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Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
Zurück: 9a Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich
Fortsetzung: 10. Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der Selbstregulation und 11. Ausblick/Resümee und Literaturverzeichnis




9.3. Institutionelle Erziehung

9.3.1. Die Bedeutung der Selbstregulation in der Kindergartenpraxis

Der Kindergarten ist in unserer Gesellschaft zumeist die erste öffentliche Institution mit der ein Kind in Berührung kommt und somit auch die erste größere Gruppe, welche es kennenlernt. Die Institution Kindergarten ist das erste Bindeglied zwischen dem Individuum und der Gesellschaft und hat daher einen grundlegende Einfluß auf das Kind und wie es sich später als Mitglied dieser Gemeinschaft erlebt. In ihm erfährt es, wer und was in unserer Gesellschaft zählt. Diese Normen und Wertigkeiten (z.B. geschlechtsspezifisches Rollenverhalten) bzw. die Erfahrungen, welche die Kinder im Kindergarten machen, strukturieren u.a. ihre Herangehensweise an die nächste Phase ihrer Biographie. Es ist daher, für Eltern, Erzieher und Sozialpädagogen in besonderem Maße relevant, wie sich die Gesellschaft im Kindergarten präsentiert und wie sich das Kind als Mitglied dieser Gemeinschaft erlebt.

Eines der wichtigsten Ressourcen in der selbstregulativen Kindergartenarbeit, ist wohl die Tatsache, dass wir als Erziehende unsere Kinder und uns selbst nicht mehr einem solchen Erziehungsdruck- bzw. Zwang aussetzten müssen, wenn wir von der Tatsache ausgehen, dass Kinder mit allen wichtigen und positiven Anlagen bereits auf die Welt kommen und dass es darum geht, diese als Erziehenden zuzulassen und wachsen zu lassen. In dieser Grundhaltung steckt viel Achtung und Akzeptanz bezüglich der Individualität und persönliche Entwicklung von Kinder, sowie eine Gleichwertigkeit zwischen Erziehenden und Kindern.

Erzieher können ebensowenig wie Eltern explizit wissen was Kinder wollen und was gut und richtig für sie ist. Kinder haben da individuell sehr unterschiedliche Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse, die sie innerhalb der Gemeinschaft auch durchaus äußern können, wenn sie frühzeitig die Erfahrung machen, dass man sie ernst nimmt und als ein Mitglied der Gemeinschaft wertschätzt. Ebenso sollten Erzieher grundsätzlich akzeptieren, dass Kinder im Kindergartenalter eine andere (ihre individuelle) "Art" haben, sich an Entscheidungen zu beteiligen, sich einzumischen oder eigenes einzubringen als Erwachsene. Zumeist hilft diesbezüglich die konventionelle Demokratievorstellung der Erwachsener nicht sonderlich weiter.

Kinder in diesem Alter brauchen auch einen geschützten Rahmen, um sich im Zusammenleben mit anderen Kindern ausprobieren zu können. Sie stehen mitten in einem Lern- und Entwicklungsprozeß, bei dem sie sowohl Schutz eines Erziehers, als auch die Zuneigung, Resonanz und liebevoll achtende Begleitung bei den ersten tastenden Schritten dringend benötigen. Ebenso leben sie aber auch in einer ganz subjektiv erlebten Wirklichkeit, folgen zu jeder Zeit den persönlichen Motivationen und nehmen diese als solche wahr. Sie möchten gerne ihr Leben gemäß und unter Aufbietung aller bis dahin jeweils erworbenen Fähigkeiten selbst bestimmen. Sie wollen für sich und andere Verantwortung übernehmen, ihre Lebensbedingungen aktiv mitgestalten und sie wollen Einfluß besitzen und dessen Wirkung erleben. Diese eigene Wahrnehmung, die "subjektive Gegenwart des Kindes" sollte sich der Erzieher nicht nur bewußt sein, sondern er sollte sich auch um Partizipation und Anteilnahme an der Welt des Kindes bemühen. Gleichzeitig sollte der Erzieher auch das Kind an seinen Gedanken teilhaben lassen (wobei jeder das Ausmaß wann, in welcher Form und wie weit er sich öffnen möchte selbst bestimmen muß).

Diese Partizipation, verbunden mit der Tatsache, dass selbstregulative Erziehung durch die Bedürfnisse des Kindes bestimmt wird (nicht durch Dogmen), bilden die Basis auf der das Prinzip der Selbstregulation im Kindergartenalltag verwirklicht werden kann.

9.3.2. Die praktische Umsetzung des Prinzips der Selbstregulation am Beispiel eines öffentlichen Kindergartens unter der Leitung von Anne Walcher

Der erste mir bekannte Kindergarten, der bewußt nach dem Prinzip der Selbstregulation arbeitete, entstand 1985 in Egg an der Günz (eine kleine kath. Gemeinde mit ca. 2000 Einwohnern, etwa 15 km entfernt vom Memmingen). Der Träger dieses öffentlichen Kindergartens war die Gemeinde.

Die Kindergartenleitung besaß Anne Walcher. Sie arbeitete bereits seit 1979 als Erzieherin in leitender Position in dem damals eingruppigen Kindergarten (gemeinsam mit einer Vorpraktikantin betreute sie damals 32 Kinder). Wie ich aus persönlichen Gesprächen mit ihr erfahren konnte, orientierte sich ihre pädagogische Arbeit in den Jahren von 1979 - 1985 an ganzheitlichen Leitzielen, aber nicht an einer konkreten Theorie. Anne Walcher hat ein großes Herz für Kinder und sie arbeitete mit viel Lust und Freude mit den Kindern. Als pädagogische Leitlinie orientierte sich Fr. Walcher bereits damals primär an den Bedürfnissen der Kinder. Ausgangspunkt war für sie ihre eigenen positiven freiheitlichen Kindheitserfahrungen, wodurch sie auch eine große Empathie für die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder entwickeln konnte. Ihr Ziel war bereits damals nicht die Anpassung der Kinder an die Anforderungen der Erwachsenenwelt, sondern primär das Glück der Kinder, was wiederum die Basis bildete für ein stabiles Selbstbewußtsein der Kinder, ein stetes Verantwortungsgefühl für sein Umfeld und ein positives soziales Verhalten.

Dieser freiheitliche, gefühlsvolle und emphatische Umgang mit den Kindern wurde 1985 theoretisch untermauert. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Klaus Heimann (Vater eines damaligen Kindergartenkindes, Dipl. Pädagoge, Heilpraktiker und Vorsitzender des Zentrums für Orgonomie) stieß Anne Walcher 1985 auf Wilhelm Reich und das Erziehungsprinzip der Selbstregulation. In den folgenden sieben Jahren arbeitete der Kindergarten sehr erfolgreich nach diesem pädagogischen Modell. Es gab fortan zwei Gruppen, die Gruppengröße variierte zwischen 18 - 25 Kinder. Die einzelnen Gruppen waren jeweils mit einer Erzieherin und einer Vorpraktikantin besetzt.

Der Kindergarten besaß einen sehr geringen finanziellen Etat. Die Räumlichkeiten, wie auch deren Ausstattung war nicht frisch renoviert, es gab wenig Spielzeug. Diese an sich bedauerliche Tatsache birgt jedoch auch einen erheblichen Vorteil für die Kinder in sich. Kinder legen sehr oft ohnehin wenig Wert auf Äußerlichkeiten und können sich freier verhalten, wenn sie nicht permanent aufpassen müssen etwas schmutzig zu machen bzw. keinen Kratzer in das teure Inventar zu machen. Ebenso besaßen sie dadurch vermehrten Einfluss auf die gemeinsamen experimentellen Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Räumlichkeiten.

Die Knappheit des Spielmaterials führte dazu, dass Kinder in ihrer Kreativität gefordert waren Alternativen zum herkömmlichen Spielzeug zu suchen (z.B. das Spielen mit selbst gefundenen Naturmaterialien, Yoghurtbecher etc.). Wenn Fr. Walcher Spielzeug bestellte, so nahm sie die Auswahl gemeinsam mit den Kindern vor. Oftmals wurde in der Gruppe darüber diskutiert oder abgestimmt, was angeschafft werden sollte. Da die finanziellen Möglichkeiten oft nicht ausreichten, kamen die Kinder auf die Idee ihre eigenen gebastelten Objekte zu verkaufen und von diesem Erlös dann die Spielsachen zu kaufen. Diese Praxis zeigte auch, dass die Kinder fortan einen engeren Bezug zu diesem Spielzeug bekamen, es besaß eine größere Wertigkeit und sie gingen behutsamer damit um.

Damit Kinder ihre emotionalen Entwicklungsschritte vollziehen können, brauchen sie eine gefestigte, sichere und liebevolle Bindung zu einer erwachsenen Bezugsperson, sowie eine geborgene Atmosphäre. Die Rolle der Erziehenden im selbstregulativen Kindergarten in Egg war sehr bewußt und aufmerksam bezüglich den emotionalen Bedürfnissen der Kinder. Eine aufrichtige Anteilnahme, eine lebensbejahende Grundhaltung, Offenheit und die Fähigkeit zu Empathie sind die persönlichen Vorraussetzungen, damit Selbstregulation im Kindergartenalltag auch umsetzbar sein kann. Anne Walcher betont zudem die wichtige Bedeutung, sich als Erziehenden sowohl von dem permanenten Erziehungszwang, als auch von einem pädagogischem Perfektionismus zu lösen. Es ist besonderst für pädagogische Fachkräfte nicht immer einfach sich von den normativen Erwartungshaltungen der Gesellschaft frei zu machen und die Kinder nicht gemäß unseren eigenen Wünschen und "pädagogischen Richtlinien" zu fördern. Erwachsene glauben viel zu oft genau zu wissen was gut oder schlecht ist für das Kind. Kinder sind aber individuell sehr verschieden, haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Erzieher sollten diese Differenzen und auch Ambivalenzen der Kinder wahrnehmen, um sie dann so anzunehmen wie sie sind.

Für Kindergartenkinder ist es zudem wichtig, die zumeist erste enge Bezugperson ausserhalb der Familie als "normalen" und nicht "perfekte" Menschen erleben zu können. Im Kindergarten in Egg reflektierten die Erzieherinnen ihre eigene Rolle immer mal wieder unter den Gesichtspunkten der Echtheit und Authentizität, das bedeutet, dass sie sich mit all ihren Gefühlen, Stärken und Schwächen zeigen durften und sollten, einschließlich ihren Ambivalenzen (dazu gehört u.a. auch den Kindern gegenüber die eigene Wut zum Ausdruck bringen zu können, wenn z.B. ein Kind von anderen ausgelacht oder diskriminiert wird).

Bereits vom ersten Kindergartentag an zeichnet sich die Grundhaltung des Erziehers bezüglich dem Kind ab. Ein Kind das neu in den Kindergarten kommt benötigt zunächst ausreichend Zeit, um sich von den Eltern zu lösen und um Kontakt zu neuen Personen knüpfen zu können. Dies ist oftmals ein erster und wichtiger Schritt in Richtung Autonomie des Kindes und wird zumeist von Verlustängsten und Trauer begleitet. Diese Gefühle empfindet das Kind meist als sehr bedrohlich und existentiell. Fr. Walcher wies darauf hin, dass diese Emotionen von der Erzieherin unbedingt ernst genommen und geachtet werden müssen (und nicht etwa durch hektische Aktivität übergangen oder davon abgelenkt werden). Auch die kindliche Ambivalenz des langsamen Vortasten und des oftmals gleichzeitigen Rückzugs aus der neuen Situation, welches besonderst in der Eingewöhnungsphase auftritt, wurde in diesem Kindergarten respektiert, ohne die Kinder zu manipulieren oder ihnen den Rückzug zu verwehren. Erfährt ein Kind in dieser Phase Achtung und Respekt, kann es die Sicherheit aufbauen, welche es als Stütze für die folgenden Erlebnisse braucht.

Manchmal wurde Kindern das Kennenlernen der anderen Kinder erleichtern, indem man spielerisch und auf freiwilliger Basis Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der jeweiligen Person sichtbar werden ließ. Dabei ist weniger das Aussehen oder Verhalten gemeint, sondern das innere Erleben (was mag das Kind gerne; was ärgert es; worüber freut es sich; was macht ihm Angst; wann wird es wütend etc.). Kinder lernen so nicht nur sich in andere Kinder besser rein zu versetzen und sie dadurch besser kennen zu lernen, sie lernen auch sich selbst bewußter wahrzunehmen und den eigenen Gefühle und Bedürfnisse Raum zu geben und auszudrücken.

Die Betreuer in Egg verstanden sich nicht als die Unterhalter der Kinder, die ständig irgendwelche Spiel- oder Bastelangebote bereit halten müssen (keine Angebotspädagogik). Die Kinder sollen durchaus eigene Ideen hervorbringen und sich an deren Verwirklichung beteiligen, während die Betreuer zunächst abwartend im Hintergrund bleiben. Erst wenn die Kinder nicht mehr weiter wissen oder Hilfe suchen, brachte sich die Erzieherin ein. Sie spielte auch sehr gerne mit, wenn sie und die Kinder dies wollten. Die Erzieherinnen bereiteten auch Spielangebote vor, jedoch wurde kein Kind gezwungen, dabei mitzumachen. Wollte ein Kind ein Angebot der Erzieherin nicht annehmen (z.B. im Stuhlkreis, Singen, Basteln etc.), was sein gutes Recht war, so muss es nicht mitmachen, es sollte jedoch akzeptieren, daß es sich in der Zeit des Spielangebots selbst beschäftigen muss und nicht stören darf.

Vor allem auch im Kindergarten von Anne Walcher, bekamen die Kinder zudem die Möglichkeit ihre altersgemäßen Grundbedürfnisse frei ausleben zu können. Diese sind neben Essen und Trinken (ohne geregelte Frühstückszeiten, sondern je nach Hunger oder Gelüste), auch das Bedürfnis nach frischer Luft, Ruhe bzw. Rückzug (ohne permanente Kontrolle), Spielen, Forschen, Experimentieren, Zärtlichkeit in jeder Form, sowohl Schmusen, als auch Dokterspiele, Toben, Balgen, Nackt- und Laut sein (Kinder durften selbstverständlich laut sein und toben, mußten aber in Kauf nehmen, dass dies mit den Interessen der Anderen unter Umständen kollidierte. Gegebenenfalls ging man sich dann aus dem Weg. Entweder sie gingen nach draußen oder in einem anderen Raum, oder die Anderen).

Neben dem Bedürfnis nach Ordnung, Regeln und Sauberkeit, die dem Zusammenleben dienlich sind, durften auch Wünsche, wie dreckig und unordentlich sein zu wollen, bis hin zum gelegentlichen Chaos, gelebt werden. Es wurde festgestellt, dass sich oft erst über diesen Schritt Kreativität in der Gruppe sich entfalten konnte. Jedoch am Ende des Kindergartentages sollten sie wieder aufräumen, falls nichts anderes gemeinsam beschlossen wird (sie halfen dabei meist recht gerne, wurden aber nicht dazu gezwungen aufzuräumen). Weitere Grundbedürfnisse die befriedigt wurden waren: Befriedigung der Neugierde, Lernen (d.h. Lernen als Folge des aktiven Tuns, des Erfahrens von Sinnzusammenhängen) und Erlebnisse in der Gruppe.

Bei dem Prinzip der Selbstregulation, geht es wie auch in der Lebensform der Demokratie um das Aushandeln von unterschiedlichen Interessen. Oftmals ergaben sich allein durch die differierenden Kinderwünsche Frustrationen, welche nur mit Hilfe von Erwachsenen (oder eines vertrauten älteren Kindes) und deren echter Anteilnahme zu bewältigen waren. Kinder erleben und lernen sich innerhalb dieser Gruppenprozesse zurechtzufinden und ihre persönliche Position darin zu finden. Sie lernen sich zu behaupten, nachzugeben, Kompromisse einzugehen und ihre Konflikte untereinander eigenständig zu lösen. Kam es innerhalb von Streitgesprächen zu Aggressionen, Wut oder Trauer, so sollten diese Gefühle unbedingt ausgedrückt werden dürfen, auch durch Lautstärke (sich anschreien) oder durch körperlichen Ausdruck (aufstampfen, toben, weinen etc.).

Falls es jedoch in einem Konflikt zu einem starken Machtgefälle kam, bzw. die Kinder mit der eigenen Konfliktlösungen die eigenen Grenzen stießen, erachtete es Anne Walcher als sinnvoll als Vermittler zu fungiert (sie fragte dann abwechselnd die Kinder nach den Beweggründen des Gefühlsausbruches und leitete dadurch ein klärendes Gespräch beider Parteien in die Wege). Fr. Walcher legte dabei den besonderen Schwerpunkt darauf, dass die Kinder eigenständig ihre individuellen Lösungsmodelle entwickeln konnten. Diese mußten nicht mit der Vorstellungen der Erzieherinnen korrelieren; Kinder sollten diesbezüglich experimentieren mit welcher Form von Konfliktlösung sie am besten klar kamen, diese individuelle Entscheidung wurde dann von den Erzieherinnen akzeptiert.

Ziel des Kindergartens war es nicht brave und angepasste Kinder zu erziehen (die Kinder dieses Kindergartens galten z.B. in der ortsansässigen Grundschule als besonderst selbstbewußt und aufmüpfig, was bei manchen Lehrern auf Kritik stieß, von anderen Lehrern aber auch sehr geschätzt wurde). Es ging auch nicht um die Vermittlung von Normen, starren Regeln und kognitive Wissensvermittlung, um den Einstieg in das Schulsystem zu erleichtern, sondern das Ziel dieses Kindergartens war es freie, selbstbewußte und glückliche Kinder heranwachsen zu lassen. Die wichtigste Voraussetzung für die freie Entwicklung und Entfaltung der kindlichen Lebenskraft ist die emotionale Lebendigkeit, der freie Ausdruck der Gefühle.

Um Mißverständnisse bezüglich der pädagogischen Arbeit des Kindergarten auszuräumen, mußten die Eltern sowohl informiert werden, als auch möglichst aktiv in das Kindergartengeschehen eingebunden werden. Aus diesem Grund fanden regelmäßig alle zwei Wochen gesellige Elternabende statt. Ziel war es die Eltern auch emotional in die Arbeit des Kindergartens mit einzubinden z.B. in Form von gemeinsamen Zeltlagern, Theaterspiele mit und für die Kinder, gemeinsame Faschingsbälle etc. Zudem wurden die Eltern eingeladen sich an der alltäglichen Kindergartenarbeit aktiv zu beteiligen, das Geschehen zu beobachten, mit zu diskutieren (Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Wertschätzung bildeten also nicht nur das Fundament in der Arbeit mit den Kindern, sondern auch das der Elternarbeit). Fr. Walcher berichtete, dass diese Treffen zumeist sehr familiär waren, oft auch lustig und zahlreich besucht wurden.

Sowohl die Eltern, als auch die damalige Gemeinde war mit dieser ganzheitlichen Pädagogik der Selbstregulation sehr zufrieden, nicht zuletzt auch deshalb weil die Erzieherinnen einen sehr liebevollen, toleranten und wertschätzenden Umgang mit den Kindern pflegten und die Kinder sehr gerne in ihren Kindergarten gingen. Die Kinder besaßen zudem auch ein auffallend positives Sozialverhalten (nach Auskunft von Anne Walcher wurden in ihrem Kindergarten keine Kinder (auch keine jüngeren) von anderen ausgegrenzt, Schwächere wurden selbstverständlich integriert, die Meinungen anderer wurde geachtet).

Es wurde auch unter den Eltern oft konstruktiv diskutiert; auseinander trifftende Meinungen gab es vor allem bei den Themen: Sexual- und Religions- bzw. Ethikerziehung.

Nach sieben Jahren erfolgreicher Arbeit endete jedoch dieser Modellversuch im Jahre 1992. Grund dafür war, dass Anne Walcher sich sowohl aus persönlichen Gründen, als auch aus politischen Gründen aus dem Arbeitsleben zurückzog (durch einen politischen Rechtsrutsch bzw. einen Bürgermeisterwechsel wurde ihr zukünftig die nötige Unterstützung ihrer Arbeit innerhalb der Gemeinde sehr erschwert). (diese Informationen entstammen einem Gespräch, das ich mit Anne Walcher am 29.06.2002 führte)

9.3.3. Die Bedeutung des Prinzips der Selbstregulation in der Schulpraxis

"Wenn du mit anderen ein Schiff bauen willst, so beginne nicht, mit ihnen Holz zu sammeln, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer."

Antoine de Saint-Exupèry

Der 4. Dezember 2001, der Tag der Veröffentlichung der Pisa-Studie, wurde zu einem schwarzen Tag des veralterten dreigliedrigen deutschen Schulsystems. Seither ist Bildungsreform wieder ein sehr aktuelles hochbrisantes und politisches Thema. Leider wird diese Diskussion nicht ressourcenorientiert, sondern vielmehr destruktiv, in Form von gegenseitigen Schuldzuweisungen geführt (mal ist das Schulsystem schuld an dieser Misere, mal die Lehrer, die Schüler, das Elternhaus, das soziale Umfeld etc.). Durch diese starre Problemfixierung werden sowohl Lehrer, als auch Schüler einem massiven Leistungsdruck- bzw. Stress ausgesetzt. In den zumeist kontraproduktiven Diskussionen über das erstarrte, normative Wettbewerbs- und Leistungsniveau im Bildungssystem werden die Kinder mit ihren unterschiedlichen und positiven Potentialen nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn wertgeschätzt. Die Wertschätzung eines Kindes wird in unseren Systemen primäre durch dessen meßbare Leistungen bestimmt. Das Resultat dieser Entwicklung sollte alarmierend sein: eine stetig wachsend Anzahl von Kindern mit Schulschwierigkeiten und psychisch bedingten Lernstörungen, vermehrte Schulverweigerungen, massiven Aggressionen, sprunghafter Anstieg von Versagensängste, Schuldepressionen und Selbstmorden unter Kinder und Jugendliche u.s.w.

Kinder sind von Natur her wissensdurstig, sie wollen lernen, sie wollen sich selbst und ihre Umwelt erfahren. Dieses grundsätzliche Bedürfnis der Kinder nach ganzheitlichem Lernen ist eine enorm große Ressource, auch wenn Kinder in ihrem individuellen Tempo lernen, ihre bevorzugten Interessen in unterschiedlicher Reihenfolge nachgehen möchten und das Lernen in ihr unmittelbares Lebensumfeld integrieren wollen (im Gegensatz zu dem starren, rein kognitivem Lernen). Kinder können sich völlig ihren Interessen hingeben, sie können sich mit sehr viel Ausdauer und Kreativität über lange Zeiträume hinweg an gewissen Tätigkeiten erfreuen und diese dann auch bis ins kleinste Detail erforschen. Kinder lernen gerne im Spiel, im spielerischen Forschen und Experimentieren, sie lernen ebenso durch ihre sozialen Kontakte. Jeder Lernvorgang ist für Kinder eingebettet in das emotionale Erleben. Je jünger die Kinder sind, um so stärker gilt dies für das Lernen. Lernvorgänge werden von persönlichen Gefühlen und Bedürfnissen begleitet und werden mitgeprägt durch die sozialen Bezüge in der (Lern-)Gruppe.

Durch diese Spaltung und die unterschiedliche Wertigkeit von Intellekt und Gefühl, wird die Frage nach dem emotionalen Wohlbefinden in der Schule verdrängt - die Frage an die Lehrer: Wie fühlen Sie sich beim Unterricht? Und die Frage an die Schüler: Wie fühlt ihr Euch hier im Unterricht?

Aufbauend auf der ehrlichen Beantwortung dieser beiden Fragen, verbunden mit den daraus resultierenden Konsequenzen, könnte sich einiges im unserem Schulsystem zum Positiven wenden.

9.3.4. Grundgedanken A.S. Neills und Ziele der Schule "Summerhill"

Alexander Sutherland Neill wußte bereits 1921, als er die Schule "Summerhill" in Leiston/England, gründete, um dieses lebensbejahende Potential der Kinder. Seine Vision war "die Schule kindergeeignet zu machen - nicht die Kinder schulgeeignet" (Neill 1969 : 22). Dabei hatte die psycho-soziale Entwicklung für Neill eindeutig Vorrang; das heißt wenn man Kindern die Möglichkeit bietet sich emotional stabil, ausgeglichen und lebensfroh entwickeln zu können, lernen sie gerne und aus innerer Motivation heraus.

Er vertrat mit großer Leidenschaft die These "Freiheit ist möglich".

Neill glaubte an das "Gute im Kind" (nicht in moralischem Sinn, sondern ehr im Sinn von natürlich), er war überzeugt davon, dass jedes Kind dadurch auch "richtig" handelt. Aus diesem Grund erstellte Neill keine verbindliche Theorie für die allgemeinen Bedürfnisse eines Kindes, sondern stellte vielmehr die individuellen, subjektiven Interessen des Einzelnen in den Vordergrund. Ihm war wichtig die Kinder nicht durch moralische oder normative Vorschriften und Verbote zu formen (wie es in der gängigen Pädagogik so üblich war und ist), er war der Ansicht, dass kein Mensch klug genug ist, dass er anderen vorschreiben kann, wie sie zu leben haben. Für Neill war jedes Kind ein vollwertiger Mensch, der für sich selbst Verantwortung übernehmen kann. Nach dieser Überzeugung lebte und handelte er.

Wertigkeiten wie Intelligenz, Geschick, geistiges Niveau, Kreativität waren ihm durchaus wertvoll, aber sie sollten nicht an erster Stelle stehen. Sie sollten weder Selbstzweck sein, noch das Leben beherrschen dürfen. Neills Erziehungsziel war es, Kinder aus sich heraus wachsen zu lassen, die lebendig, emotional und glücklich sein durften. Dieses Ziel konnte, nach Neills Meinung nur realisiert werden, wenn man Kinder die Möglichkeit gibt ihre psychischen Bedürfnisse und Fähigkeiten auszuleben. Er verzichtete grundsätzlich auf disziplinarische Maßnahmen, auf Lenkung, suggestive Beeinflussung und auf jede ethische und religiöse Erziehung. Bestrafung erzeuge seiner Meinung nach Angst und Angst erzeuge Feindseligkeit und Heuchelei. Auch wenn diese Feindseligkeit oft nicht bewußt oder offen ist, lähmt sie trotzdem die Kraft und Echtheit des Gefühls und beeinträchtigt dadurch die gesunde psychische Entwicklung von Kinder. Auch das Vermitteln von Schuldgefühlen, hat nach Neill die Bedeutung, Kinder an Autoritäten zu binden und Ängste zu schüren.

Neill ging von dem Nichtvorhandensein der Selbstlosigkeit beim Kind aus, d.h. er meint ein Kind könne noch nicht lieben, wie ein reifer Mensch liebt. Von daher fand er es falsch, solche Selbstlosigkeit von Kindern zu erwarten.

Er gab jedem einzelnen Kinder die Zeit und den Raum den es zu seiner individuellen Reifung und seinem Wachstum brauchte und war der Meinung, dass man dieses Wachstum nicht beschleunigen konnte, sondern dass nur angemessene Fürsorge, Geduld und Verständnis zu einem guten Ziel führen konnten (jedes Kind sollte seine Entwicklungsphase ausleben können, bis es reif für die nächste ist).

Neill klassifizierte nicht in "böse" und "gute" Kinder, für ihn gab es glückliche und unglückliche Kinder. Ein schwieriges Kind war demnach auch immer ein unglückliches Kind. Die Ursache dafür sah Neill in den äußeren Zwängen; seiner Überzeugung nach weiß jeder Mensch was gut für ihn ist und was ihn glücklich macht, vorrausgesetzt, er hat die Freiheit, er selbst zu sein.

Respekt und Rücksicht sind bei Neill die wesentlichen Elemente der freien und selbstregulativen Erziehung und nicht deren Begrenzung. Es war Unsinn, wenn Leute behaupteten "In Summerhill dürfe jedes Kind tun was es wolle" Neill unterschied eindeutig zwischen Freiheit und Zügellosigkeit (zur Freiheit gehört im Gegensatz zur Zügellosigkeit, Selbstbeherrschung. Selbstbeherrschung definierte er als die Fähigkeit sich in andere hineinversetzen zu können und deren Rechte zu respektieren). Unter Zügellosigkeit verstand Neill die Beeinträchtigung bzw. Störung der Freiheit der anderen; wobei er betonte, dass sich dieses Verhalten nur innerhalb einer Beziehung definieren lasse, da nur die Betroffenen selbst beurteilen können, ob das Verhalten nun ihre Freiheit einschränkt oder nicht. (zusammengefaßt aus: Neill1995 : 9-22, Neill 1970: 105-270)

Bezüglich seiner eigenen Rolle als Pädagoge zeichnete er sich durch den Grundsatz aus, nie eine Lüge zu gebrauchen bzw. durch die unbedingte Aufrichtigkeit und Echtheit in seinen Beziehungen zu den Kindern.

Auch nach dem Tod der Gründerpersönlichkeit Neills 1973 existiert Summerhill mit der selben Schul- bzw. Lebensphilosophie (Die Schule gibt es nun bereits über 80 Jahre!!). Zunächst wurde sie von Neills zweiter Ehefrau Ena und seit 1985 von deren gemeinsamen Tochter Zoè Readhead weitergeführt.

9.3.5. Wie die Grundsätze des Prinzips der Selbstregulation im täglichen Schulalltag realisiert werden können: Die Schule "Summerhill"

9.3.5.1. Allgemeines und Rahmenbedingungen Summerhills

Summerhill ist bis heute eine freie unabhängige Schule und wohl auch die weltweit älteste demokratisch organisierte Gemeinschaft von Kindern.

Es leben dort im durchschnitt 90 Schüler unterschiedlicher Nationen im Alter von 8-17 Jahren (das Mindestalter zur Aufnahme liegt bei 6 Jahren, Kinder die älter als 12 Jahre sind, werden aus verschiedenen Gründen meist nicht mehr aufgenommen), darunter sind auch einige Tagesschüler aus der näheren Umgebung. Die Schüler werden in drei bzw. vier verschiedene Altersstufen aufgeteilt, die jeweils von Vollzeit-Hauseltern betreut werden. Insgesamt gibt es etwa 15 angestellte Erwachsene, die unmittelbar mit den Kindern leben und für deren Wohlbefinden sorgen. Zusätzlich arbeitet ein Tagespersonal an der Schule, das für die Reinigung und die Küche zuständig ist. Drei weitere Personen übernehmen die Verwaltung der Schule.

Alle Angestellten erhalten den gleichen Lohn (aus finanziellenMängeln, ist dieser nicht sehr hoch); es gibt nur Spezialisierung, aber keine Hierarchie.

Das gesamte Vollzeitpersonal wohnt auf dem 5 ha großen Schulgelände in Einzelzimmern neben den Kindern.

Der Aufenthalt der Kinder in Summerhill besteht im Jahr aus drei Terms, d.h. drei mal elf Wochen (insgesamt sind die Kinder also 33 Wochen/Jahr in Summerhill und 19 Wochen/Jahr in ihrer Familie)

Zur Freizeitgestaltung in Summerhill stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: einen Schwimmingpool, ein gut ausgestattetes Computer-Arbeitszimmer, einen Bereich für Sportspiele, Dunkelkammer, Tierbereich, Skateboard-Rampe, Tennisplatz, Bühne, Musikraum

Die Schule bekommt keinerlei staatliche Fördergelder und ist daher angewiesen sich alleinig über Schulgelder (der Betrag variiert, je nach Alter des Kindes zwischen 800 - 1000 Euro im Monat) bzw. Spenden zu finanzieren. (vergl. M. Appleton 2000 : 26f., 36)

9.3.5.2. Ziele und Struktur des Schulmodells

"Glück" sollte für die Kinder in Summerhill das vorrangige Lebens- und Erziehungsziel sein. Diese Zielformulierung hat in diesem Bezug jedoch eine etwas abweichende Bedeutung. Gemeint ist nicht das immerfortwährende "glücklich sein" in Form von Euphorie, sondern bezeichnet einen Zustand, den man als weitgehendes frei sein von innerer konfliktgeladener Zerrissenheit, von tiefer sitzenden Angstzuständen; von Neurosen bezeichnen könnte. (vergl. A. S. Neill 1995 "Das Prinzip Summerhill: Fragen und Antworten, Rowohlt Verlag, S. 102f.) Glück wie sie als Zielsetzung in Summerhill definiert wird, besitzt demnach die Bedeutung von innerer Ausgeglichenheit, sich selbst sein zu dürfen, seinen individuellen Bedürfnissen gerecht werden zu können, sein Leben eigenverantwortlich gestalten zu können, sich aktiv in das Leben einbringen zu dürfen und in seiner Individualität angenommen zu werden (vergl. diesbezüglich auch Punkt 5.4., die Primärbedürfnisse eines Kindes).

Um dieses Ziel auch langfristig lebbar zu gestalten, bedarf es der Freiheit in der Erziehung. Zur Grundphilosophie der Schule gehört die Annahme, dass alle negativen Eigenschaften wie Angst, Aggressionen, schlechtes Benehmen oder Mißtrauen durch äußere Zwänge und unterdrückte Gefühle entstehen. Dem Kind die Freiheit von diesen Zwängen zu ermöglichen, ebnet ihm auch die Möglichkeit sich emotional frei, selbstbestimmt und selbstregulierend entwickeln zu können.

Weitere Grundsätze dieses Schulmodells sind, den Kindern das Recht über ihr eigenes Leben einzuräumen, wie auch ihnen die Zeit zu geben, welche sie für ihre individuelle Entwicklung benötigen. Um jedoch ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit frei entwickeln zu können, benötigen Kinder das Spiel. Durch das freie phantasievolle Spielen lernen Kinder alle grundsätzlich wichtigen Fähigkeiten, die sie als Erwachsene benötigen, zudem gibt das Spiel den Kindern die Möglichkeit ihre Gefühle auszudrücken und zu verarbeiten. Aus diesem Grund können Kinder in Summerhill so viel und so lange spielen wie sie wollen.

Moralistisches Denken und Handeln stehen im Gegensatz zu der Lebensphilosophie der Schule. Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass eine positive, gesunde Einstellung zum Körper und zur Sexualität gefördert wird. Durch einen offenen, in den Alltag integrierten Umgang mit Sexualität (z.B. Toleranz bezüglich sexuellen Spielen oder Onanie) sollen Schuldgefühle vermieden werden, wie sie beispielsweise durch die Tabuisierung entstehen können. Verliebtheiten und Zärtlichkeiten werden positiv unterstützt. Jedoch gehören diese Themen auch zur Privatsphäre jedes einzelnen und werden in Summerhill nicht weiter fokussiert. Die lange Geschichte Summerhills hat unter Beweis gestellt, dass Kinder und Jugendliche, die ihre Sexualität in einem solchen Setting frühzeitig ausleben können, nicht zu enthemmten, triebhaften Charakteren werden.

Auch Zoè Readhead, die derzeitige Leiterin von Summerhill, lehnt es ab, den Jugendlichen aufgrund von Moralvorstellungen die sexuelle Betätigung zu verbieten. Jedoch muss die Schule gleichzeitig, wenn sie am Leben bleiben möchte, Rücksicht nehmen auf die bestehenden Gesetze. Offiziell darf daher keinem Schüler unter 16 Jahren Sex erlaubt werden (ihnen dürfen auch keine Verhütungsmittel gestellt werden). Die Schüler wissen aber, dass sexuelle Betätigung nicht aus moralischen Gründen verboten ist.

Die Struktur des Alltages in Summerhill besteht aus einer Balance zweier Grundelemente. "Einerseits gibt es eine bestimmte Grundstruktur, die sich durch Tage und Wochen zieht. Andererseits gibt es spontane Stimmungen und verrückte Einfälle, die die Gemeinschaft immer mal wieder ergreift" (M. Appleton 2000 : 55)

Es gibt einen strukturellen Tagesablauf der zur Orientierung dient und den Kindern Sicherheit vermittelt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser dogmatisch eingehalten werden muss. Jedes Kind, auch die jüngsten, besitzen daneben auch sehr viel persönlichen Freiraum und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten bezüglich ihrer Tagesstruktur.

Kinder müssen in Summerhill keine Haushaltspflichten wie z.B. Zimmer aufräumen, Bett machen, beim Kochen helfen, Kleiderwaschen etc. übernehmen. Sie werden ebenso wenig aufgefordert persönliche Hygiene zu betreiben (es sei den es wird zu einem Gesundheitsproblem oder ein Mitschüler fühlt sich durch den unangenehmen Geruch seines Zimmergenossen belästigt). Diese Tätigkeiten erledigen sie jedoch freiwillig, meist ab dem 14 Lebensjahr.

Auch die persönlichen Essgewohnheiten jedes Einzelnen werden grundsätzlich akzeptiert (solange es wiederum zu keinem Gesundheitsproblem wird). Bezüglich den Tischmanieren (wie auch bei allen anderen "Benimm-Regeln", z.B. auch der Gebrauch von Schimpfwörtern) wird ein Verhalten so lange toleriert, bis es einen anderen ernsthaft stört und dieser es dann vor das Tribunal bringt ( siehe hierzu Punkt 9.3.5.2.).

Die Wirkung dieser Pädagogik in Summerhill auf die Schüler, denen sie zuteil wurde, ist leider nur ansatzweise erforscht worden (vergl. vor allem Bernstein 1967/68 und Zellinger 1996). Den wenigen Untersuchungen, die hierzu vorliegen, ist zu entnehmen, dass nicht alle, jedoch die überwiegende Zahl der Kinder, die in Summerhill aufwuchsen, in ihrem subjektiven Empfinden vom Besuch der Schule profitiert haben. Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung und des sozialen Zusammenlebens werden als besonders bedeutsam hervorgehoben, die Vernachlässigung des akademischen Lernens in Summerhill wird kritisiert. Gleichwohl haben viele Jugendliche, die in Summerhill waren und anschließend weiterführende Schulen und Hochschulen besuchten, nur geringe Anpassungsschwierigkeiten gehabt.

9.3.5.3. Selbstverwaltung, Selbstbestimmung und Demokratie

Das wohl bedeutendste Charakteristikum dieser Schule ist die Selbstbestimmung, die den Kindern zugebilligt wird. Im Rahmen eines demokratischen Systems, machen die Kinder in Summerhill ihre eigenen Gesetze (wenn es um Entscheidungen geht, die Bedeutung für die gesamte Gemeinschaft haben) und achten eigenverantwortlich darauf, dass diese auch eingehalten werden. Diese konsequente Umsetzung des Demokratieverständnisses gilt als das radikalste dieser Art in einem Schulsetting. Kinder, Jugendliche, Lehrer, Schulleitung haben völlig gleiche Rechte in dieser Verfassung. Die Wortmeldungen jüngerer Kinder werden in den Meetings genauso ernst genommen wie die der Lehrer oder der Direktorin. In einem solchen Rahmen entwickeln die Kinder und Jugendlichen die Fähigkeit, Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft zu übernehmen, sich selbstbewußt zu behaupten, weil Mitsprache für sie zur Selbstverständlichkeit wird und sie die Effekte ihrer Entscheidungen unmittelbar erfahren.

Entschieden wird in zwei Meetings die beide wöchentlich statt finden: das General Meeting und das Tribunal. Es besteht für diese Treffen keine Anwesenheitspflicht, jedoch erscheint für gewöhnlich ein Großteil der Gemeinschaft und repräsentiert die ganze Altersstreuung ihrer Mitglieder. Jeder kann seine Meinung sagen und hat bei der Abstimmung eine Stimme, dies gilt sowohl für den Schulleiter, die Lehrer, die Hauseltern und die Kinder gleichermaßen. Die Kinder haben damit nicht nur die gleiche Macht, sie übertreffen die Erwachsenen zahlenmäßig bei weitem.

Im General Meeting werden von der Gemeinschaft alle Gesetze formuliert und beschlossen, die das gemeinschaftliche Zusammenleben regeln (z.B. Bettgehzeiten, Ausgehregeln, Fernseh- und Computerregelungen, akzeptable Plätze zum Bogenschießen ect.). Viele Gesetze sind saisonbedingt und werden verändert oder abgeschafft, wenn sie nicht mehr gebraucht werden; andere halten jahrelang.

Summerhill besitzt momentan ca. 230 Gesetze und ist damit wahrscheinlich die Schule mit den meisten Regeln im Land.(vergl. M. Appleton, 2000: 67)

Es gibt jedoch auch etwa eine Hand voll Gesetze, die alleinig in der Hand der Schulleitung liegen. Diese Vorschriften beziehen sich auf Gesundheits- und Sicherheitsgesetze und aller sonstigen Gesetze, die Teil der staatlichen Gesetzesgebung sind (z.B. Alkohol- und Drogenverbot, das Verbot, dass ältere Mädchen und Jungen im gleichen Zimmer untergebracht werden, Umgang mit Luftgewehren ect.). Diese Einschränkung ist notwendig, um den Erhalt der Schule zu sichern.

Im Tribunal können Gesetzesverstöße und Streitereien vor "Gericht" gebracht werden (z.B. Störungen im Unterricht, Diebstähle, Beleidigungen, Brechen von Regeln ect.). Natürlich können sowohl Schüler, als auch Lehrer oder Personal vor das Tribunal gebracht werden, wenn ihr Verhalten unsozial war oder sie gegen die allgemein gültigen Regeln verstoßen haben.

Die Strafen bestehen meist in Form von geringen Geldzahlungen, Pudding-Entzug oder gemeinnützigen Arbeiten wie z.B. Gartenarbeit. Gegen sie kann zu Beginn des nächsten Meetings Berufung eingelegt werden, da die Urteile gelegentlich durch hitzige Diskussionen als unangemessen empfunden werden. Meist werden sie im nachhinein milder ausgesprochen.

Der Ton im Tribunal ist weder moralisch noch psychologisch. Die Kinder versuchen möglichst einfach und praktisch an einen Streitfall ran zu gehen (da es in Summerhill kein Moralisieren und auch kein Machtgefälle gibt, können Konflikte auch eher rational und ohne Zorn oder gegenseitige persönliche Verletzungen gelöst werden). Dadurch entwickelt sich eine Kommunikationskultur, die auf Kooperation, Toleranz und Gewaltlosigkeit ausgerichtet ist.

Das Amt des Vorsitzenden beim Meeting ist freiwillig. Es wird in der vorhergehende Woche immer neu gewählt. Der Vorsitzende hat die Aufgabe das Meeting zu leiten, darauf zu achten, dass jeder der sich meldet zu Wort kommt, zur Abstimmung aufzufordern und die Stimmen auszuzählen. Selbst muss er während der Sitzung neutral bleiben und ist nicht stimmberechtigt (wenn er zu einer Sache etwas sagen möchte, muß er sein Amt niederlegen und jemand anderes übernimmt seinen Vorsitz). Auch wenn der Vorsitzende letzten Endes die Macht hat, ist es eine schwierige Aufgabe 70 Leute unterschiedlichen Alters eine Stunde lang ruhig sitzend zu halten (der Vorsitzende kann auch bei störendem Verhalten Sanktionen wie Geldstrafen, Umsetzen von Personen oder Ausschluß vom Meeting erheben).

Auch das Vollzeitpersonal trifft sich jede Woche, um Verwaltungssachen, Neuigkeiten, Neueinstellungen von Mitarbeitern oder Finanzen zu diskutieren. An diesen formellen bzw. finanziellen Angelegenheiten (z:B. Stromrechnung ect.) der Schule haben die Schüler zumeist wenig Interesse. Aus diesen Gründen übernehmen ehr die Erwachsenen diese Aufgaben. (vergl. M. Appleton 2000 : 74 - 90)

9.3.5.4. Freiwillige Teilnahme am Unterricht

Kinder in Summerhill wachsen in einem Milieu auf, in dem sie lernen, ihren eigenen Interessen und Motivationen zu folgen. Sie können selbstbestimmt entscheiden, welche Schwerpunkte sie in ihrer schulischen Ausbildung setzen.

Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, es besteht keine Anwesenheitspflicht. Es gibt weder Zensuren noch Prüfungen oder Zeugnisse. Die Kinder entscheiden selbst, ob sie akademischen Unterricht besuchen, spielen oder künstlerisch/handwerkliche Tätigkeiten ausüben möchten. Sie bekommen jedoch die Möglichkeit am Ende ihrer Schulzeit einen staatlich anerkannten Abschluß zu machen und können sich in Summerhill auf diese Prüfung vorbereiten. Die meisten Kinder gehen jedoch gerne und regelmäßig zum Unterricht, viele von ihnen besuchen anschließend Colleges oder andere Institutionen zur Weiterbildung.

Es gibt auch Kinder deren natürlicher Wissensdurst durch den Zwang von konventionellen Schulen schon fast versiegt ist; diese Kinder gehen dann oftmals, wenn sie nach Summerhill kommen monate- oder jahrelang nicht zum Unterricht. Diese Kinder benötigen Zeit, um wieder Vertrauen zu gewinnen und innere Motivation verspüren zu können, das zu lernen was sie wissen wollen.

Durch diesen Willen zum Lernen sind sie dann in der Lage, sich in kurzen Zeiträumen auch vermeintlich fest umrissene Wissensgebiete individuell anzueignen, für die Schüler von Staatsschulen oftmals lange Jahre benötigen (mit z.T. steter Wiederholung).

Das Schulsetting in Summerhill erlaubt einen größtmöglichen individuellen Entwicklungsfreiraum unter Berücksichtigung der persönlichen und sozialen Bedingungen und Notwendigkeiten. Lernen findet auch außerhalb des Unterrichts statt und manifestiert sich nicht nur auf Unterrichtseinheiten. Hierbei spielt die Gemeinschaft und der soziale und gleichberechtigte Umgang unter den Kindern und den Erwachsenen eine zentrale Rolle für den pädagogischen Alltag. Der Rahmen der Schule ist so gestaltet, dass Kinder und Jugendliche sich gegenseitig unterstützen und die Erwachsenen an der Schule die alleinige Funktion haben, diese Struktur aufrecht zu erhalten.

Die jüngeren Kinder werden in zwei verschiedene Grundschulklassen eingeteilt, die jeweils von einem festen Lehrer unterrichtet werden. Erst ab dem 12 Lebensjahr können die Kinder sich für spezielle Fächer eintragen. Der Stundenplan wird aktiv von den Kindern mitgestaltet und richtet sich u.a. auch nach deren Interessen.

Die Schule bietet zur Zeit folgende Fächer an: Naturwissenschaften (Biologie, Physik, Chemie und Astronomie), Mathematik, Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Japanisch, Holzarbeiten, Kunst und Töpfern, Drama, Geschichte, Geographie, Computer, Musik (nach Absprache), verschiedene Sportarten (nach Absprache), Fotografie, Informationstechnologie

Die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern ist sehr positiv und freundschaftlich, da sie auf gegenseitiger Achtung basiert, es bestehen keine Hierarchien zwischen ihnen, wodurch sich auch keine Minderwertigkeitsgefühle entwickeln können. Sie unterscheiden sich lediglich im Grad ihres Wissens und ihrer Erfahrung und den gilt es durch den Unterricht und durch das Leben in der Gemeinschaft zu vermindern. Die Aufgabe der Lehrer ist es nicht zu "belehren" im herkömmlichen Sinne, sondern für Herausforderungen zu sorgen, die neue Lernsituationen schaffen.

9.3.5.5. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule

Problematisch gestaltet sich die Tatsache, dass etwa ein drittel der Kinder in Summerhill aus asiatischen Ländern kommen, vor allem aus Japan. Aufgrund des dortigen autoritären Erziehungssystems verlief die Sozialisation asiatischer Schüler in wesentlich strafferen Bahnen, als dies bei europäischen Kindern der Fall ist. Durch diese ganz andere traditionelle Mentalität entwickeln sich unweigerlich Probleme im Zusammenleben in Summerhill. (verg. M. Appleton 2000 : 184- 186)

Dieses demokratische Schulmodell ist darüber hinaus, so konzipiert, dass es zwar einen gewissen Prozentsatz an problematischen bzw. verhaltensauffälligen Schülern mitragen kann, jedoch können - wie in allen wirklich demokratischen Lebensformen, zu viele schwierige und stark gepanzerte Kinder ein solches System auch zum Kippen bringen. Verhaltensauffällige Kinder werden in Summerhill zwar prinzipiell nicht abgelehnt (denn gerade sie können sich an diesem Ort zu sehr sozialen Menschen entwickeln), aber sie werden eher als Ausnahme aufgenommen, da eben nur einzelne in einem solchen System tragbar sind. Diese werden unter dem Vorbehalt aufgenommen, dass sie die Schule wieder verlassen müssen, wenn sie zu große Konflikte innerhalb der Gemeinschaft hervorrufen oder andere ernsthaft gefährden.

In diesem Zusammenhang, sei auch darauf hin gewiesen, dass es von großer Wichtigkeit ist, dass die Eltern der Summerhillkinder grundsätzlich hinter den Prinzipien der Schule stehen, um ihre Kinder nicht in Loyalitätskonflikte oder unter latenten Lern- und Leistungsdruck zu setzen, was sich wiederum leicht kontraproduktiv und schädlich für das Kind auswirken kann. Eltern müssen ,wenn ihre Kinder nach Summerhill gehen, lernen sie los-zu-lassen und an sie zu glauben, so dass die Kinder ihren eigenen Weg gehen können - eine schwierige Aufgabe für die Eltern.

Viele Eltern haben auch Schwierigkeiten das Schulgeld aufzubringen. Aus diesem Grund kommen die meisten Kinder eher aus der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht. (Bis zum Jahr 2000 zahlte der englische Staat für manche Problemkinder, die in anderen Schulen untragbar waren)

Die Situation für das Lehr- und Betreuungspersonals in Summerhill ist oft nicht leicht, sie müssen viel persönliches Engagement besitzen und benötigen oftmals längere Zeit, um sich neu einzuarbeiten und um wirklich die dortigen Besonderheiten berücksichtigen und leben zu können. Zudem besitzen sie wenig Privatsphäre und Freizeit. Sie verdienen relativ wenig (jedenfalls weniger als im Staatsdienst), Lehrer können in Summerhill keine "Karriere" machen und einige Lehrer haben Schwierigkeiten mit der Umsetzung der Prinzipien (zudem muß man ein wirklich guter Lehrer sein, denn anderenfalls bleiben die Kinder dem Unterricht fern und können die mangelnde Unterrichtsqualität im Meeting vortragen und eine Verbesserung verlangen). (vergl. M. Appleton 2000 : 115 - 118)

Obwohl Summerhill sehr an aufklärender Öffentlichkeitsarbeit interessiert ist, gestaltet sich diese ehr schwierig. Ohne einen aktuellen Anlaß (z.B. die drohende Schließung der Schule) berichten englische, wie deutsche Medien nicht über Summerhill. Es gibt einige wenige Filme, wie z.B. die Channel 4- Reportage, von denen sich verzerrte Eindrücke und skandalöse Bilder, bis heute noch negativ und stigmatisierend auf Summerhill auswirken.

In den 90er Jahren wurde die Schule mehrfach von britischen Inspektoren der Schulaufsichtsbehörde OFSTED (Office for Standards in Education) kontrolliert. Die letzte große Inspektion fand vom 1.-5. März 1999 statt. Wie auch die Abschlußberichte vorheriger Inspektionen fiel das Urteil insgesamt, trotz einiger erwähnter positiver Aspekte sehr negativ aus. Aus diesem Bericht resultierend forderte die Schulaufsichtsbehörde die Schließung Summerhills. Die Schule brachte diesen Rechtsstreit jedoch vor das High Court, das Oberste Zivilgericht in London, das Summerhill jedoch das Recht auf ihre eigene Philosophie zubilligte. (Die Schule wäre auch nicht bereit dazu gewesen hinsichtlich ihrer Prinzipien Kompromisse einzugehen; im Gerichtssaal entschieden nicht nur die Erwachsenen, sondern komplettdemokratisch die gesamte Summerhill-Gemeinschaft per Abstimmung darüber, die gerichtlichen Vereinbarungen anzunehmen, wie z.B. diverse Renovierungsarbeiten an der Schule.) Auch die Öffentlichkeit zeigte reges Interesse an diesem Prozess. In allen englischen und bedeutenden internationalen Zeitungen gab es sehr positive und wohlwollende Presseberichte über dieses historische Urteil. (zusammengefasst aus: M. Appleton 2000 und ergänzende aktuelle Informationen aus mehreren Gesprächen mit Dr. Dorothea Fuckert, Mutter zweier Summerhill-Schüler und Vorsitzende des Zentrum für Orgonomie - Wilhelm Reich Institut für Bildung, Forschung und Therapie, Waldbrunn)




Diplomarbeit (2002): Kerstin Liekenbrock, Selbstregulation, FHS Mannheim
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Fortsetzung: 10. Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der Selbstregulation und 11. Ausblick/Resümee und Literaturverzeichnis