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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (Einführung: Warum gerade Neill)
Fortsetzung (2. Leben und Werk A.S. Neills - England)


1. Reformbewegungen der Jahrhundertwende

1.1 Reformpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik, Strafreform

Reformpädagogik und reformpädagogische Kinderrepublikbewegung sind keine trennscharf abgrenzbaren separaten Erscheinungen, sondern Teil der eng und vielfältig miteinander verwobenen, umfassenden politischen, sozialen und kulturellen Lebensreform- und Gesellschaftsreformbewegungen der Jahrhundertwende.

Beispielhaft für diese Kritik- und Reformbewegungen während des Übergangs zur modernen, großindustriell produzierenden, vergroßstädterten Gesellschaft sind zu nennen: Jugendbewegung, Siedlungsreformbewegung, Kunstreformbewegung, Ernährungs- und Kleidungsreformbewegung, Sexualreform- und Sittenreformbewegung, Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, das Streben nach Demokratie, Sozialismus, Pazifismus und Internationalismus.

Auch die Reformpädagogik selbst war wiederum ein Gemisch miteinander verschlungener Einzelstränge: Kunsterziehungsbewegung, Landerziehungsheimbewegung, Volkshochschulbewegung, Erziehung vom Kinde aus, Einheitsschulbewegung, Arbeitsschulbewegung, Moralerziehungsbewegung und sozialpädagogische Bewegung (vgl. FLITNER u. KUDERITZKI 1961, 1962 und SCHEIBE 1980).

Der allgemeine gesellschaftliche Trend vom gehorsamen Untertanen zum freien, selbstständigen Bürger wirkte auch innerhalb der Pädagogik. Das verfeinerte psychologische Verständnis der Eigenarten des Kindesalters allgemein (Entwicklungsphasen) sowie des einzelnen Kindes (Betrachtung innerer Motive statt äußerer Verhaltens-Symptome) fördert ein Denken vom Kinde aus. Die Neue Erziehung (Reformpädagogik) profitiert hier stark von der Neuen Psychologie (Psychoanalyse). Die Strafreformbewegung spielte ebenfalls eine Rolle, sie kritisierte die Zwangsanstalten mit betont kasernenartiger Zwangsdisziplin, die nur innerhalb der Anstalt wirkt (denn nur dort gibt es exakte Kontrolle und sichere Sanktion), den Entlassenen aber nicht gebessert hat. Die Strafreformbewegung setzte sich ein für erzieherisch (d.h. dauerhaft) wirksame Einrichtungen möglichst ohne Zwangsanstaltscharakter, insbesondere für die Schaffung separater, erzieherisch wirksamer Jugendgerichte und Jugendgefängnisse.

Erziehung zur innengeleiteten, selbstdisziplinierten und selbstverantwortlichen Person zielt dementsprechend betont auf gefestigte innere Haltungen statt auf durch unmittelbare Strafangst erzwungenen äußeren Verhaltensdrill. Durch (gelenkte) Erfahrung und Motivierung sollten innere Einsicht in Sinn und Zweck der Regeln geweckt werden. Dem müssen solche äußeren Regeln, die noch nicht verstanden werden können, zumindest vorübergehend geopfert werden.

Einige wesentliche reformpädagogische Forderungen mögen einen groben Überblick geben:

  • moderne Lehrinhalte statt antiker Bildung: Natur- und Sozialwissenschaften und neue Sprachen
  • selbsttätiges, praktisches Erfahrungslernen, Selbstständigkeit, Eigenaktivität, Tatschule und Arbeitsschule statt Buchschule,
  • soziales Lernen: Gruppenarbeit, gemeinschaftliches Schulleben, Koedukation, Vereinigung aller Klassen und Schichten in derselben Schule (Klassenlose Gesellschaft/Volksgemeinschaft),
  • Abbau formaler Autorität: enge persönliche Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, Erziehern und Erzogenen. Gleicberechtigte, kameradschaftliche Formen (Vornamen, duzen) ersetzen die alten, hierarchischen, steif-distanzierten, formellen Umgangsformen.
  • Förderung des freien Ausdrucks der inneren Gestaltungskräfte des Kindes. Betont wird nicht das Einfüllen von Wissensstoff ins Kind, sondern der freie Ausdruck innerer Gefühle, die kreative künstlerische und handwerkliche Tätigkeit wie Musik, Malerei, Plastik, Theater, Tanz, Bewegung.

Die Selbstregierung in selbstregierten Kinder- und Jugend-Republiken ist eine radikalen Verwirklichung dieser Ziele: Selbstständigkeit, Erfahrungslernen, selbstbestimmte Regelungdes Gemeinschaftslebens.


1.2 Die reformpädagogische Kinderrepublikbewegung und ihre Vorläufer

Die frühneuzeitlichen Schulrepubliken erstrebten keinerlei wirkliche Selbstregierung. Die im Zuge von Reformen der Fürsten- und Landesschulen (in England: Public Schools) an diesen Eliteschulen teilweise entstandenen formellen Systeme der Schülerbeteiligung sind eher der Ernennung zu militärischen Unterführern vergleichbar. Die Kinderrepubliken zur Zeit der Französischen Revolution und der Folgezeit versuchten eine demokratische und republikanische Erziehung, waren dabei aber stark moralistisch.

Die von Hermann Lietz gegründeten (reformpädagogischen) Deutschen Landerziehungsheime der Jahrhundertwende sind ein mehrfach reformierter entfernter Ausläufer der Public Schools. Der radikal linke Flügel, die freien Schulgemeinden von Gustav Wyneken und Paul Geheeb, können bereits als Teil der reformpädagogischen Kinderrepublikbewegung betrachtet werden, in einer Art Ableger der GeheebÕschen Odenwaldschule gründete Neill seine eigene Schule.

Erwähnenswert ist noch, dass vier der bekanntesten fünf reformpädagogischen Kinderrepubliken nicht wirklich selbstregiert sind bzw. waren: Father Flanagans Boys Town bei Omaha/Nebraska, die spanische Kinderrepublik Bemposta sowie die Gorki-Kolonie und Dzierzynski-Kommune in der Ukraine der Zwischenkriegszeit, die beide von A.S. Makarenko geleitet wurden. Daneben gab es die Kinderrepubliken der sozialdemokratischen Falken (großangelegte Ferienzeltlager für Kinder) zwischen 1926/1927 und 1933 und eine Vielzahl unterschiedlicher, relativ unbekannter Kriegs- und Nachkriegs-Republiken, u.a. in Rom und am Starnberger See.

Im Folgenden soll äußerst knapp der für Neill wesentliche Hauptstrang der reformpädagogischen Kinderrepublikbewegung zusammengefaßt werden. Die britische Kinderrepublikbewegung ist zugleich die am weitesten entwickelte und am entschiedensten demokratisch und freiheitlich ausgerichtete.

1.2.1 Die amerikanischen Junior Republics

Die 1895 unter Leitung von William Reuben George gegründete George Junior Republic war die erste moderne Kinderrepublik überhaupt und bewirkte eine bis zum Ersten Weltkrieg ungemein populäre, heute vergessene Junior Republic Bewegung nicht nur in Amerika, die als großer Anreger wirkte. Sie trat mit einem enormen Freiheitspathos an, sah Selbstregierung aber vorwiegend politisch. Ihr allzu naives theoretisches pädagogisches Handlungskonzept Ð pure Nichteinmischung Ð musste scheitern: Nach dem ersten Weltkrieg versank die Bewegung in Bedeutungslosigkeit. Einige der Republiken existieren in stark veränderter Form bis heute.

Der kleine New Yorker Geschäftsmann W.R. George (* 1866) betätigte sich auch als methodistischer Erweckungsprediger und ehrenamtlicher Sozialarbeiter in kriminellen Jugendbanden, die er in (zeittypische!) militärähnliche Jugendkompanien umformte. Bei den Ferienaufenthalten seiner Bandenjugendlichen in einer Scheune seines Vetters verteilte er die üblichen Wohlfahrtsspenden nicht mehr, sondern gab sie nur gegen Arbeitsleistung aus: nothing without labor. Daraufhin wurde die mühsam erworbene Kleidung zwar sorgsam gepflegt, aber auch gestohlen. Auch die härtesten Strafen (George war Boxer) blieben gegen Diebstähle und extremes Rowdytum erfolglos. Tatsächlich konnte er aus den jugendlichen Eigentümern ein Gericht bilden, das zumindest Diebstähle ahndete und Täter zu bewachter schwerer Zwangsarbeit (während des Ferienaufenthaltes) verurteilte.

George war ein amerikanisch-patriotischer Konservativer, der die bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse in Amerika und die Gleichsetzung von Besitzstand, Moral und Bürgerengagement einer Person für natürlich, gerecht und ideal hielt: Jede Handlung erfährt unmittelbar ihre Belohnung und Bestrafung in Geld, sodass das ökonomische Eigeninteresse der individuellen Eigentümer sie letztlich zum Guten führt. Der Wohlhabende ist daher ehrlich, anständig und ein guter Bürger, der Arme tendiert zur Unmoral. Die Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt ist das einzige Heilmittel gegen jugendliche Delinquenz: arbeiten oder hungern! …ffentliche Unterstützung demoralisiert.

In Analogie zur Westernstadt im gerade erst untergehenden Wilden Westen, in der die Gemeinschaft der Eigentümer aus gemeinsamem Eigeninteresse Recht setzt und durchsetzt, entwarf George die Idee eines typisch amerikanischen Dorfes für Jugendliche, ein Dorf wie alle anderen: Die Junior Republic.

George baute die erstmals im Sommer 1895 verwirklichte Junior Republic zur perfekten Miniatur-Kopie der USA für Jugendliche aus, mit eigenem Wirtschaftssystem und eigenem demokratischen politischen System, in dem alles Recht des Staates New York galt (bis hin zum komplizierten Gerichtsprozessrecht) und durch eigenes Stadtrecht nur ergänzt wurde. Auch die Republikgeschichte und der Parteien- Wahlkampf wurde den USA nachgebildet.

Die Republik verfügte über eigene Währung, Regierung, Beamte, Bank, Infanteriebataillon, Außenzoll und Schmuggel, drastisch gekürzte öffentliche Sozialunterstützung und ein 1902 von Rockefeller gestiftetes massives Gerichts- und Gefängnishaus, dessen Stahlkäfig- Gefängniszellen jeden achten Bewohner beherbergen konnten. Es gab müßige Millionäre, gerissene Spekulanten, korrupte Senatoren und eine verarmte Unterklasse.

Arbeit war die Grundlage der Republik: Jungen und Mädchen arbeiteten gegen Geld Ð abgestuft nach Qualifikation und Leistung Ð in den Werkstätten der Republik. Für Unterkunft im Hotel Waldorf (anfangs ein Heuboden) und Verpflegung im Restaurant, beides in unterschiedlichen Qualitätsstufen, mussten sie zahlen. Auch der Schulunterricht basierte auf barer Zahlung (learning by earning): Das Verlagshaus (=Schule) vergab an Autoren (=Schüler) Aufträge für Bücher (=schriftliche Arbeiten), die je nach Qualität bezahlt und ordentlich gebunden in die Bücherei eingestellt wurden.

Die Junior Republic war so als eine Art automatisch wirkendes Verstärkersystem konstruiert, das richtige Handlungen belohnen und falsche bestrafen sollte, wobei Geld eine zentrale Rolle spielte.

Das individuelle Eigeninteresse der Eigentümer zerbrach die Delinquenten- Subkulturen: wer wie gewohnt vor Kameraden mit seinen Vergehen prahlt, wird Ð zu seiner Verblüffung Ð von denen nicht bestaunt, sondern angezeigt und verurteilt.

Die politische Republik entstand über Arbeit, Eigentum, Eigentumsschutzgesetze, Diebstahl, Gerichtsjury und Gefängnis-Zwangsarbeit.

Nach einem Skandal übernahm der Fabrikant Thomas Mott Osborne die Führung, ordnete die Republik und verwandelte sie in ein privates Reformatory (Jugendgefängnis/Erziehungsheim) für straffällige Jugendliche. Als Leiter des New Yorker Staatszuchthauses Sing Sing führte er dort später eine Gefangenenmitverwaltung ein.


1.2.2 Die Ford Republic

Neben den in der National Association of Junior Republics vereinigten sieben George Junior Republics gab es weitere ähnliche Einrichtungen, darunter die von Homer Lane (*1875) geleitete Ford Republic.

Lane war ein ausgebildeter reformpädagogischer Werklehrer, war entschieden progressiv und gesellschaftskritisch eingestellt und handelte nicht als Geschäftsmann oder Politiker, sondern von vornherein als Pädagoge. Er hatte ebenfalls mit Bandenarbeit begonnen und die Banden in selbstregierte Boys-Clubs umgeformt. Anders als George stellte er nicht seine schlagkräftige Überlegenheit heraus, sondern vermied sorgfältig den Anschein von Überlegenheit und zeigte sich demonstrativ als guter und fairer Verlierer. Die Bande stellte seine nichtautoritäre Haltung immer extremer auf die Probe, er ermutigte alle Experimente, alles Verhalten, damit man aus den Folgen lernt, beteiligte sich an der gemeinsamen Zerstörung ihres Bandentreffs Ð und am Wiederaufbau.<

1907-1912 war er Leiter eines Heimes bei Detroit, das er zur Ford Republic umformte (Namensgleichheit mit dem dortigen Autokonzern ist Zufall).

Bei sehr ähnlichen Formen arbeitete er doch nach anderen Grundsätzen als die Junior Republics. Auch hier wurde das meiste über Geld in eigener Währung geregelt. Lane betonte aber nicht den rein individuellen Nutzen, sondern soziale Motive. Er lehnte ein Gefängnis strikt ab Ð und deshalb den Beitritt zur Vereinigung der Junior Republics Ð und übte sein Begnadigungsrecht häufig aus. Strafen waren meist finanziell, manchmal auch öffentliche Verspottung. Der Mittellose musste nicht hungern (oder faktisch: als Landstreicher ins Gefängnis) wie bei George, sondern fiel der Staatskasse zur Last, lebte also von den Steuern seiner Kameraden und konnte die Beiträge zu den diversen Freizeitgesellschaften nicht aufbringen. Schuldner mussten unter Aufsicht des Sheriffs bei Staatsarbeiten ihre Schulden abtragen.

1.2.3 Das Little Commonwealth in England (1913-1918) und die britische Kinderrepublikbewegung

Als kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Junior-Republic-Bewegung auf ihrem Höhepunkt war, planten englische Erzieher und Strafreformer mit Unterstützung eines Großteils der englischen high society (Lord Lytton, der Leiter des Trägervereins, wurde britischer Vizekönig für Indien) die Gründung einer George Junior Republic in Südengland: das Little Commonwealth. Die Leitung übernahm Homer Lane, der ehemalige Leiter der Ford Republic. (Commonwealth ist die englische Übersetzung des lateinischen Wortes Republik, vergleichbar dem deutschen Freistaat oder Volksstaat.) Dieses Modell- Reformatory (Fürsorgeheim für straffällige Jugendliche/ Jugendgefängnis) war eine gar nicht gefängnisartige, sehr freie Einrichtung für straffällige jugendliche Jungen und (!) Mädchen.

Lane hatte im Jahr vor seiner Übersiedlung nach England einige Grundüberlegungen der Psychoanalyse Freuds übernommen und sie zu einer eigenen psychoanalytischen Pädagogik und Heimerziehungspraxis ausgearbeitet, die radikal das Ausleben von Triebwünschen betont, keinesfalls das Zurückdrängen. Es ging darum, sozial verträglichere Formen für das Ausagieren von Triebwünschen zu finden. Bedürfnisbefriedigung, Glück und Selbstentfaltung werden zentral.

Lane betonte nun das soziale, solidarische Beziehungsmodell intakter Familien mit affektiven zwischenmenschlichen Beziehungen, die enge Gemeinschaft von Jugendlichen und erwachsenen Helfern, die gleichberechtigte Teilnahme der Helfer am Ð auch politischen Ð Leben der Gemeinschaft. Obwohl die Formen staatsartig blieben, spielte das exakte Kopieren des Staates keine Rolle mehr.

Liebe wurde ein Zentralbegriff in Lanes Pädagogik und Philosophie. Er demontierte gezielt die Zwangswirkungen und die individuellen Kosten-Nutzen-Kalküle: Strafen verloren ihren Abschreckungscharakter und konnten im Einzelfall Belohnungen ähneln. Stattdessen setzte Lane auf Solidarität, Gemeinschaftsgefühl und Loyalität zur Gruppe.

Er wollte die Ereignisse auch nie passiv laufen lassen, sondern pädagogisch eingreifen. Er sorgte für lohnende positive Gemeinschaftsaufgaben und formulierte Probleme, deren Lösung dann jeweils von den Jugendlichen zu entscheiden war. Er förderte den Diskussionsprozess und die Bildung einer öffentlichen Meinung als Grundlage einer sich entwickelnden Selbstregierung. Er versuchte ihnen auch zu vermitteln, dass die von ihnen erlassenen überstrengen Schulpflicht- und Rauchverbots-Gesetze nicht ihren wirklichen Wünschen entsprachen.

1918 besichtigte A.S. Neill das Little Commonwealth, war begeistert und überredete Lane, ihn nach Kriegsende als Lehrer anzustellen. Das Little Commonwealth wurde jedoch kurz vor Kriegsende geschlossen, Lane zog als freier Dozent und Psychotherapeut nach London, wo Neill sein enger Freund und Schüler wurde, sich bei Lane auch einer Analyse unterzog und zwei Jahre lang in engster Identifikation als eine Art Kopie Homer Lanes lebte.


1.2.4 Kollegen und Nachfolger Neills

Die britische Kinderrepublik-Bewegung baute auf Lane auf und bezog sich immer wieder auf ihn und seinen Haupt-Nachfolger Neill. Sie arbeitete die Selbstregierung als freiheitliches pädagogisches Konzept weiter aus. Zur britischen Kinderrepublikbewegung besteht allerdings noch ein sehr großer Forschungsbedarf: die verschiedenen Einrichtungen, etwa die Schulheim-Gründungen ehemaliger Summerhill-Lehrer, müssten beschrieben und verglichen werden, um schließlich einen vergleichenden Gesamtüberblick über die besonders weit und freiheitlich entwickelte britische Kinderrepublik-Bewegung gewinnen zu können, die gleichzeitig auch der Überprüfung meiner hier gegebenen Beschreibungen und Interpretationen dienen könnte. Dies wären zweifellos interessante Themen für Diplomund Doktorarbeiten.

Nur relativ wenige Schulen wurden unmittelbar nach dem Modell von Summerhill bzw. in der Tradition Homer Lanes gegründet[1], und zwar meist als therapeutisch orientierte private Einrichtungen. Ihre vergleichende Beschreibung bleibt eine lohnende und notwendige Aufgabe. Ebenso inspirierte Neill die ebenfalls privaten Alternativschulen. Wer wie Robert F. Mackenzie oder Michael Duane versuchte, Neills Vorstellungen konsequent (und erfolgreich!) in staatlichen Regelschulen umzusetzen, machte häufig schlechte Erfahrungen mit den Behörden[2].

1.2.5 Lückenhafter Forschungsstand

Obwohl Summerhill jahrelang wohl die weltweit berühmteste Schule war, blieb der Informationsstand dazu auch in der Wissenschaft bemerkenswert oberflächlich. Es existierten bislang (vor meiner) nur zwei deutschsprachige Dissertationen über Neill: KARG (1983) fällt dabei durch ein enormes Maß an Unkenntnis und groben Fehlern sowie durch blühende Phantasie auf: So hält er den erklärten Atheisten und entschiedenen Feind aller Schöngeister, Neill, absurderweise für einen christlichen Erzieher und (aufgrund eines Übersetzungsfehlers, einer Verwechslung und wilder Spekulation) für einen Anhänger der religiösen und schöngeistigen Anthroposophie mit ihrer Erkenntnis höherer Welten. Er verlegt das Schloß Laxenburg auf den Gipfel des Sonntagberges und deutet den Namen Summerhill School als Programm aus, obwohl es nur der Name des Hügels war, auf dem die Schule lag.

Ute SCHMIDT-HERRMANN arbeitete (1987 in der Schweiz) das psychologische Konzept Neills auf. Neuerdings wird das Interesse an Neill wieder stärker: Meine Dissertation (1995) und die derzeit in Tübingen entstehende erziehungsgeschichtliche Dissertation von Axel D. KÜHN sowie seine Rowohlt-Monographie über Neill sind die ersten gründlichen erziehungsgeschichtlichen Arbeiten zu Neill und Summerhill in deutscher Sprache und beziehen endlich die Erkenntnisse der englischen Forschung ein. Meine Arbeit korrigiert die Gründungsgeschichte erheblich und arbeitet wohl erstmals die tatsächliche Erziehungspraxis mit Hilfe der Selbstregierung auf (siehe Kapitel 5).

Brauchbare Biographien (NEILLs während einer Psychotherapie in den 30er Jahren entstandene sehr unzuverlässige Autobiographie (1982) zählt nicht dazu!) lagen bislang nur in Englisch vor (HEMMINGS 1972 und vor allem die kaum übertreffbare, sorgfältige, umfangreiche Biographie von CROALL 1984) und wurden hier entsprechend wenig rezipiert. Auch Neills Vorbild Lane, auf das er häufiger verweist, und die an ihn anknüpfenden freiheitlichen britischen Kinderrepubliken waren in Deutschland bislang praktisch unbekannt.

Die Literatur ist allgemein durch allzu viel vorschnell wertende Einordnung und zuwenig genaue Beschreibung und Analyse gekennzeichnet. Sie konzentriert sich außerdem allzu sehr auf Neills Persönlichkeit (Genie...) und übersieht dabei die bedeutende Rolle seiner Ehefrauen und der anderen Erzieher.

Die (häufig wiederholten) groben Falschmeldungen im Begleittext des Taschenbuches Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung zeigen den allgemein miserablen Informationsstand: dort wird behauptet, Neill habe 1921 in England die Internatsschule Summerhill gegründet und sei im selben Jahr auch Mitgründer der Internationalen Schule Dresden-Hellerau gewesen (tatsächlich zog die eigentlich 1922 gegründete Internationale Schule, die eigentlich Neue Schule hieß, 1924 nach England um). Außerdem habe Neill 1912 gemeinsam mit dem Magistertitel M. A. auch den M. Ed. Titel (Master of Education) erworben. (Dieser wurde ihm ehrenhalber erst 1966 von der Universität Newcastle verliehen).



Fußnoten

[1] Die Arbeit von David Wills im Q-Camp in Hawkspur und in Barns-House habe ich in meiner Kinderrepubliken-Untersuchung beschrieben. O.L. Shaws Beschreibung seiner Arbeit in der Red Hill School liegt in deutscher Übersetzung vor. Zu beschreiben oder zu untersuchen blieben z. B. die mit Neills Unterstützung gegründeten Schulen Kingsmuir School (Lucy Francis) und Kilquhanity House School (John und Morag Aitkenhead), die Arbeit von Neills Stiefsohn Walter Neustätter in Sun Lodge, J.H. Simpson in Rendcomb College, Bertrand und Dora Russell in Beacon Hill, von Bill Malcolm in Summerhill, Bryn Conway, Penybryn, Alresford und Childscourt sowie von Anthony Weaver in Alresford. Auch der deutsche Heimreformer Karl Wilker bezog sich auf Lane.

[2] Die von Duane und Mackenzie geführten Schulen Risinghill und Braehead wurden unter Vorwänden geschlossen. Siehe Duane (1973), Ellerby (1965), Foot (1967), Mackenzie (1967, 1970), Miller (1967), Small (1968). Auch E. F. OÕNeill, der von Neill bewunderte bekannteste Vertreter der Lebensgemeinschaftsschule in England, wurde bei seiner Arbeit als Leiter öffentlicher staatlicher Volksschulen erst in Knuzden (bei Farnworth/Lancashire), dann in Prestolee School (in Kearsley/Lancashire) mit immer neuen Untersuchungen erst in den Nervenzusammenbruch getrieben und dann ausgezeichnet. Vgl. auch Fußnote 10.