiel konkreter pädagogischer Leitziele aufzeigen und mit den Thesen der Selbstregulation in Beziehung setzen. In der Darstellung der Schlüsselbegriffe der psychoanalytischen Pädagogik, versuche ich sowohl die praktische Umsetzung auf die jeweiligen theoretischen Grundlagen zurückzuführen, als auch unterschiedliche Strömungen innerhalb dieser Bewegung aufzuzeigen. Ausgesucht wurden die Schlüsselbegriffe nach Kriterien, die maßgeblich an der Beteiligung zur Ausbildung einer kindlichen Persönlichkeitsstruktur beteiligt sind.

Jede Theorie ist so gut oder schlecht, wie es ihre praktische Umsetzung zulässt. Für diese Verdeutlichung habe ich exemplarisch das Kinderheim von Vera Schmidt ausgewählt. Sie wurde sowohl durch ihre Öffentlichkeitsarbeit damals, als auch durch ihre Raubdrucke später in der 68er Bewegung sehr publik und hat dadurch der psychoanalytischen Pädagogik Leben eingehaucht. Zuvor werde ich kurz die ersten konkreten und wichtigen Versuche der praktischen Umsetzung dieses Erziehungskonzeptes von Siegfried Bernfeld, August Aichhorn, Bruno Bettelheim und Vera Schmidt erwähnen.

Wie nach fast allen meinen Darstellungen in dieser Diplomarbeit, werde ich mich abschließend mit diesem Erziehungsmodell der psychoanalytischen Pädagogik kritisch auseinandersetzen.

Die antiautoritäre Erziehungsbewegung bemächtigte sich oftmals der Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der psychoanalytischen Pädagogik. Sie baute auf diesen frühen Theorien ihr eigenes, jedoch unterschiedlich motiviertes, Erziehungskonstrukt auf. Aus diesen Gründen verschwimmen auch heute noch Begrifflichkeiten, die jedoch von ihrem Ansatz her stark differieren. Sowohl die psychoanalytische Pädagogik, als auch Reichs Prinzip der Selbstregulation wurden in dieser Zeit vielfach fehlinterpretiert und mit anderen repressionsarmen Erziehungsansätzen vermischt. Es ist mir ein Bedürfnis, mich damit auseinander zu setzen, um so Missverständnisse, Verwirrungen und auch einige Vorurteile auszuräumen und jeden der drei Ansätze wieder auf seine ursprüngliche Intention zurückzuführen.

In Punkt 4 werde ich mich nochmals explizit mit der Divergenz zwischen Freud und Reich beschäftigen. Da Freud das Basiswissen sowohl für die psychoanalytische Pädagogik, als auch für die Entwicklungen der Arbeiten Reichs lieferte, halte ich es aus weiteren Verständnisgründen für unumgänglich diese differierenden Meinungen nochmals zu veranschaulichen und dadurch auch voneinander abzugrenzen, um anschließend das Erziehungsmodell der Selbstregulation vorstellen zu können.

Reichs Arbeiten sind sehr komplex, aufeinander aufbauend und in sich schlüssig. Um nun seinen erziehungstheoretischen Ansatz darstellen zu können, ist es wichtig, sich vorher mit seinem Menschenbild, sowie seinen biophysikalischen Erkenntnissen über den menschlichen Organismus auseinander zu setzen. Anschließend werde ich, darauf aufbauend, die pädagogischen Grundzüge des Prinzips der Selbstregulation konkretisieren.

Eng verbunden mit den Zielvorstellungen dieses pädagogischen Ansatzes sind die Gesundheits- und Krankheitskriterien von Wilhelm Reich sowie seine sexualökonomischen Thesen allgemein.

Die Grundvoraussetzung, um ein Erziehungsmodell überhaupt zu konzipieren, war für Reich das Wissen um die menschliche Struktur, verbunden mit den sozialen und politischen Interaktionen und die daraus resultierenden Gesellschaftssystemen (einschließlich deren Normen-, Werte- und Moralvorstellungen). Diese systemischen Zusammenhänge der Auswirkungen von Erziehung auf gesellschaftliche Strukturen werde ich, mit jeweils einem aktuellen Beispiel versehen, exemplarisch unter den Punkten 6.2.1. — 6.2.4. in Bezug bringen.

Gleichzeitig möchte ich in diesem Punkt auch den persönlichen Weg Reichs von der Psychoanalyse zur Politik nachvollziehbar aufzeigen, seine soziologischen Erkenntnisse darstellen und deren politische Umsetzung dokumentieren.

Die Orgontherapie möchte ich unter Punkt 6.3. deshalb erwähnen, da sie in Reichs Gesamtwerk eine zentrale Rolle spielt und die praktische Umsetzung der psychoanalytischen und naturwissenschaftlichen Theorien darstellt.

Zum Abschluss meiner Auswahl an psychologisch-, soziologisch- und pädagogisch relevanten Forschungsarbeiten Wilhelm Reichs, möchte ich zu deren objektiver Darstellung auf Missverständnisse und Fehlinterpretationen aufmerksam machen, und auch die zahlreiche Kritik an Reichs Thesen möchte ich nicht unerwähnt lassen.

Der Punkt 8, die biographische Kurzdarstellung des Lebens und Werks Reichs, dient der übersichtlichen, knappen Dokumentation der einzelnen persönlichen Lebensabschnitte Reichs, seines Gesamtwerkes, sowie seines Todes.

Im dritten und wichtigsten Teil meiner Diplomarbeit stelle ich das Prinzip der Selbstregulation in seiner praktischen Umsetzung vor. Um den Rahmen der Darstellung abzustecken und Mißverständnisse vorzubeugen, erachte ich es als didaktisch sinnvoll einleitend mit einem Vorwort zum Praxisteil zu beginnen.

Dieser umfangreichste Teil der Arbeit gliedert sich grob in zwei Teile: die familiäre Erziehung und die institutionelle Erziehung. Der letztere Themenpunkt untergliedert sich nochmals in die pädagogische Umsetzung im Kindergarten und in der Schule.

Auch die Schwierigkeiten in der praxisnahen Arbeit mit diesem Erziehungsmodell sollen nicht unerwähnt bleiben, denn sie gehören ebenso zum pädagogischen Alltag hinzu.

Die konsequente praktische Arbeit und Anwendung dieser Theorie findet leider nur in äußerst wenigen Institutionen statt. Dennoch erachte ich das Prinzip der Selbstregulation als richtungsweisend und aktuell. Diese subjektive Sichtweise werde ich abschließend in dem Punkt 11 erläutern und mich mit der Bedeutung und der Perspektiven für die modernen Sozialarbeit auseinandersetzen.



Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: Titelblatt/Inhaltsverzeichnis
Fortsetzung: 2a Grundgedanken der psychoanalytischen Pädagogik