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(1997): Martin Kamp: Die Pädagogik A.S. Neills
aus PDF-Ausgabe 2007
Zurück (3. Hauptmerkmale Summerhills)
Fortsetzung (5. Radikale Selbstregierung als pädagogische Methode)


4. Neills Psychologie und Politik der Bedürfnisbefriedigung und Freiheit des Kindes

4.1 Ist Neill Pädagoge?

Neill war weder Wissenschaftler noch Theoretiker, er hat keine ausformulierte konsistente Theorie oder Lehre hinterlassen. Bevor im fünften Kapitel näher auf Neills Praxis eingegangen wird, soll hier seine teils implizite, teils (verstreute) explizite theoretische Konzeption betrachtet werden. Zumindest in ihrer Gesamtheit ermöglichen seine unsystematischen Äußerungen eine systematische Darstellung der theoretischen Konzeption (dazu ausführlich SCHMIDT-HERRMANN 1987).

Neill formuliert keineswegs eine Pädagogik, eine (neuartige) Handlungslehre zur Formung und Bildung insbesondere junger Menschen. Er entwickelte keine verbindliche Theorie des Kindes und seiner objektiven Bedürfnisse, keine eigene Methodik, keine Technik oder spezielle Gerätschaften. Er entwickelte kein Freiheitssystem, das die Bedürfnisse und Freiheiten und die Mittel zu ihrer Erzielung objektiv definiert, festgeschrieben und damit bereits notwendigerweise eingeschränkt hätte. Er verließ sich ganz auf die jeweils subjektiven Interessen und Bedürfnisse der ganz unterschiedlichen Einzelnen und konnte (und wollte) keine pädagogischen Forderungen, Erziehungs- oder Lebensziele formulieren, die über so (zumindest verbal) allgemein akzeptierte allgemeine Begriffe wie Glück, Gesundheit, Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie, Selbstständigkeit hinausgehen: banale Selbstverständlichkeiten, die erst auf der Grundlage seiner Anthropologie und Politik und durch die Forderung ihrer tatsächlichen konsequenten Anwendung auch auf Kinder und Jugendliche brisant werden.

Statt eine pädagogische Theorie oder Handlungslehre zu formulieren, übernahm und propagierte Neill eher unsystematisch in vielen Einzelbeispielen ein umfassendes anthropologisches Funktionsmodell vom Menschen (jeden Alters), verbunden mit einem in der Erziehungspraxis relativ unwichtigen, für die Einschätzung Neills aber bedeutenden, (r)evolutionären politischen Gesellschaftsmodell.

Umgangssprachliche Begriffe sind vieldeutig. Oft führt das Aufzeigen der Vieldeutigkeit weiter als die Berufung auf eine richtige Definition (von vielen).

Neill gilt (zu Recht!) als Pädagoge, als Hauptvertreter der antiautoritären Erziehung. Er verstand sich selbst aber (ebenfalls zu Recht!) nicht als Pädagoge, wollte nicht erziehen, weshalb man ihm (zu Unrecht!) untätiges laissez-faire vorwarf. Insofern ist der Titel dieser Kurseinheit durchaus anfechtbar. War seine Tätigkeit und Lehre das Gegenteil von bzw. eine Alternative zur Erziehung/Pädagogik (Antipädagogik) oder ein besonderer (antiautoritärer, nichtrepressiver) Zweig der Erziehung/Pädagogik oder der Humanistischen Psychologie? Die Begriffe Erziehung und Pädagogik sind unscharf: Man könnte die Neill'sche Pädagogik im Gegensatz zur landläufigen Pädagogik mit gutem Grund antipädagogisch nennen und als antipädagogische Pädagogik unter die anderen unbeholfenen paradoxen Begriffe einreihen: unbürokratische Bürokratie, antipsychiatrische Psychiatrie, entschulte Schule. Sie alle formulieren aber ihr eigentliches Anliegen: der jeweiligen Institution den traditionellen Zwangs-, Gewalt- und Autoritätscharakter zu nehmen, allzu unklar. Der Begriff Antipädagogik konstituiert keine wirklich neue Disziplin, sondern eher ein alternatives Teilgebiet der Pädagogik! Ich werde hier keine neue Begriffsdefinition versuchen, sondern weiterhin die alten mehrdeutigen Begriffe Erziehung und Pädagogik (etwas inkonsequent) verwenden.

Später werde ich im fünften Kapitel versuchen, Neills Praxis als eine ganz andere Art von Erziehung zu beschreiben, die man je nach Begriffsverständnis ebenso auch als antipädagogische Ent-Erziehung bezeichnen könnte: eine nicht Maßnahmen-ergreifende, sondern (werthaltige) Struktur-bauende Erziehung, die äußerlich wie pädagogische Untätigkeit wirkt (der laissez-faire-Vorwurf), tatsächlich aber höchst aktiv ist und ein klar beschreibbares Endprodukt hervorbringt: die Summerhill-Persönlichkeit (vgl. Kapitel 3.7).

Neills theoretischer Zentralpunkt ist seine Anthropologie, sein Menschenbild. Auch sein Einfluss auf das Erziehungssystem insgesamt besteht in der Verbreitung seines anthropologischen Funktionsmodells über weite Teile der Gesellschaft (das politische Gesellschaftsmodell war dabei relativ unwichtig). Diese Anthropologie bietet eher eine (handlungsleitende) Haltung als eine direkte Handlungsanweisung.

Wohl deshalb konnte Neill nur wenig direkten Einfluss auf die institutionellen Strukturen des Erziehungswesen ausüben, aber starken Einfluss auf die Vorstellung der einzelnen im Erziehungswesen tätigen Personen. Er wirkte vor allem dort, wo persönliche Beziehung von Erziehern und Kindern die Hauptrolle spielen: in Elternhaus, Kindergarten (Kinderläden!) und Grundschule. Im Sekundarschulbereich blieb die Wirkung gering, die institutionell geregelten Zustände blieben weitgehend bestehen: das eher unkreative Lernen nach landesweit verordneten Stoffplänen, die Orientierung an Leistung, Prüfung, Zensurendruck und späterer sozialer Stellung. Weiterhin werden Kinder eher an Schule und Gesellschaft angepasst statt umgekehrt. Die Schülermitverwaltungssysteme geben Schülern kaum Einfluss auf das Leben in ihrer Schule, allerdings ist im Klassenrahmen zumindest informell die kritische Diskussion möglich und erwünscht. Doch auch in den Sekundarschulen entspannten sich zumindest die Umgangsformen, der Umgang wurde informeller, die Abneigung der Lehrer gegen Körperstrafen wurde - zumindest in Deutschland - allgemein. Wieweit dies Neill oder anderen Ursachen zuzuschreiben ist, soll hier nicht verfolgt werden.

Die Darstellung der theoretischen Vorstellungen Neills soll auch verbreitete entgegengesetzte Behauptungen widerlegen und soll von zwei Seiten aus erfolgen:

  • Anthropologie und Menschenbild: Aus dem Vertrauen auf angeborene Antriebe und auf angeborene Lernbereitschaft folgt unmittelbar die Selbstregulierung des einzelnen Kindes. Neill ging nicht von einer bloßen (pflanzenhaften, erfahrungsunabhängigen) Reifung und Entfaltung bereits fertig mitgegebener, angeborener Anlagen aus, sondern von Wachstum als selbstständigem aktiven Lernen.
  • Gesellschaftskritik und politische Aktivität: Gemäß freudomarxistischer Sichtweise ist freie Erziehung ein wesentliches Mittel zur antiautoritären Kulturrevolution und unabdingbare Voraussetzung einer sozialistischen Gesellschaft. Erst der Verzicht auf Indoktrination macht die Revolution langfristig möglich - und ist darum (paradoxerweise) gerade nicht (!) unpolitisch und schon gar nicht bürgerlich. Neill selbst war in hohem Maße politisch aktiv.

4.2 Anthropologische Funktionsmodelle des Menschen und ihre zugehörigen Handlungskonzepte

Selbstregierungsmethoden wurden in der Pädagogik in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Zielsetzung angewendet. In meiner Untersuchung über Kinderrepubliken unterscheide ich drei prinzipiell unterschiedliche Konzepte, die jeweils einem zugehörigen Menschenbild entsprechen. Um den Grundansatz des (Erziehungs- bzw.) Handlungskonzeptes bei Lane, Neill u.a. deutlicher herauszuarbeiten, soll ihm zunächst das direkt gegensätzliche Erziehungs- und Selbstregierungskonzept von F. W. Foerster gegenübergestellt werden, ausgehend von der anthropologischen Grundfrage: ist der Menschvon- Natur-aus grundsätzlich gut oder schlecht? Der Begriff Mensch-von-Natur-aus meint dabei das von Erziehung und Kultur noch völlig unbeeinflusste Neugeborene, das noch rein biologisches Naturwesen ist, ein noch kulturloses Tier der Gattung Homo Sapiens, welches nur von seinen biologisch mitgegebenen Antrieben gesteuert ist. Konkret sind damit nicht irgendwelche Körperfunktionen (Haarwuchs, Herzschlag, Verdauung etc.) gemeint, sondern die biologisch angeborenen (tierischen) Verhaltens-Antriebe des Menschen, also das Freud'sche Es.

Die Zwischenposition oder dritte Möglichkeit (weder gut noch schlecht bzw. sowohl als auch), die zum Behaviorismus führt, soll hier nicht weiter erläutert werden. Ihr entsprachen die als ein automatisches Verstärkersystem konzipierten amerikanischen Junior- Republics. Deren Praxis war zwar hochinteressant und revolutionär und galt vor dem Ersten Weltkrieg als modernste überhaupt. Das theoretische Handlungskonzept war aber allzu naiv (bloße Nichteinmischung der Erzieher) und ist an dieser Stelle uninteressant.

4.2.1 Triebverneinendes Menschenbild und Handlungskonzept

WENN der Mensch-von-Natur-aus schlecht ist, wenn also die naturgegebene, angeborene biologische Triebausstattung des Menschen schlecht und böse ist, DANN kann nur die radikale Triebunterdrückung die Menschheit retten. Die grundsätzlich bösen Naturtriebe müssen dann mit List und mehr oder weniger gewaltsam durch erlernte gute Gewohnheiten überdeckt werden, diesen Prozeß nennt man Erziehung. Erziehung ist dann Zwangs-Belehrung und Verformung, ist ein Zwangs- und Autoritätsverhältnis. Dem noch naturhaften jungen Menschen darf man dann keine Freiheit lassen, Freiheit kann erst nach erfolgreichem Abschluss des Erziehungsprozesses gewährt werden. Der vollständig erzogene Erwachsene hat seine böse Natur ausgerottet und durch Kultur ersetzt, er ist zum Charakter geworden.

Diese Charaktererziehung ist die Konzeption des katholischen Moralpädagogen Prof. Dr. Friedrich Wilhelm FOERSTER (1907-1953), eindeutig der bedeutendste deutschsprachige Autor zur Selbstregierung und Selbstverwaltung und in der Vorkriegszeit auch international die Autorität auf diesem Gebiet, heute allerdings zu Recht völlig vergessen. Der bedeutendste Praktiker ist A. S. Makarenko, der das Konzept vermutlich von Foerster übernahm.

Obwohl nach Foersters Konzept eine echte Selbstständigkeit während der Kindheit auf keinen Fall gewährt werden darf, empfiehlt er Selbstregierungsmethoden, allerdings als Mittel geschickter Machtausübung und Manipulation von Kinder-Entscheidungen durch den Erzieher. Dies ist vermutlich die am weitesten verbreitete Anwendung. Foerster war übrigens gemeinsam mit Kerschensteiner der Hauptinitiator der deutschen Schülermitverwaltung, mit der er die Demokratie bekämpfen und die monarchische Autorität des Lehrers fördern wollte.

Der überlegene Erzieher passt seine moralischen Forderungen dabei soweit dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder an, dass sie stets von einer Mehrheit der Kinder unterstützt werden, und steigert die Forderungen im Laufe des Erziehungsprozesses stetig. Er baut gezielt moralischen Druck auf und lässt die Gruppe dann unter dem Eindruck dieses Drucks scheinbar frei diskutieren und entscheiden, wobei nicht er selbst gegen die Andersdenkenden vorgeht, sondern das dem viel wirkungsvolleren Gruppendruck der moralisch aufgeheizten Mehrheit überlässt.

Dies ist ein äußerst mächtiges Erziehungsinstrument, aber ein Manipulationsmittel, das nicht zur freiheitlichen Erziehung passt und darum hier nur als Negativbeispiel fungiert.


4.2.2 Triebbejahendes Menschenbild und Handlungskonzept

Den genau umgekehrten Ansatz verfolgten Homer Lane und seine Nachfolger, darunter Neill als Lanes bedeutendster Nachfolger. Diese auf Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen setzende freiheitliche Schule der Heimselbstregierung auf psychoanalytischer Grundlage prägte die britische Kinderrepublikbewegung. Neills Vorbild Homer Lane sowie dessen Biograph und Schüler David Wills formulieren die anthropologischen Vorstellungen erheblich deutlicher und systematischer als Neill und wurden hier bei der Formulierung des gemeinsamen anthropologischen Ansatzes mit berücksichtigt. Lane, Neill, Wills u.a. gehen ebenfalls von einem Trieb/Motiv/Bedürfnis-Modell aus, fordern aber nicht Unterdrückung, sondern die radikale Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse, denn sie gehen davon aus, dass der Mensch-von-Natur-aus gut ist.

WENN der Mensch-von-Natur-aus, die menschliche biologische Triebausstattung, gut und prinzipiell auch hinreichend ist, DANN kann man auf diese Triebausstattung vertrauen, d.h. freie Selbstbestimmung gewähren. Eine Erziehung im Sinne planmäßiger Formung oder Verformung ist hier unnötig und sogar schädlich, denn sie würde die von Natur aus richtigen Antriebe nur zum falschen hin verbiegen.

Die Gattung Mensch ist allerdings genetisch unterdeterminiert, daher lernfähig und kulturbildend. Die jeweiligen Techniken, Sprachen, Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben, Eigentumsregeln, Höflichkeitsformen etc. sind relativ neue Erwerbungen, die sich von Kultur zu Kultur unterscheiden und also nicht genetisch festgelegt sein können: Sie müssen von jedem einzelnen Menschen individuell erlernt werden. Doch auch das ist grundsätzlich kein Problem, denn der Mensch ist von Natur aus ein neugieriges, lernwilliges, die Umwelt aktiv erforschendes, durch Erfahrung, aus Versuch und Irrtum selbstständig lernendes Wesen. Diesem natürlichen Lernantrieb kann man vertrauen.

Das gilt grundsätzlich lebenslang, die Kindheit unterscheidet sich nicht grundsätzlich von anderen Lebensphasen. Sie ist gleichwertiger Teil des Lebens, nicht erst eine Vorbereitungszeit darauf. Alle Menschen und Altersgruppen sind prinzipiell gleichartig, gleichwertig und (mit zu begründenden Ausnahmen) gleichberechtigt. Für ein Autoritätsverhältnis besteht wenig Grund. Menschen müssen aus eigenen Erfahrungen lernen. Da keine Formung der Kinder zu definierten Zielen hin betrieben wird, kann es auch keine Erziehungsziele geben, wenn man von Gemeinplätzen wie Natürlichkeit, Gesundheit, Autonomie oder Glück absieht (im fünften Kapitel wird erläutert werden, dass trotzdem etwas Erziehungsähnliches stattfindet).

Wichtig ist die Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse (dazu zählt auch die Sexualität, die bei Neill häufig eine Rolle spielt), u.a. das Bedürfnis insbesondere des Kindes nach sicherer Zugehörigkeit zur Bezugsperson und Gruppe und nach aktiver, eigenständig lernender Erforschung der Umwelt (also Liebe und Freiheit). Sind diese Grundbedingungen gegeben, dann kann man weitestgehend der Natur vertrauen: der selbstständig freien Entfaltung eigenen Lernens.


4.2.3 Psychoanalytisches Menschenbild

Landläufig stellt man sich vor, dass menschliche Handlungen bewusst und planmäßig erfolgen und einer Kosten-Nutzen-Kalkulation unterliegen. Mit planmäßiger Belohnung und Strafdrohungen lässt sich dann das Ergebnis dieser Kalkulation verändern und damit Verhalten steuern.

Die Psychoanalyse geht von einem anderen Funktionsmodell menschlichen Handelns aus: das menschliche Handeln wird weitgehend nicht von planmäßiger bewusster Kalkulation, sondern von oft unbewussten Motiven und Gefühlen gesteuert. Lane, Neill u.a. übernahmen in ihr obiges triebbejahendes Menschenbild zumindest die Grundannahmen der Psychoanalyse, auch wenn sie in vielen Einzelheiten von Freud abwichen, Freud und seine Anhänger kritisierten und die Psychoanalyse als solche nicht unbedingt mit Triebbejahung verbunden sein muss. Im Folgenden geht es um die Konzeption von Lane, Neill und Wills, nicht um die Freuds.

Wird dem Menschen das Ausleben der natürliche Antriebe zur Befriedigung der (hier: psychischen) Grundbedürfnisse gewaltsam verwehrt (etwa durch politische Herrschaft, beherrschende Erziehung, Zwang, Strafe, Angst) oder unterdrückt, so verliert er die natürlichen Fähigkeiten selbstständigen Denkens, Lernens und Anpassens. Statt durch inneres Interesse wird er nun äußerlich durch Furcht motiviert. Folge dieser Störung der Bedürfnisbefriedigung ist Neurose, ein Leiden, das sich oft in scheinbar unerklärlichen Zwangshandlungen und störendem Verhalten äußert (Delinquenz, Schulversagen, Bettnässen...).

Systematische bedingte (d.h. verhaltensabhängige) Belohnung untergräbt die Selbstständigkeit und Moral des Kindes in ganz ähnlicher Weise wie Bestrafung.

Therapie, also der Abbau der die Bedürfnisbefriedigung und Lernfähigkeit hindernden äußeren Zwangs-Überformungen, erfordert eine Art Ent-Erziehung und ist lediglich durch erneute Befriedigung der Grundbedürfnisse möglich, und zwar in gesteigerter Dosis. Bezogen auf die psychischen Bedürfnisse heißt das: un-bedingte Zugehörigkeit zur Gruppe oder Bezugsperson, un-bedingte Zuwendung, erhöhter Freiraum zu eigenem selbstständig experimentierendem Lernen. Simpel ausgedrückt: ein Übermaß an Liebe und Freiheit. Summerhill wurde nach diesem (therapeutischen) Grundkonzept konstruiert.

Un-bedingte Bedürfnisbefriedigung meint das exakte Gegenteil der bedingten (vom Wohlverhalten abhängigen) Bedürfnisbefriedigung, auf der die behavioristischen Verstärkermodelle beruhen. Im Gegensatz zu vielen anderen pädagogischen Konzepten geht es bei Lane, Neill und Wills gerade nicht um Verhaltensbeeinflussung und Verhaltenskontrolle, sondern um deren Abbau, nicht um Erziehung, sondern um den Abbau schädlicher früherer Erziehungseinflüsse!

Neill betonte, dass Lernen nur dann möglich ist, wenn die dafür notwendige emotionale Grundlage vorhanden ist, das innere Interesse. Äußerlich erzwungenes Lernen geschieht äußerst mühsam, freiwilliges, interessiertes Lernen leicht und schnell.

Vor allem das Kind ist von-Natur-aus lernfähig und lernwillig, es will zu seiner Menschengruppe dazugehören und so-wie-sie-sein, sogar besonders gut so-wie-sie-sein, und ist von sich aus in hohem Maße und freudig zur Anpassung an seine Umgebung bereit, zur Übernahme ihrer Gewohnheiten, Normen, Werte etc, um dem geliebten Vorbild ähnlich zu werden. Psychoanalytisch gesehen heißt diese freiwillige Selbstanpassung innerhalb eines Liebesverhältnisses Identifikation. Das Kind erträgt im Rahmen dieser Identifikation auch ein erhebliches Maß an Frustration, sofern die Liebesbeziehung, die Zugehörigkeit zur Gruppe oder Bezugsperson, fraglos fest und gesichert ist, und passt seine Wünsche und Vorstellungen denen seiner geliebten Vorbilder an, um ihnen ähnlich zu sein.

Die psychoanalytische Erziehung nutzt in den bewusst hergestellten Übertragungsbeziehungen zwischen Kind und geliebtem Erzieher denselben Vorgang zu pädagogischen/ therapeutischen Zwecken. WILLS beschreibt solche Übertragungsbeziehungen bei Lane und in seinen eigenen Kinderrepubliken. Im Konzept Neills spielen sie allerdings kaum eine Rolle.

Zusammenfassend bleibt hervorzuheben, dass sowohl bei der traditionellen Erziehung wie auch beim Konzept von Lane, Wills und Neill eine Anpassung des Kindes an die Umgebung erfolgt, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise (und an ganz unterschiedliche Umgebungen). Beide bewirken einen für sie jeweils typischen Persönlichkeitstyp. Die Methoden sind allerdings direkt entgegengesetzt: was für die eine Form unabdingbar notwendig ist, ist für die entgegengesetzte Form unbedingt zu vermeiden.

Ebenso wie andere psychoanalytische Erzieher arbeitete Neill oft erfolgreich mit scheinbar paradoxen Mitteln, etwa wenn er bestimmte Diebe für ihre Taten belohnte statt sie zu strafen. Solche Mittel sind nur scheinbar paradox: sie widersprechen zwar radikal dem Alltagsverständnis, treffen aber genau das verborgene unbewusste Handlungsmotiv des Täters und sind deshalb erfolgreich. Das heißt nachdrücklich nicht, dass eine Belohnung immer gegen Diebstahl wirkt! Es bedeutet nur, dass das tatsächliche Handlungsmotiv herausgefunden und bearbeitet werden muss! Die traditionellen Erziehungsmaßnahmen, die nicht an (ignorierten und abgestrittenen) unbewussten Motiven ansetzt, sondern durch Strafe und Strafdrohung absichtlich Angst auslösen wollten, bezeichnete Neill nicht nur als nutzlos und äußerst schädlich, sondern auch als Verbrechen.


4.2.4 Individuelle Selbstregulierung: Das freie Kind

Aus dem triebbejahenden psychoanalytischen Menschenbild folgt unmittelbar die Notwendigkeit,Kinder von Geburt an selbstbestimmt, selbstreguliert (Wilhelm Reich) aufwachsen zu lassen. Neill und Reich gingen davon aus, dass sie trotz jahrzehntelanger psychologischer Arbeit kaum etwas von Kindern wissen konnten, dass sie bislang lediglich die von Geburt an durch Zwang deformierten Kinder kennengelernt hatten, da es kaum ein von Geburt an natürlich, frei, selbstreguliert aufgewachsenes Kind gab, an dem man die wahre Natur der Kinder beobachten und studieren konnte. Neill berichtete, dass auch Lane diese Auffassung vertreten habe. Die Selbstregulierung stand im Gegensatz zu den Empfehlungen nahezu aller damaligen Erzieher, Ärzte (mit Ausnahme des bis heute aktuellenB. SPOCK) und Psychologen, ein Kind exakt nach der Uhr zu füttern und ihm so einen festen Zeit-Rhythmus aufzuzwingen.

Bei ihren eigenen Kindern Zoë Neill und dem zweieinhalb Jahre älteren Peter Reich, die selbstverständlich gemäß der Selbstregulierungs-Methode frei und selbstbestimmt aufwuchsen, waren sie brennend interessiert, ihre theoretischen Mutmaßungen durch intensive Beobachtung und Beschreibung zu überprüfen. Ihre Erfahrungen tauschten sie brieflich aus.

Neill und Reich erwarteten den Beginn einer neuen (freiheitlichen, antiautoritären, sozialistischen, liebevollen) Zivilisation durch die Selbstregulierung, die einzige Hoffnung für die von Hass und der Atombombe bedrohte Menschheit, und Neill betont von nun an, dass nicht erst Lehrer und Schule, sondern schon Kinderarzt und falsch informierte oder moralistische Eltern dem Kind die Freiheit rauben.

Nach zwei Wochen konnte Neill einen eigenen inneren Ernährungszeitplan Zoës feststellen. Mit sieben Wochen stellt er fest: Zoë versucht bereits, uns beide zu terrorisieren. Gott helfe einem armen Vater. Und mit knapp eineinhalb Jahren: Sie zeigt keine Anzeichen von Hass oder Zerstörungssinn. Es ist eine Freude, sie wachsen zu sehen. Er schloß aus ihrer Entwicklung, dass Freuds Annahme eines angeborenen Aggressionstriebes falsch sei. Reich und Neill sahen den Aggressionstrieb als kulturell erworben und in der Erziehung weitergegeben an.

    "Die Freudianer stellten fest, dass bei Kleinkindern die Analerotik eine große Rolle spielt. Ich hab das bei frei aufwachsenden Kleinkindern jedoch nicht feststellen können. Auch die von Freudianern diagnostizierte gemeinschaftsfeindliche Aggressivität scheint bei freien Kindern nicht zu bestehen." (NEILL 1969, 270)

    "Die Freudianer machen viel von Aggressionen im Kindesalter her, aber ich glaube, sie haben die falschen Kinder studiert; jedenfalls beobachte ich bei Kindern, die über sich selbst bestimmen, weit weniger Aggressionen als bei disziplinierten Kindern." (NEILL 1982, 312) und auch kaum Wettbewerbs- und Konkurrenzverhalten (ebd. 313).

Neill schrieb jedoch bald an Reich, dass in einigen Punkten die völlige Selbstregulierung der falsche Weg sei und zumindest einige Erwachsenen-Eingriffe bei Zoë nötig seien: dass Zoë, wenn sie abends zu lange wach war, am nächsten Tag schlechtgelaunt sei und viel weine, und dass sie an kalten Tagen zu dünne Kleidung tragen wolle. Er empfahl bezüglich Zubettgehen Strenge und stimmte seiner Frau voll zu, die Zoë trotz der Tränen warme Kleidung anzog.

Die Presse berichtete meist positiv über die neue Art, Kinder großzubringen, und über das unkomplizierte, furchtlose, glückliche, für sein Alter ungewöhnlich weit entwickelte Kind. Verbunden war damit eine milde Kritik, dass Selbstregulierung eine sehr harte Arbeit für ein so kleines Kind sei, und dass Zoë vielleicht deshalb ihre Saugflasche so liebe. Zeitschriftenfotos zeigen die zweijährige Zoë, die ihre Nahrung mühsam selbst schneidet, ohne fremde Hilfe in die Badewanne oder auf einen Baum klettert. Auch die Leserbriefe auf die Artikel waren überwiegend zustimmend (vgl. HICKLIN 1949, PROOPS 1949).

Neill achtete äußerst sorgfältig darauf, dass Zoë keinerlei negative Haltung zu ihrem Körper und ihrem Geschlecht erwarb, und so berichtete sie völlig unbefangen im Ort, dass Daddy ihre Mammi befruchtet habe, dass sie aus Mammis Möse (fanny) gekommen sei, und fragte Anwesende aus, wer denn sie befruchtet habe. Doch von den gestörten Kameradenübernahm sie schließlich doch die konventionellen sexualfeindlichen Anstandsvorstellungen, die Neill ihr hatte ersparen wollen, sowie ein dementsprechendes Vergnügen an Obszönität.

Es war Neill gar nicht recht, dass sein freies Kind seine Mutter deutlich mehr mochte als ihn, und das auch frei und deutlich äußerte. Dreijährig verlangte Zoë Lese-Unterricht, achtjährig wollte sie zur Kirche gehen, da ihr der Kirchengesang gefiel. Trotz seiner Abneigung gegen Religion und Buchlernen versuchte Neill nie, Zoë seine Vorstellungen zu vermitteln, sie in irgendeine bestimmte Richtung zu beeinflussen oder zu formen. Seine (Summerhill-typischen) großen Sorgen über Zoës geringes schulisches Interesse äußerte er nur heimlich.

Zoë gegenüber war Neill unfähig, so zwischen Freiheit und Zügellosigkeit zu unterscheiden, wie er es Eltern stets empfohlen hatte: Er konnte ihr nichts abschlagen. Die (auch nach Neills Überzeugung) einfach unumgänglichen Einschränkungen blieben seiner Frau überlassen. Dies irritierte und amüsierte den Rest der Schule, und man empfand es als Triumph, als Neill zu Zoë, die nicht aus dem Meer kommen wollte, sagte: 'Zoë, du musst wirklich lernen, das zu tun, was man dir sagt und ihr ein anderes Mal in derselben Situation - zu seinem eigenen Entsetzen - einen Klaps gab.


4.3 Gesellschaftsreform und revolutionäre Politik

Pädagogen fragen meist: Was muss ein Kind lernen, damit es in die bestehende gesellschaftliche Umwelt und Kultur passt und darin erfolgreich ist. Sie formulieren Erziehungsziele und Lehrziele, die das Kind erreichen soll, und organisieren Lehrgänge zur Erreichung sowie Prüf- und Bewertungssysteme zur Kontrolle des Ziels.

Neill, der sich nicht als Pädagoge verstand, dachte radikal vom Kinde aus und damit genau umgekehrt: Nicht Anpassung an die (und damit möglicherweise: vorwärtskommen in der) bestehende(n) Kultur und Gesellschaft ist Erziehungs- und letztlich Lebenszweck, sondern das individuelle Glück (als Selbstzweck). Es war grundsätzlich egal, ob ein Kind Straßenkehrer oder Professor wurde, und Neill hätte einen (nur mit Ehrlichkeit und Glück zu erkaufenden) Aufstieg in Herrschaftspositionen als Misserfolg empfunden.[15]

Neills Grundfrage lautet daher: Wie muss die Umwelt beschaffen sein, damit das Kind mit seinen mitgegebenen Bedürfnissen darin glücklich sein kann. Sein Grundgedanke war von Anfang an, die Umgebung, die Schule kindgeeignet zu machen, nicht die Kinder schulgeeignet. Schon im Entwurf der geplanten Internationalen Schule in Hellerau schrieb er: "Selbstverständlich muss die Schule sich an das Kind anpassen, nicht das Kind an die Schule" (NEILL 1922, 33, Übersetzung von mir; vgl. NEILL 1969, 22).

Für obige Pädagogen sind Umwelt, Kultur und Gesellschaft vorgegeben, ihre Anforderungen müssen erfüllt werden. Das Kind dagegen ist (noch) defizitär und zu verändern. Für Neill war das jeweilige Kind vorgegeben und Kultur und Gesellschaft defizitär und so zu verändern, zu reformieren oder zu revolutionieren, bis sie den natürlichen Bedürfnissen des Menschen Raum bieten. In Summerhill versuchte er im kleinen, eine geeignete Umwelt zu schaffen. Darüber hinaus hielt er drastische Gesellschaftsveränderungen für notwendig.


4.3.1 Freudomarxismus: autoritärer Charakter und antiautoritäre Kulturrevolution

Der wesentliche Faktor der geschichtlichen Entwicklung ist für Marxisten die Dialektik von Produktivkräften (Stand der Technikentwicklung etc.) und Produktionsverhältnissen (Staats- und Gesellschaftsformen): Wird die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte allzu sehr von den Produktionsverhältnissen behindert, so wird nach Marx die Gesellschaftsform durch eine Revolution der benachteiligten Gesellschaftsklasse umgestürzt. Zur Zeit des ersten Weltkrieges galt die Situation allgemein als objektiv reif dazu, doch die als sicher erwartete sozialistische Revolution der Arbeiterklasse blieb aus: In Russland etablierte sich stattdessen nach einem Militärputsch (Oktoberrevolution) eine selbstherrliche Parteidiktatur, in Deutschland und den westlichen Industrieländern entstanden oder blieben bürgerliche Republiken.

Diese ganz unerwartete Entwicklung war dringend erklärungsbedürftig. Zur Erklärung der ausgebliebenen Revolution in objektiv revolutionärer Situation wurde von einem Teil der Marxisten der subjektive Faktor herangezogen: Durch Erziehung und die Lebensweise in der autoritär strukturierten bürgerlichen Gesellschaft werden auch die Arbeiter zu autoritären Menschen mit autoritärem Charakter, die zur befreienden Revolution unfähig sind. Da die unterdrückende Herrschaft nicht nur auf einer ökonomischen, sondern auch auf einer psychischen Struktur beruhe, müsse der bisherige Marxismus nun durch die Psychologie Freuds (und/oder seiner Schüler Alfred Adler und Wilhelm Reich) ergänzt werden zum Freudomarxismus (der Begriff wird im Folgenden im weiteren Sinne verwendet, die Adlermarxisten und Reichianer einschließend).

Der Freud-Schüler Wilhelm Reich[16] und ebenso sein Freund Neill kritisierten die konservativen Gesellschaftsvorstellungen und das pessimistische Menschenbild Freuds.[17] Neill beklagt, dass Freudianer nicht an Freiheit glauben und nicht einmal für ihre Sichtweise der Sexualität öffentlich eintreten.

    "Ich bin sicher, Freud selbst hielt nicht viel von Freiheit für Kinder. Er blieb Paternalist." (NEILL 1982, 267)

Reich sah den freudianischen Aggressionstrieb und Todestrieb nicht als natürliche, angeborene Triebe an, sondern als in der Erziehung kulturell erworbene Charaktereigenschaften. Nach Reich (und Lane und Neill) sind Menschen von Natur aus friedlich und liebevoll und nicht mit Aggressionstrieb und Todestrieb behaftet. Erst eine massiv bedürfnisfeindliche autoritäre Erziehung mache sie aggressiv. Bei freiem Aufwachsen und befriedigendem Sexualleben bleibe dagegen der friedfertige, lebensbejahende Charakter und die Fähigkeit, Lust zu empfinden, bestehen.

Die bedürfnisfeindliche Erziehung sei Produkt der patriarchalischen Klassen- Gesellschaft und der damit zusammenhängenden sexuellen und politischen Unterdrükkung. Die aber sei seit der frühen Jungsteinzeit vor über sechstausend Jahren, seit demÜbergang von mutterrechtlicher zu patriarchalischer Gesellschaft (und damit zur Klassenherrschaft) der Normalfall.

Die in den nicht-patriarchalischen Kulturen noch wirksame friedliche (eigentliche) Menschennatur suchte Reich zu untermauern mit den Forschungsergebnissen Malinowskis bei den erst kurz zuvor (unter Kolonialherrschaft) vom Mutterrecht abgegangenen Trobriand- Insulanern, die er als außerordentlich friedlich und kaum sexualunterdrückend schilderte.

Eine autoritäre, sexualfeindliche, restriktive Erziehung, die andauernde Unterdrückung der natürlichen Triebe von Geburt an erzeuge die starre autoritäre Charakterstruktur, die Unfähigkeit, Lust zu empfinden und natürlich und spontan zu reagieren, gepaart mit sadistischen, aggressiven Charakterzügen und anfällig für autoritäre und faschistische Organisationen. Der Charakterpanzer dient als Schutz gegen die feindliche Umwelt einerseits und gegen die bedrohlichen (verdrängten) eigenen Triebbedürfnisse andererseits und äußere sich körperlich im Muskelpanzer (harte Männer!), den Reich durch eine Verbindung von Gespräch und Körpermassage (Vegetotherapie) aufzulösen suchte.

Oben-Unten-Beziehungen, Herrschafts- und Machtstreben, Konkurrenz, Angst, Gehorsam und Unterordnung durchziehen die ganze bürgerliche Gesellschaft, auch die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften. Auch dort herrschen Männer über Frauen, Alte über Junge, Funktionäre über Mitglieder. Auch dort wird autoritär erzogen, entstehen autoritär strukturierte Menschen, die zu Solidarität, Revolution und Sozialismus unfähig sind.

Nach freudomarxistischer Sicht müssen die Gesellschaftsmitglieder von der wirtschaftlichen und der sexuellen Unterdrückung befreit werden. Für eine andere, freiere Gesellschaft bedarf es nun primär einer anderen Lebensweise und einer anderen Erziehung: der Befreiung von Angst und geistig-psychischer Autorität. Diese psychische Befreiung erfolgt weniger im öffentlichen Bereich von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, sondern vor allem im persönlichen Privatbereich von Liebe, Ehe, Sexualität, Familie, Erziehung, Moral und religiöser Orientierung. Ein großer Teil der kulturrevolutionären Forderungen bezieht sich auf Sexualität und Geschlechtsrolle (ein Teil davon wurde insbesondere seit den 1960er Jahren verwirklicht, meist ohne kulturrevolutionären Anspruch).

Dabei wird die bisherige Reihenfolge umgedreht: Sozialismus entsteht (wie gesehen) nicht durch die politische Revolution als einmaligem Gewaltakt, nach dem sich dann auch die Kultur (Überbau) umstrukturiert. Sondern die sich langsam und stückweise über einen langen Zeitraum vollziehende kulturelle Revolution, die Umstrukturierung der gesamten Kultur nach einem neuen (sozialistischen) Prinzip, wird schließlich auch die politische und soziale Demokratie mit sozialistischer Bedarfswirtschaft statt kapitalistischer Warenwirtschaft hervorbringen.

Überall muss die Zwangsautorität weichen, damit sich unautoritäre Neue Menschen und nicht traditionelle autoritäre Machtmenschen entwickeln. Wesentlicher Punkt ist die Abschaffung der patriarchalischen Zwangsfamilie und Zwangsehe: Die kaum scheidbare lebenslange monogame Ehe mit gesetzlich festgeschriebener Herrscherposition des Ehemannes bzw. Vaters war das einzig legale Modell sexueller Beziehungen.

An ihre Stelle sollten die absolute Gleichberechtigung und Befreiung der Geschlechter treten: Frauenemanzipation, gleiche Berufstätigkeit von Frau und Mann und Sexuelle Revolution (Buchtitel REICHs), Trieb- und Sexualbejahung, freie Liebe, freie Empfängnisverhütung und Abtreibung, freie Jugendsexualität. Das bedeutete eine weitgehende Auflösung der Familie, die durch eine ausgebaute gesellschaftliche (nicht familiäre), freiheitliche und sexualitätsbejahende koedukative Kindererziehung (mit Sexualaufklärung) in Kindergärten, Heimen, Horten etc. ergänzt werden sollte. Hinzu kommt eine andere gesellschaftliche Organisation (Rätesystem; Reichs Arbeitsdemokratie).

In der kurzen relativ freien frühsowjetischen Phase wurden diese Forderungen in Sowjetrussland und der Räte-Ukraine offiziell übernommen, was Neills zeitweilige Begeisterung für diese Länder erklärt.[18] Im Zusammenhang mit diesem Konzept muss auch Neills starke Befürwortung der kollektiven Kindererziehung zum frühestmöglichen Zeitpunkt (etwa dreijährig) gesehen werden. Er war dafür viel kritisiert worden, später auch von etlichen der so früh übernommenen Kinder. Aufgrund der Erfahrung mit seiner eigenen Tochter hob Neill das früheste Eintrittsalter in Summerhill auf fünf Jahre an, da Kinder solange die Liebe und Wärme ihrer Mutter benötigten.

Der Begriff antiautoritär bezeichnet zunächst eine politische Haltung im Anarchismus, Syndikalismus und Rätekommunismus, in den 60er Jahren auch in der Frühphase der Studentenbewegung. Von dort gelangte er wohl vor allem über Alice und Otto Rühle, die ihn schon Mitte der 1920er Jahre so verwendeten (z. B. in: JENA 1925), auch in die Pädagogik.

Infolge des vom Rowohlt-Verlag geschickt gewählten deutschsprachigen Taschenbuchtitels Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung gelten Neill und Summerhill als der Hauptvertreter und das Standardmodell der antiautoritären Erziehung der 60er Jahre. NEILL (1982, 246) distanzierte sich zwar ausdrücklich vom Begriff antiautoritär, da er nicht für eine politische Studenten-Bewegung in Deutschland, auf die er keinerlei Einfluss hatte (und die sich rasch dem autoritären Bolschewismus der studentischen Arbeiterparteien zuwandte), verantwortlich gemacht werden wollte. Sachlich und inhaltlich ist der Begriff antiautoritär für Neill zutreffend, und seine Ablehnung des Begriffs war nicht prinzipiell:

    "Ich bin sicherlich anti-autoritär, gegen die Autorität von oben, aber nicht gegen eine Form von Autorität, wie wir sie in Summerhill haben." (Neill im Interview in DER MYTHOS SUMMERHILL 1971, 42)

    "Summerhill ist dann 'antiautoritär', wenn unter 'autoritär' die Herrschaft der Erwachsenen über die Kinder verstanden wird." (NEILL 1970d, 25) Vgl. zum Begriffsstreit bei Neill auch SCHMIDT-HERRMANN 1987, 106, 218 (Anm 52 ).

Die Diskussion in Deutschland hängte sich in starkem Maße am Begriff antiautoritär auf, wobei zudem oftmals (fälschlich) autoritär mit Autorität mehr oder weniger gleichgesetzt wurde: antiautoritär wird von konservativen Kritikern bis heute als anti Autorität missverstanden, als Ablehnung, Abschaffung und Bruch prinzipiell aller Regeln und Verbindlichkeit.

Neills antiautoritären pädagogischen und politischen Vorstellungen waren zwar eine Minderheitenposition, aber keineswegs einmalig, sondern in freudomarxistischen Kreisen verbreitet. Dies zeigen die politischen und pädagogisch/psychologischen Vorstellungen des KPD- und KAPD- Mitbegründers und führenden deutschen Rätekommunisten Otto Rühle und seiner Frau Alice Gerstel-Rühle, aber auch Wilhelm Reichs. Neills Besonderheit ist allerdings, dass er diese Vorstellungen nicht nur theoretisch entwarf, sondern in einer Heimschule auch tatsächlich radikal praktizierte.

Das Konzept des (mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängenden) autoritären Charakters wurde von Freudomarxisten im Institut für Sozialforschung (Frankfurter Schule, mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm), Adler-Marxisten wie Otto und Alice Rühle und Reichianern wie Wilhelm Reich (in seinem Buch Massenpsychologie des Faschismus) auch zur Erklärung des aufkommenden Faschismus verwendet und spielte vor allem in der antiautoritären Frühphase der Studentenbewegung der 60er Jahre eine herausragende Rolle: Faschistische Politiker mussten die bereits latent vorhandenen Faschisten (autoritären Charaktere) lediglich organisieren, keinesfalls erzeugen.

Diese antiautoritäre Studentenbewegung der 1960er Jahre befasste sich stark mit Psychoanalyse und gemeinschaftlicher antiautoritärer Selbstregulierung der Kleinkinder in Familie und Kindergarten (Kinderladenbewegung), erinnerte sich (u.a. in Raubdrucken) auch nachdrücklich an Praktiker und Theoretiker der Kinderrepublikbewegung (Bernfeld, Makarenko, Neill, Rühle, Reich, frühsowjetische Republiken, sozialdemokratische deutschen Falkenrepubliken), drang aber nicht tiefer in die Thematik selbstregierter Heime ein.


4.3.1.1 Rühles 'kommunistisches Schulprogramm' von 1920

Neill hatte sowohl hinsichtlich der Biographie wie auch der Ansichten große Ähnlichkeit[19] mit dem wegen sozialistischer und freidenkerischer Tätigkeit entlassenen Junglehrer, Redakteur, Landtagsabgeordneten, SPD-Schulexperten im Reichstag, KPD- und KAPD- und AAUE (Syndikalisten)- Mitbegründer und führenden deutschen Rätekommunisten Otto Rühle (* 1874). Trotz ihres gleichzeitigen Wirkens im Dresdener Norden haben sie aber offenbar nichts voneinander gewusst. Beide waren ausdrückliche Befürworter selbstregierter Kinderrepubliken und beide waren bedeutende pädagogische Vorbilder der antiautoritären Bewegung der 1960er Jahre.

Otto Rühles schon 1920 veröffentlichte Idealvorstellung einer kommunistischen Schulerziehung könnte auch als treffende Schilderung von Summerhill gelten:

    "Die Kinder finden sich nach Neigungs- und Begabungsgruppen zusammen, die in ihrer Konsistenz unausgesetzt wechseln, denn das Kind genießt [...] die größte Wahlfreiheit und das freieste Bestimmungsrecht in bezug auf Arbeit und Unterricht. Der geistige Zwang hört auf. Es gibt keine allgemein verbindlichen Lehrgänge und keine am grünen Tisch für das 'Normalkind' entworfenen, amtlich verfügten Lehrpläne mehr." (O. RÜHLE 1920a, 26)

    "Im übrigen sind Strafen, welcher Form auch, unter allen Umständen ausgeschlossen." (O. RÜHLE 1920a, 27)

    "Doch auch auf anderem Wege noch werden Kindergärten und Spielschule zu Wekkern des Gemeinschaftssinnes und Pflegern sozialer Gefühle. Indem das Kind sich eingliedert in die lebendige Kette der jugendlichen Spiel- und Arbeitsgemeinschaft, muss es sich anpassen, eingewöhnen, unterordnen; es muss Rücksicht nehmen, verzichten und fordern, sein Recht wahren und kämpfend seinen Platz behaupten - genau wie die Erwachsenen draußen im Leben. Ängstlichkeit und Schüchternheit setzen sich in Entschlossenheit und Schlagfertigkeit um; Mangel an Selbstvertrauen verwandelt sich in Kraft, Ausdauer und Mut. Übereifer und Jähzorn werden gebändigt; Unsoziales wird ausgemerzt. So wird das Kind geübt in Tugenden, ohne die es ein Zusammenleben von Menschen nicht gibt, in Verträglichkeit, Gefälligkeit, Unterordnung unter das Ganze, Selbstdisziplin, Solidarität. 'Wo kann denn das Kind', fragt Jean Paul, 'seine Herrscherkräfte, seinen Widerstand, sein Vergeben und Geben, seine Milde, kurz jede Blüte und Wurzel der Gesellschaft anders zeigen und zeitigen als im Freistaat unter seinesgleichen? Schulet Kinder durch Kinder! Der Eintritt in den großen Kinderspielplatz ist für sie einer in die große Welt." (O. RÜHLE 1920a, 21 f.)

    "Nur Religion als Lehrfach hat aufgehört zu existieren. Sie ist eine reine Privatangelegenheit geworden - soweit für dieses Opium noch Bedarf vorhanden ist. Im Geschichtsunterricht und in der Philosophie wird ihre historische Beleuchtung und Würdigung den Platz finden, der ihr im Rahmen der Wissenschaft zukommt. Sonst aber hat sie in der Schule nichts mehr zu suchen." (O. RÜHLE 1920a, 34 f.)

    "Die Selbstregierung der Schulen geschieht nach dem Räte-Prinzip: "Die Lehrer, befreit von dem behördlichen Stachelhalsband des Rektorats und der Schulinspektion, wählen Fachschulräte, die Schüler schaffen sich in Schülerräten ihre Vertretung.

    Zusammengefasst wird die Verwaltung des Erziehungs- und Unterrichtsbetriebs einer Schulgemeinde im Schulgemeinderat, der gebildet ist aus gewählten Vertretern der Arbeitereltern, der Lehrer, der Schüler (von einer bestimmten Stufe an) und der Regierung, d. h. des Arbeiterrats. Dieser Schulgemeinderat stellt die Lehrkräfte an und kontrolliert ihre Tätigkeit" (O. RÜHLE 1920a, 38).


4.3.1.2 Prophylaxe statt Therapie

Da der gesellschaftlich/kulturell erzeugte Todestrieb (Freud) bzw. die emotionale Pest (Reich) infolge der autoritären Prägung keine vereinzelt auftretende Erscheinung, sondern der gesellschaftliche Regelfall, die Normalität war, sah Reich die engen Grenzen individueller Therapie: solange der autoritäre Charakter von der Gesellschaft täglich neu erzeugt wurde, war individuelle Therapie aussichtslos.

Anders als die Freudianer hielten Reich, Lane und Neill Neurosen grundsätzlich für vermeidbar: Der Konflikt zwischen den Ansprüchen der natürlichen Triebausstattung und denen der Gesellschaft erschien ihnen nicht (wie Freud meinte) unbedingt notwendig, sondern konnte abgebaut werden, indem die Gesellschaft Freiheit gewährt und Kinder ohne Zwang und Gewalt erzogen werden. Die persönliche Begegnungen mit zwei herausragenden Praktikern freier Kindererziehung, A. S. Neill und Wera Schmidt[20], ermutigten Reich in seinen Prophylaxe-Hoffnungen.

    "Der Haken an der Psychoanalyse ist, dass sie sich mit Worten befasst, während aller Schaden einem Kind zugefügt wird, bevor es sprechen kann." (Reich, in NEILL 1982, 177)

    "Ich zweifle, ob irgendeine Therapie je zu den Wurzeln der Neurosen vordringen wird. In den frühen zwanziger Jahren forschten wir alle nach dem berühmten, die Krankheit verursachenden Trauma. Wir fanden es nie, weil kein Trauma existierte, wohl aber eine Überfülle traumatischer Erlebnisse vom Augenblick der Geburt an. Reich erkannte, dass nicht Therapie die Antwort war, sondern nur Prophylaxe" (NEILL 1982, 174).


4.3.2 Neills Haltung zur Politik

Neill wurde häufig wahrgenommen als unpolitisch oder bürgerlich, der unpolitische Leiter einer teuren Privatschule für wohlhabende Kreise, der es zudem ablehnte, Kinder zum Klassenkampf zu erziehen. Er versuchte gelegentlich auch, sich als unpolitisch darzustellen (vgl. NEILL 1982, 246). Neill äußerte häufiger, dass Politik nicht seine Sache sei und ihn nicht interessiere (vgl. z.B. NEILL 1969, 40; 1970d, 25; 1982, 246, 255 f., 259). Politische Bemerkungen machte er eher nebenbei und vor allem in Briefen. Das erklärt und entschuldigt die landläufige Auffassung.

Man darf die Neill'schen Äußerungen hier nicht einfach wörtlich nehmen: Auf Äußerungen wie "Ich hörte auf, mich mit Politik, welcher Art auch immer, zu beschäftigen" (NEILL 1982, 255), "Ich habe keine politische Überzeugung" (ebd. 256), "Ich gab die Politik auf" (ebd. 260) folgt rasch auch ein sehr massives politisches Bekenntnis zur Revolution:

    "Nieder mit dem Kapitalismus! Lasst die Arbeiter die Kontrolle übernehmen! In Russland taten sie es. Utopia war Wirklichkeit geworden. Eine Welt ohne Profit und Klassen. Das war 1917. Heute, 1972, sind die Arbeiter Schafe, die von gar nicht so freundlichen Schäfern geführt werden." (NEILL 1982, 262)

Neill scheint den Begriff Politik generell im Sinne kurzfristig aktueller Tages-, Partei- und Regierungspolitik zu benutzen, für die großen Ideologien, Betrügereien, das Anzetteln von Kriegen, für die Macht- und Interessenpolitik korrupter Politiker über das machtlose, durch autoritäre Erziehung niedergehaltene Volk. Diese Politik war von seinen libertär-sozialistischen Vorstellungen so weit entfernt, dass sie ihn kaum noch interessierte und er damit nichts zu tun haben wollte: er beobachtete sie zwar bis zum Tod von außen in den von ihm abonnierten vier Tages- und drei Wochenzeitungen, beteiligte sich aber nach dem zweiten Weltkrieg kaum noch aktiv.

Solange die Politik - auch unter der sozialistischen britischen Regierung - den Problemen nicht auf den Grund ging, sondern nur der weiteren Unterdrückung der Bevölkerung diente, solange auch das Erziehungswesen so grundfalsch organisiert war, dass Kinder in staatlichen Pflicht-Schulen mit staatlich gelieferten Rohrstöcken zu Lernleistungen und Disziplin geprügelt[21] wurden, solange waren die Einzelheiten dieser grundfalschen Politik für Neill uninteressant.

    "Ich gab die Politik auf, weil sie den Dingen nicht auf den Grund geht. Denn selbst in einer sozialistischen Regierung wird die Politik vom Establishment bestimmt, von den Verteidigern des Status quo." (NEILL 1982, 260)

    Politik trägt nicht dazu bei, "jene repressive Institution zu ändern, die wir Erziehung nennen. Sie tut eher das Gegenteil. Sie programmiert Kinder so, dass sie den jeweils herrschenden Mächten, den politischen und wirtschaftlichen Bossen folgen" (NEILL 1970d, 25).

Neill war kein im landläufigen Sinne unpolitischer Mensch, im Gegenteil: Er war seit 1913 Mitglied der sozialistischen Labour Party, sympathisierte schon als junger Lehrer mit dem britischen Gildensozialismus (Selbstverwaltungs-Genossenschaften), bezeichnete sich 1917 in A Dominie Dismissed als den einzigen Sozialisten des Dorfes und fordert zum Sturz des Kapitalismus auf. Er abonnierte radikale Magazine wie New Statesman und New Age und schrieb Artikel für sie.

Der Höhepunkt seines politischen Engagements lag in den dreißiger Jahren, als er sich im spanischen Bürgerkrieg und zur Rettung von Nazi-Verfolgten engagierte.

Viele Lehrer und auch Eltern in Summerhill waren linksgerichtet, etliche gehörten der Kommunistischen Partei an, viele beteiligten sich sehr aktiv an der Lokalpolitik. Die Monatszeitung The Leiston Leader, die von fast der Hälfte der Einwohner gekauft wurde, entstand anfänglich auf Neills Vervielfältigungsmaschine. Summerhill galt allgemein als kommunistisch, Neill selbst schwankte zwischen der unabhängigen Sozialdemokratie (ILP) und den Kommunisten und bezeichnete sich und Russell in einem Brief an Bertrand Russell als die einzigen radikalen kommunistischen Erzieher (the out and outer Bolshies of education, etwa Dezember 1930, zitiert in CROALL 1984, 167).

Einige Schüler wurden später selbst Mitglieder der Kommunistischen Partei und führten - auch nachdem sie Summerhill längst verlassen hatten - politische Debatten mit Neill, der die Sowjetunion seit der Mitte der 30er Jahre als tyrannische Diktatur sah, die jegliche Freiheit unterdrückt. In ausdrücklicher Abgrenzung zum stalinistischen Kommunismus der Sowjetunion, unter dem Summerhill nicht bestehen könne, schrieb er:

    "Ich will Kommunismus, d. h. eine Nicht-Profit-Gesellschaft, PLUS die Unabhängigkeit des Individuums, für die Summerhill steht." (CROALL 1984, 245; "..." dort; Übersetzung von mir)

Neill bezeichnete sich als communist mit kleinem c: Den politischen Kommunismus Moskauer Prägung (als Eigenname groß geschrieben: Communist), lehnte er ausdrücklich ab, erklärte sich aber zum kommunistischen Menschen (als Eigenschaftswort kleingeschrieben: communist), bekannte sich zum Gemeinschaftsleben und Gemeineigentum, dazu, alles mit dem Personal und den Kindern zu teilen, zum Kommunismus Jesu (vgl. NEILL 1982, 257; CROALL 1984, 318).

Neill abonnierte und las linke Bücher und äußerte sich in seinen Briefen deutlich und ausführlich über die politische Lage. Er schrieb im September 1933 für die ILP über Summerhill und lehrte 1932 an der ILP-Sommerschule über die freie Schule.

Neill hegte eine ausgeprägte Abneigung gegen Nationalismen jeder Art und bekämpfte entschieden den autoritären, Furcht verbreitenden Faschismus. Summerhill nahm (ebenso wie auch Beacon Hill und Dartington Hall) eine Anzahl Juden und andere aus und vor Deutschland Geflüchtete auf, ermöglichte ihnen teilweise erst die Einreise aus Deutschland oder deutsch besetztem Gebiet oder suchte sie weiterzuvermitteln. Im Spanischen Bürgerkrieg organisierte Summerhill eine Spendenwerbe-Veranstaltung für die Spanienhilfe, nahm die Kinder zweier Kämpfer der Internationalen Brigaden auf und nach der Bombardierung von Guernica durch die deutsche Luftwaffe auch kostenlos einigeFlüchtlingskinder.

Linke Theatergruppen spielten politische Stücke und hielten zwei ihrer Sommerschulen in Summerhill ab. Während des Krieges agitierte Neill für ein besseres Nachkriegs-Staatsschulsystem und veröffentlichte auch dazu ein Buch (Hearts not Heads in the School, 1945).

Auf den militärischen Sieg über den Faschismus folgte nicht der von Neill erwartete freiheitliche Sozialismus, sondern die Restauration der alten Macht- und Klassenverhältnisse und die Block-Aufteilung der Welt in Stalinismus und Kapitalismus, die einander mit ihren neuen Wasserstoffbombenarsenalen die Weltvernichtung androhten. Die jahrzehntelang gehegte Hoffnung auf radikale Verbesserung durch eine an Russland orientierte sozialistische Revolution musste Neill angesichts des Terrors und der reaktionären Gesellschaftspolitik Stalins aufgeben. Die sozialistischen Regierungen in England bewirkten ebenfalls keine revolutionären Änderungen im Gesellschafts- und Erziehungssystem. Durch den Stalinismus, die moskauhörige Politik der Kommunisten sowie den reformistischen Kurs der sozialistischen Partei wurde der Begriff Sozialismus immer inhaltsleerer und hatte mit Neills Vorstellungen kaum mehr etwas gemein.

Neills politische Überzeugungen blieben unverändert, er bekannte sich - mit zunehmenden Schwierigkeiten - weiterhin zum Sozialismus und sah die Gesellschaft bis zu seinem Tode äußerst kritisch und mit großer Sorge, sah aber keine Möglichkeiten mehr, auf dem Wege über Parteien und Politik grundlegende (!) gesellschaftliche Änderungen zu erwirken. Er glaubte nicht mehr an Änderungen durch eine Demokratie "der schon in der Wiege kastrierten Massen" (NEILL 1982, 246), wandte sich von der aktuellen Politik ab und engagierte sich nur noch sporadisch. Trotzdem wurde ihm aus politischen Gründen die Einreise in die USA verweigert, ebenso wie 1937 in die Sowjetunion.

Die Bedrohung der gesamten Menschheit durch einen thermonuklearen Dritten Weltkrieg machte Neill große Sorgen. Als 1961 während der Konflikte um den Bau der Berliner Mauer sich die Truppen dort kriegsbereit gegenüberstanden, trat der fast 78jährige Neill dem deutlich anarchistisch beeinflussten Committee of 100 bei, das Methoden des zivilen Ungehorsams bevorzugte und dem auch Bertrand Russell angehörte. Das Comittee organisierte eine Sitzblockade vor dem Polaris-Atomraketen-Lager an der Holy-Loch-Base in Schottland, an der auch Neill teilnahm. Er wurde wie erwartet festgenommen und knapp zwei Tage in Haft gehalten, bevor er zu 10 £ Geldstrafe oder 60 Gefängnistagen verurteilt wurde. Viele der Festgenommenen wählten die Gefängnisstrafe, Neill zahlte. Da bei der nächsten Festnahme Gefängnis drohte, und er das wegen der Schule nicht riskieren konnte, verließ er das Committee wieder.

Neill war nicht unpolitisch im Sinne von uninteressiert, sondern politisch so entschieden radikal eingestellt, dass er in der Politik keinen gangbaren Weg zu einer wirklich radikalen Gesellschaftsänderung mehr sah. Er ging aber durchaus davon aus, dass die freie Erziehung ganz automatisch auch revolutionierende Folgen haben würde. Und in dieser Revolution sah er die einzige Chance zur Rettung der Menschheit vor ihrer Selbstvernichtung.


4.3.3 Politik, aber keine politische Erziehung

Auch die Summerhill-Kinder beteiligten sich gern an den politischen Aktivitäten der dreißiger Jahre, schrieben Transparente, adressierten Umschläge, verteilten Flugblätter, besuchten Versammlungen. Neill missbilligte die Einbeziehung der Kinder und schritt ein, als Angestellte sie die Zeitung Daily Worker verkaufen lassen wollten: die Zeitung, die Neill selbst abonnierte und für die er manchmal schrieb. Denn Neill betonte, dass freie Erziehung einen freien offenen Geist erlauben müsse und die Kinder darum von jeglicher politischer Formung durch Erwachsene geschützt werden müssen: vor religiöser, aber auch politischer Propaganda jeglicher Art.

Neill betrieb keinerlei politische Erziehung, keine Erziehung zur Revolution oder auch nur Erziehung zur Demokratie. Deshalb spielte Politik in seiner Pädagogik in der Tat absolut keine Rolle. Gerade die Konzentration auf die antiautoritäre Pädagogik muss bei Neill auch als bewusste revolutionäre Politik verstanden werden.


4.3.4 Neill und die Religion

Neill war überzeugter Atheist und hegte eine starke und bittere Abneigung gegenüber jeglicher Art organisierter Religion und Kirche: Nur ein Schwachsinniger könne die Bibel für wörtlich wahr halten! Das real existierende Christentum, den Calvinismus seiner Kindheit ebenso wie die katholische Kirche, betrachtete er als Feinde des menschlichen Fortschritts und Glücks. Diese Religion war ihm gleichbedeutend mit gewalttätigem, hasserfülltem, lustfeindlichem, sexualfeindlichem, autoritärem, intolerantem, Furcht verbreitendem Moralismus und dem Schlagen von Kindern. Von strenggläubigen Eltern sprach er deshalb meist mit Abneigung, ebenso von den USA, "diesem christlichen Land" ... "wo jeder ein Schießeisen mit sich herumtragen kann" (NEILL 1982, 163).

Neill sah die ursprünglich liebevolle Religion Jesu als von den herrschenden Klassen mit Kirchen-Privilegien korrumpiert und wandte sich von Anfang an grundsätzlich gegen religiöse (oder antireligiöse) und politische Propaganda jeglicher Art in Schulen. Religionhatte nie Bedeutung in Summerhill, einige wenige Summerhill-Schüler gingen zur Kirche, worum sich niemand kümmerte.

Neill betonte in weltanschaulichen Fragen nicht das Elternrecht auf eine gezielte Erziehung ihres Kindes zu einer bestimmten (ihrer!) Gesinnung hin (wie die katholische Kirche oder das deutsche Gesetz über religiöse Kindererziehung), sondern betonte das Recht des Kindes auf nicht gezielt ausgerichtete und nicht ideologisch eingegrenzte Information und auf eine freie eigene Entscheidung. Deshalb unterband er die Einbeziehung der Kinder in seine eigene politische Aktivität.

Religion (d.h. rechtlich: kirchlicher Bekenntnisunterricht) war in Summerhill nie Schulfach. Aufgrund des Erziehungsreformgesetzes von 1988 (Education Reform Act) wird auch Summerhill nun häufig inspiziert. "Bei ihrem letzten Besuch verpflichteten uns die Schulinspektoren, das Fach Religion anzubieten. Das taten wir, aber keiner kam. Aber angeboten haben wir es!" (READHEAD 1996, 6 [Nr. 39])

Trotz dieser Sicht der Religion schrieb Neill an vielen Stellen zustimmend von der Person und den Lehren Jesu sowie dem Christentum Jesu, dem Kommunismus Jesu, seiner Bereitschaft, alles miteinander zu teilen. Dem Kontext nach sind solche Passagen eindeutig nicht im herkömmlich-religiösen Sinn zu verstehen (der anzubetende Sohn Gottes), sondern rein innerweltlich und unreligiös: Jesus gilt als Mann, der (wie Neill) Liebe, Gewaltlosigkeit und Freiheit predigte und mit seinen Anhängern in Gütergemeinschaft lebte, geradezu das Gegenteil seiner späteren Verehrer in der real-existierenden christlichen Religion und ihren Kirchen. Neill betrachtete Jesus als den ersten und zugleich letzten echten Christen.

In ähnlicher Weise stehen die Begriffe christlich oder wahres Christentum bei Neill als Synonym für ganz allgemeine Menschenliebe. Ebenso leicht zu übersetzen sind die Worte Gott (= Natur) und Erbsünde (= Eingriff in die Natur des Menschen, insbesondere Erziehung). In diesem Sinne äußerte Neill, das religionslose Summerhill sei die einzig wirklich christliche Schule Englands, gerade weil sie keine Religion lehre, und (bevor ihm die stalinistischen Verbrechen bekannt wurden) Sowjetrussland sei das einzig wirklich christliche Land, weil es - ganz im Sinne Jesu - die Kirchen abschaffe und in Kinos oder Lesehallen verwandle.

Neills eigenwillige Verwendung des Begriffs Christentum ist gelegentlich missverstanden worden. So erklärt Hans Hartmut Karg Neill zum christlichen Erzieher mit christlichem Normen- und Gedankengut (in landläufiger, nicht in Neills Bedeutung!) und relativiert Neills Atheismus zur bloßen Bezeichnung, mit der Neill seine Erziehung vor religiöser Vereinnahmung schützen wolle. Karg bestreitet auch jede Radikalkritik im Sinne anarchistischen oder revolutionären Denkens (vgl. KARG 1983, 86 f. mit Anmerkungen S. 279).



Fußnoten

[15] "I'd be very disappointed if a Summerhill child became Prime Minister. I'd feel I'd failed." (Neill in Walmsley 1969, unpaginiert, S. 19)."Ich bin völlig davon überzeugt: Wenn Lyndon Baines Johnson längere Zeit Schüler in Summerhill gewesen wäre, wäre er sicher nicht Präsident der Vereinigten Staaten geworden; um nämlich diese Machtstellung zu erringen, braucht man eine gute Portion Heuchelei, und um sie zu behalten, muss man weiter heucheln." (Neill in Segefjord 1971, 22 f.)

[16] Wilhelm Reich (* 1897) wurde 1920 noch als Student Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft. Nach seiner Promotion zum Dr. med. Mitte 1922 wurde er bis 1928 Erster Klinischer Assistent in der soeben (1922) erst von Freud begründeten Psychoanalytischen Poliklinik in Wien, dann deren Vizedirektor.

Reich suchte nicht mehr einzelne Symptome und Neurosen zu heilen, sondern die Reaktionsbasis dieser Neurosen, den neurotischen Charakter, die typische stereotype Weise des Agierens und Reagierens einer Person.

Bei seiner psychotherapeutischen Arbeit in den (für die Psychoanalyse neuen) ärmeren Bevölkerungsschichten kam er zur Überzeugung, dass die psychischen Probleme der Sexualunterdrükkung entspringen. Er konzentrierte sich stärker auf Sexualität im ursprünglichen (nicht auf jegliche Form der Lust erweiterten) Wortsinn (Genitalität). Reich beobachtete, dass bei Neurotikern stets auch die Lustempfindung gestört ist, insbesondere die sexuelle Lustempfindung als die im Erwachsenenalter wichtigste Lustquelle. Eine gestörte Genitalität steht bei Reich im Zentrum der Neurose. Als absolutes und objektives (physiologisches) Gesundheits- und Heilungskriterium setzte er deshalb die Fähigkeit, lustvolle Befriedigung zu empfinden (orgastische Potenz). Er sah im Orgasmus eine Entladung der vom Körper überschüssig erzeugten Libidoenergie. Sofern diese Energie nicht entladen, sondern dauerhaft gestaut werde, speise sie neurotische Symptome.

Er beschäftigte sich mit sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen und verknüpfte die Psychoanalyse mit sozialen und politischen Bestrebungen, war zeitweilig auch Mitglied der Kommunistischen Partei. Im 1929 erschienen Buch Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse suchte er Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden.

1929 gründete er die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung mit einer kostenlosen Sexualberatungsklinik für Arbeiter und Angestellte in den ärmeren Vierteln Wiens. Die meisten Besucher waren Ledige, schwangere Mädchen sowie Jugendliche, die Rat bei der Empfängnisverhütung suchten und von den amtlichen Stellen abgewiesen wurden. Hauptthemen waren die Beratung zur (sexualitätsbejahenden) Kindererziehung, Sexualerziehung, Geburtenkontrolle (Empfängnisverhütung, Abtreibung), Ehe- und Sexualberatung.

Im Jahr 1930 zog Reich nach Berlin und konzentrierte sich stark auf politische Arbeit und seine Politische Psychologie. Sein als Unterorganisation der KPD gegründeter Verband SEXPOL (SEXual POLitik) bzw. Deutscher Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik wurde schon nach einigen Monaten von der Parteileitung wieder liquidiert. Dieser forderte u. a. Gesetzesänderungen bei Eheschließung, Abtreibung und Homosexualität, Heimurlaub für Strafgefangene und freie Empfängnisverhütung für Jugendliche (Vgl. Gente 1970).

Reich floh nach Skandinavien und emigrierte 1939 in die USA, wo er zunächst an der New School for Social Research in New York lehrte, bevor er in Maine ein eigenes Forschungszentrum gründete.

Reich suchte von Anfang an nach einer physischen Fundierung der psychischen Triebenergie Libido und glaubte sie physikalisch als Orgon-Energie entdeckt zu haben, die er in Orgon- Akkumulatoren (mit diversen Metall- und anderen Schichten überzogene Räume/Kisten) aufzufangen und zu messen suchte. Er experimentierte ebenfalls mit der Beeinflussung von Atmosphäre und Wetter. Seine physikalischen Ergebnisse und Theorien sind extrem umstritten. Literatur zu Person und Arbeit Reichs: Ollendorff-Reich (1975); Laska (1981); Boadella (1983); Neill (1983).

[17] Sigmund Freud hatte 1920 unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges einen angeborenen Aggressionstrieb und später einen Todestrieb postuliert, eine angeborene Feindseligkeit des Menschen, und hatte Leiden und Leidenmachen demgemäß als unumgänglich angesehen. Diese natürliche Feindseligkeit sollte durch eine konservativ-hierarchische, durchaus autoritäre Gesellschaft unterdrückt werden. Dem entsprach Freuds Vorstellung einer nicht zu beseitigenden natürlichen Ungleichheit der Menschen, und dass die Masse der Abhängigen einer Autorität bedürfen. Freud und die an ihm orientierte psychoanalytische Pädagogik betonten nicht Triebbefreiung, sondern Triebeinschränkung, Triebbeherrschung, Verbot und Triebhemmung, allerdings in möglichst unschädlichen Formen: als Ablenkung, Umlenkung, Triebsublimierung.

[18] In der relativ freien frühsowjetischen Phase übernahm der Sowjetstaat in seinen Gesetzen und Dekreten die allermodernsten Konzepte, während andere europäische und amerikanische Länder erst darüber redeten: Montessorierziehung, Rhythmische Gymnastik, allgemeine Koedukation, Selbstregierung, Arbeitsschule, generelles striktes Verbot der Körperstrafen, Abschaffung der Schuluniformen und der Hausaufgaben, die Abschaffung des Religionsunterrichts in staatlichen Schulen, die Gleichstellung und Gleichbezahlung aller Lehrer.

Das Sexual- und Familienrecht entsprach weitgehend Reichs Forderungen, ebenso die (eher durch Krieg, Bürgerkrieg und Gesellschaftsumwälzung als durch Gesetz bewirkte) starke Familienauflösung.

Viele Reformen wurden allerdings nur äußerst unvollkommen in die Praxis umgesetzt. Angesichts des extremen Mangels und der mangelhaften Ausbildung des Personals ist ein massiver Wandel der tatsächlichen Erziehungspraktiken unwahrscheinlich.

Die mangelnde Umsetzung und schließlich Rücknahme der Reformen wurden im Ausland nur sehr langsam bekannt. Die meisten Enthusiasten (wie Neill) glaubten es über lange Jahre nicht und wollten es auch nicht glauben. Ende der 20er Jahre unter Stalin wurden die Reformen ganz gestoppt und zurückgenommen. Sogar die Koedukation wurde abgeschafft, um die Geschlechter getrennt zu soldatischen Männern und mütterlichen Frauen zu erziehen.

[19] Beide waren aus kleinen Verhältnissen stammende Volksschullehrer, freiheitliche Sozialisten,international denkende, mit feministischen Ausländerinnen verheiratete Kriegsgegner, die sich stark mit Tiefenpsychologie befassten und - mit Schwerpunkt radikal freiheitlicher Kindererziehung - sich als Herausgeber pädagogischer Zeitschriften und als pädagogische Schriftsteller betätigten. Über Otto Rühles kurzfristige eigene Heimerziehungspraxis 1918-1920 im Kindererholungsheim der I. A. H. (kommunistische Internationale Arbeiter Hilfe) im Waldhaus in Mulda/Erzgebirge ist kaum etwas bekannt (vgl. Maneck 1976, 11).

Rühles Argumentation wurde von Otto Felix Kanitz (in der österreichischen sozialdemokratischen Kinderfreunde- und Falken-Bewegung) weitergeführt und gelangte auf diesem Wege gegen Ende der 20er Jahre auch in die deutsche Kinderfreunde- und Falkenbewegung von Kurt Löwenstein mit ihren riesigen Sommerzeltlager- Kinderrepubliken. Kanitz war ebenfalls ein für die antiautoritäre Bewegung der 60er Jahre wesentlicher Pädagoge.

Die einzig nachweisbare Verbindung zwischen Neill und Rühle ist der Schulleiter der Volksschule Hellerau, Max Nitzsche, der 1922 auch Mitglied des Aufsichtsrats der von Neill mitgegründeten Neue Schule AG war und der in Rühles Zeitschrift Das proletarische Kind schrieb (2.1926,6: 129 ff.). Diese Zeitschrift forderte ausdrücklich Kinderrepubliken, berichtete aber nur über die von Paul Felix Lazarsfeld und Ludwig Wagner, aber über keine andere (2.1926, 1: 8 ff., 13 ff); auch nicht über die in unmittelbarer Nähe gelegene Ausländerabteilung Neills in Hellerau.

[20] Wera Schmidt leitete während der relativ liberalen Erziehungspolitik vor der Stalin-Ära das am 21.8.21 gegründete, psychoanalytisch orientierte Kinderheim-Laboratorium in Moskau mit dreißig ein-bis fünfjährigen Kleinkindern. Das Heim (eher: die Psychoanalyse selbst) wurde bereits nach drei Monaten aufgrund von dramatischen sexuellen Gerüchten Gegenstand einer offiziellen mehrmonatigen Untersuchung und sollte unter technischen Vorwänden geschlossen werden, wurde jedoch ab April 1922 in verkleinerter Form von deutschen und russische Bergarbeiterverbänden und dem neu gegründeten staatlichen Institut für Psychoanalyse übernommen. Unter dem Druck der Gegner musste es schließlich schließen.

[21] Erst am 23. Juli 1986 wurden mit der geringstmöglichen Parlamentsmehrheit von einer Stimme und gegen den entschiedenen Widerstand des Erziehungsministers der (bis dahin amtlich gelieferte) Rohrstock und die förmliche Prügelstrafe in öffentlichen Volksschulen Englands abgeschafft. Dieser Beschluss bezieht sich nur auf Rohrstöcke, nicht auf Ohrfeigen etc. (vgl. Caning in State Schools... 1986). Nach Meinungsumfragen befürworten derzeit 68% der Briten die Wiedereinführung des Rohrstocks in Schulen. Über eine von der Erziehungsministerin betriebene Wiedereinführung des Rohrstocks sollte Anfang 1997 im Parlament abgestimmt werden (vgl. Bebber 1996, Luyken 1996, Rohrstock erwünscht 1996).