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Diss (2002): Axel Kühn: Alexander Neill, Uni Tübingen
zurück (Herkunft, Kindheit, Schulzeit bis zum Studium)
Fortsetzung (Deutschland)

Erste Publikationserfahrungen

In den Editorials, die Neill für "The Student" verfaßte, wandte er sich unmittelbar pädagogischen Überlegungen zu. Er lehnte sich sowohl gegen die Form der universitären Lehre als auch gegen allgemein gängige Erziehungsmethoden auf. So schrieb er in der zweiten Märzausgabe 1912: "We have reluctantly decided that our Profs. are far from being ideal teachers. Indeed many of them are not teachers at all, they are merely lecturers. Now in the twentieth century lectures are an anachronism. The system dates from a time previous to the invention of printing, and our University education is not dissimilar from the education in vogue a few centuries ago. [...] Our Profs. have been too long on pedestals, and pedestals are not popular in these days of strikes and heretics. Besides Statues are cold things." [NEILL in: The Student 08.03.1912, S.335f] Professoren, resümiert Neill, sollten erst dann an Universitäten lehren, wenn sie bereits in Grund- und Mittelschulen praktiziert hätten [NEILL in: The Student 08.03.1912, S.336]. In der vorhergehenden Ausgabe des Magazins hatte Neill bereits das Prüfungssystem attackiert. Die Studenten seien gezwungen, die Meinungen der Lehrenden wiederzugeben, und die Lehrenden sähen sich durch die Studierenden bestätigt. "Speaking generally, we say that most exams. test knowledge, not thinking ability. Indeed, independent thinking is discouraged: [...] In short the system corrupts the morals not only of the pupil, but of the master." [NEILL in: The Student 01.03.1912, S.315] Diese Attacken gegen das bestehende Erziehungssystem sind die ersten Zeugnisse von Neills Rebellion gegen überkommene pädagogische Traditionen [vgl. hierzu auch: SWARTZ in: Educational Studies 17(1986), H.2, S.201].

Als Herausgeber der Studentenzeitung bekam Neill Freikarten zu kulturellen Veranstaltungen, und es war seine Aufgabe, für "The Student" Konzert-, Theater- und - seit der Einführung des Stummfilmkinos - Filmkritiken zu schreiben. So nahm er am kulturellen Leben der Universitätsstadt Edinburgh starken Anteil und kollidierte dabei gelegentlich mit seinen begrenzten ökonomischen Möglichkeiten. Die chronische Geldknappheit machte ihm zu schaffen, und er verdiente gelegentlich etwas hinzu, indem er Kurzgeschichten für den "Glasgow Herald" schrieb [vgl. NEILL 1972, S.109].

Als Neill am 5. Juli 1912 seine Examen zum Master of Arts zur eigenen Überraschung mit dem guten Abschluß "Second Class Honours" in Englisch absolviert hatte [vgl. NEILL 1972, S.112], entschied er sich dafür, eine Karriere als Schulmeister zu vermeiden. Statt dessen lockte ihn - wohl auch aufgrund der Erfahrungen mit der Herausgabe des Studentenmagazins - eine journalistische Laufbahn. Da seine Bewerbungen bei Zeitungen jedoch unbeantwortet blieben, nahm er eine Stelle bei T.C. & E.C. Jacks an, einem Verlag in Edinburgh, der eine einbändige Enzyklopädie herausbringen wollte. Neill wurde Redakteur und hatte Beiträge zu redigieren, die meist unleserlich und zu lang waren [vgl. NEILL 1972, S.113, 227]. "In einer Hinsicht war diese Arbeit sehr nützlich für mich: sie flößte mir Furcht vor überflüssigen Worten ein." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.177] Nach einiger Zeit wurde die Redaktion nach London verlegt. "Nachdem ich 29 Jahre alt geworden war, ohne die Grenzen Schottlands überschritten zu haben, fand ich den Gedanken, nach London zu gehen, ebenso wunderbar wie zwingend: waren nicht auch Barrie und geringere schottische Schriftsteller südwärts gezogen, um Geld zu verdienen und sich einen Namen zu machen?" [NEILL 1972, S.113]

Neill identifizierte sich in jenen Tagen stark mit dem schottischen Schriftsteller James Matthew Barrie, der 1860 in Kirriemuir, dem Nachbarort von Neills Geburtsort Forfar, geboren worden war. Auf einen seiner älteren Brüder Bezug nehmend schrieb Neill später: "Ich weiß nicht mehr, ob ich Willie nachäffte, als ich zu schreiben begann; wahrscheinlicher ist, daß ich damals J.M.Barrie oder auch H.G.Wells imitierte." [NEILL 1972, S.324; vgl. auch ebd. S.329f.] Barrie gelangte 1904 durch die Uraufführung seines Schauspiels "Peter Pan" zu weitreichender Anerkennung. Zeit seines Lebens setzte sich Neill mit Barries Figur "Peter Pan" auseinander, und er wurde im Lauf der Jahre immer kritischer gegenüber dem schottischen Autor. Häufig hob Neill die Analogie zwischen Autor und Romanfigur hervor: "Barrie wurde selbst nie erwachsen." [NEILL 1972, S.330; vgl. auch ebd. S.169; sowie NEILL in: PLACZEK 1981, S.338]

Nach Abschluß der Arbeit an der Enzyklopädie bei Jacks übernahm Neill eine Tätigkeit als Autor für den "Popular Educator", ein Nachschlagewerk im gleichen Verlag für die Bereiche Englische Literatur, Sprache und Mathematik [vgl. NEILL 1972, S.116, 227ff; vgl. auch NEILL 1923 S.199; sowie NEILL in: Friends of Summerhill Trust Journal H.8, 1993, S.32f]. Knappe zehn Jahre später schrieb er: "When I feel depressed and want to laugh I take up a certain bulky Popular Educator. Therein is A History of English Language and Literature, by A. S. Neill, M.A. [...] Yes, the book makes me smile, but when I really want to laugh out loud I turn to the section entitled 'Arithmetic and Algebra,' ... by the same author" [NEILL 1923, S.199f]. Einen weiteren Abschnitt des Nachschlagewerks über Zeichenkunst verfaßte Neill auch, er versah ihn sogar mit eigenen Zeichnungen. Die Herausgeber nahmen diesen Teil jedoch nicht in die endgültige Fassung des Buches auf [vgl. NEILL 1923, S.200; vgl. auch NEILL 1972, S.116]. Neill war ein begabter Zeichner und es sind Skizzen von ihm erhalten, die wenn nicht gerade künstlerisch bedeutsam, so doch handwerklich gediegen ausgeführt sind [vgl. die Zeichnung auf S.15].

Die Arbeit am "Popular Educator" beendete Neill zugunsten einer Stellung beim neu gegründeten "Piccadilly Magazine". Er hatte sich ohne jede Sachkenntnis auf den Posten eines künstlerischen Assistenten beworben und wurde zu seiner eigenen Überraschung offensichtlich qualifizierteren Bewerbern vorgezogen, weil sein Bewerbungsschreiben den Verleger erheitert hatte [vgl. NEILL 1972, S.118; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine Sep./1960, S.4]. Die Arbeit an der Vorbereitung des neuen Magazins war für Neill wesentlich interessanter als die Beschäftigung mit Artikeln für populäre Nachschlagewerke. So machte er Interviews mit dem Boxer Billy Wells und einem Komiker namens George Robey. "Nie in meinem Leben habe ich einen so ernsten und pessimistischen Menschen getroffen." [NEILL 1967, S.79; vgl. auch CROALL 1983b, S.55] Ebenfalls war es seine Aufgabe, eingesandte Kurzgeschichten zu lesen: "Wenn ich eine Kurzgeschichte an den Agenten von H.G.Wells als ungeeignet zurückschickte, kam ich mir immer einige Zoll größer vor." [NEILL 1967, S.79; vgl. auch CROALL 1983b, S.55] Wohl auch im Rahmen seiner Tätigkeit als Redakteur besuchte Neill die dem Büro benachbarten Gerichtsgebäude in Bow Street und verfolgte gespannt die Verhandlungen. Einmal wurde ein Junge zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein Paar Stiefel gestohlen hatte [vgl. NEILL 1915, S.113; vgl. auch CROALL 1983b, S.55]. Bezugnehmend auf diese Erfahrung schrieb Neill in seinem ersten Buch, das bald darauf entstehen sollte: "Our present system is not justice; it is vengeance." [NEILL 1915, S.113] Neills Interesse für soziale Fragen war geweckt, und seine ursprünglich konservative politische Orientierung wich einem ausgeprägten Sozialismus. Er wurde Mitglied in der "Westminster Labour Party" und schwang im Hyde Park auf einer Seifenkiste stehend Reden. "Bei einer Gelegenheit erwähnte ich törichterweise das Hauptpostamt als leuchtendes Beispiel für den Sozialismus. Daraufhin wurde ich von einem Briefträger niedergeschlagen." [NEILL 1972, S.120] Später sollte Neill häufig öffentliche Vorträge halten - sie sind ein nicht zu unterschätzender Anteil an seinem publizistischen Schaffen und seine rhetorischen Kompetenzen müssen beachtlich gewesen sein.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte das Erscheinen des "Piccadilly Magazine". "Einer der Artikel, mit vielen Fotografien illustriert, hieß 'Der Kronprinz, die wahre deutsche Gefahr'. Aber die Schüsse von Sarajevo töteten - unter anderem - auch das knospende Piccadilly Magazine." [NEILL 1972, S.120] Nach Auflösung der Redaktion des "Piccadilly Magazine" nach Kriegsausbruch und da Neill, obgleich er sich dessen schämte, nicht in den Krieg ziehen mußte [vgl. NEILL 1972, S.121] [5], galt es, eine neue Stelle zu suchen. Er bewarb sich - nachdem er einige Wochen zu Hause in Kingsmuir verbracht hatte - auf verschiedene Lehrerstellen. "Mit der gleichen Post erhielt ich eines Morgens zwei Stellenangebote: ich konnte Leiter der Schule in Gretna Green und Englisch-Lehrer an der Oberschule in Tain werden." [NEILL 1972, S.305]

Er entschied sich für die Stelle in Gretna Green [vgl. NEILL 1972, S.121, 305; CROALL 1983b, S.58] und wurde dort am 15. Oktober 1914 Leiter der "Gretna Public School". Gretna Green liegt im Südwesten Schottlands und wurde bekannt durch die Schnelltrauungen, die der örtliche Schmied an englischen Paaren vornahm, die die nahegelegene Grenze überquerten, um - meist ohne das Einverständnis ihrer Eltern - unter der in dieser Hinsicht liberaleren Gesetzgebung Schottlands zu heiraten. Der bisherige Rektor der örtlichen Schule hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, und Neill übernahm nun die Leitung der schottischen Dorfschule, an der 150 Kinder unterrichtet wurden [vgl. NEILL 1915, S.193] "And here for the first time I became conscious of education." [NEILL in: Id-Magazine Sep./1960, S.4; vgl. auch NEILL 1972, S.122]

A Dominie's Log 1915

Von Neills Erlebnissen in der Zeit in Gretna berichtet sein erstes Buch A Dominie's Log, das als inoffizielles Schultagebuch entstand. Offiziell hatte ein schottischer Dorfschulleiter, ein "Dominie", ein "Schul-Logbuch" zu führen, in dem die An- oder Abwesenheit der Schüler sowie des Hilfspersonals verzeichnet wurde, aber auch besondere Ereignisse und Daten, die für die regelmäßigen Schulinspektionen von Bedeutung waren. Ins Logbuch der Schule von Gretna schrieb Neill am 15. Oktober 1914: "I, A. S. Neill, entered upon duties as Interim Headmaster of this school." [NEILL zitiert in: CROALL 1983b, S.58] Diese Pflichten verstand er jedoch ganz anders als der bisherige Schulleiter, den er nun vertrat und der als recht streng bekannt war. "Es wäre töricht, zu behaupten, ich hätte, wenn ich gewollt hätte, auch als klassischer Pauker weiterarbeiten können, denn das hätte ich selbst niemals fertiggebracht. Nach und nach merkten die Kinder, daß meine Disziplin der reinste Bluff war und daß es mir nicht das geringste ausmachte, ob sie etwas lernten oder nicht. Aus der stillen Schule wurde ein Gartenlokal voller Lärm und Gelächter. Aber wir hielten die üblichen Unterrichtsstunden ab, und sie lernten vermutlich nicht weniger, als wenn sie Angst vor mir gehabt hätten."[NEILL 1972, S.122]

Seit Neills eigener Kindheit hatte sich im schottischen Schulwesen wenig geändert und bald unterschied sich der Unterricht in Gretna Green erheblich von dem an anderen Schulen. Neill schreibt 1915 in A Dominie's Log: "I don't mind if they talk or not. Indeed, if the hum of conversation stops, I feel that something has happened and I invariably look towards the door to see whether an Inspector has arrived" [NEILL 1915, S.15]. Schüler, die sich nicht für den Unterricht interessierten, durften den Klassenraum
Federzeichnung Neills aus dem Jahr 1916. Zu erkennen ist ein Haus und im Hintergrund eine Kirche (offensichtlich Gretna Green). Neill hat daruntergeschreiben: "Gretna Green. A Sketch made when out with the bairns. A.S.Neill 1916"
verlassen und der Stundenplan wurde nicht mehr fest eingehalten. Die Schülerinnen und Schüler konnten sich auf ihre Lieblingsfächer konzentrieren und die weniger populären Fächer vernachlässigen [vgl. CROALL 1983b, S.60; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.16/17; sowie NEILL 1915, S.122, 142, 169]. Ausflüge in die Natur wurden unternommen, auf denen Zeichnungen entstanden und Naturbetrachtungen angestellt wurden. "I am delighted with my sketching results. We go out every Wednesday and Friday afternoon, and many bairns are giving me good work. We usually end up with races or wading in the sea. There was much wonder when first they saw my bare feet, but now they take my feet for granted." [NEILL 1915, S.121; vgl. auch: HEMMINGS 1972, S.15; sowie NEILL 1915, S.118, 121, 205] Zeichnung Neills "A Sketch made when out with the bairns" 1916

Im Verlauf des Krieges wurden die eintreffenden Kriegsnachrichten diskutiert [vgl. HEMMINGS 1975, S.14; NEILL 1915, S.21, 72], die Hintergründe der Frauenbewegung erläutert [vgl. NEILL 1915 S.30, 86ff, 105] und eine Schülerzeitung konzipiert [vgl. NEILL 1915 S.192]. Neill bemühte sich, die Lehrbücher teilweise durch ausgewählte Literatur zu ersetzen. Und er brachte den Kindern die von ihm geschätzten Autoren nahe: "Nearly every day I quote to my bairns Ibsen's words from An Enemy of the People. 'The Majority never has right on its side. Never I say.' Every lesson book shouts aloud the words: 'The majority is always right'." [NEILL 1915, S.29 [Hervorhebungen im Original]; vgl. auch ebd. S.50] Der Religionsunterricht, zu dessen Erteilung sich Neill verpflichtet sah, beschränkte sich auf das Lesen der vier Evangelien und "in geography lessons I often take occasion to emphasise the fact that Muhammudans and Buddhists are not necessarily stupid folk who know no better. [...] No, I fear I have no definite opinions on religion." [NEILL 1915, S.67]

Diese sich allmählich entwickelnden Ansichten und Unterrichtsmethoden mußten in der konservativen ländlichen Umgebung wie eine Revolution erschienen, als sie der Dorfbevölkerung bekannt wurden; auch die Tatsache, daß der örtliche Lehrer nicht am Kirchgang teilnahm, sondern statt dessen lieber zu Hause auf seiner Schreibmaschine herumhämmerte [vgl. NEILL 1972, S.122], nahm die Gemeindemitglieder nicht immer für ihn ein. Der Lehrer arbeitete unter der Aufsicht des Schulvorstands, der sich aus Funktionsträgern in der Gemeinde zusammensetzte. So kam es, daß der örtliche Kohlehändler, der gleichzeitig im Gemeinderat saß, Neills pädagogische Arbeit stark beeinflussen konnte, was er insbesondere dann tat, wenn Neill seinen Brennstoff aus der falschen Quelle bezog [vgl. NEILL 1915, S.124]. Vorsitzender des Schulvorstands war Mr. Simpson: "To-day was prize-giving day. Old Mr. Simpson made a speech. 'Boys,' he said, 'study hard and you'll maybe be a minister like Mr. Gordon there.' He paused. 'Or,' he continued, 'if you don't manage that, you may become a teacher like Mr. Neill here'."[NEILL 1915, S.52] Neill hatte Glück und konnte sich mit dem örtlichen Schulvorstand gut stellen. "Die Mitglieder des Beirats der Schule kümmerten sich nicht weiter darum, was ich trieb. Einige wurden sogar persönliche Freunde von mir." [NEILL 1972, S.122; vgl. auch NEILL 1915, S.122f] Einzelne Eltern der Schülerinnen und Schüler waren überhaupt nicht begeistert von dem Umsturz alter Schulgewohnheiten und machten gegenüber dem jungen Schulmeister keinen Hehl aus ihrem Befremden. Ein Vater, der Neill für einen "Radikalen" gehalten hatte, entschuldigte sich, als Neill dies abstritt. "Then he added, 'And what micht yer politics be?' 'I am an Utopian,' I said modestly. He scratched his head for a moment, then he gave up and asked my opinion of the weather." [NEILL 1915, S.65] Noch 60 Jahre später beschrieb Neill ähnliche Anekdoten aus Gretna [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.22; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine Sep./1960, S.4; sowie NEILL 1967, S.111; sowie NEILL in: TES 11.08.1967, S.251].

Während Neill in Gretna Green lebte, fühlte er sich von der Außenwelt weitestgehend abgeschnitten. Das lebhafte Treiben von London und die aktuellen Gesprächsthemen versuchte er sich durch die Lektüre der Zeitschriften "The New Age" [vgl. NEILL 1915, S.103] sowie "The Nation" [vgl. NEILL 1972, S.123] in die ländliche Abgeschiedenheit zu holen. Im Februar 1915 wurde eine Glosse von ihm mit dem Titel The Lunatic in "The New Age" veröffentlicht, die er in Gretna geschrieben hat. Darin schildert er die Erlebnisse eines schottischen Journalisten in London [vgl. The New Age, 04.02.1915].

Durch einen Zeitungsartikel erfuhr Neill bereits in dieser Zeit von der Jaques-Dalcroze-Schule in Hellerau bei Dresden [vgl. CROALL 1983b, S.117; NEILL 1915, S.57], an der er selbst wenige Jahre später arbeiten sollte. In A Dominie's Log schreibt er: "I recently read an illustrated article by (or on?) Jacques [sic!] Dalcroze, the inventor of the method, and the founder of the Eurhythmics school near Dresden. [...] The photographs were beautiful studies in grace; the school appears to be full of Pavlovas[6]. I think I shall try to found a Eurhythmics system on the photographs." [NEILL 1915, S.57]

Von Gretna aus unternahm der junge Lehrer Reisen nach London, um der "großen weiten Welt" wieder etwas näher zu kommen. Bei einer dieser Reisen besuchte er die King Alfred School in Hampstead und lernte deren Rektor John Russell kennen. Auch an dieser Schule sollte Neill nach Kriegsende einige Zeit beschäftigt sein [vgl. NEILL 1972, S.139; vgl. auch NEILL 1917 S.542f; sowie NEILL 1921b, S.260ff, 290ff].

Offenbar wurden für die Entwicklung eigener pädagogischer Ideen Neills in Gretna Green entscheidende Weichen gestellt [vgl. NEILL 1972, S.122]. Auf alle Fälle war seine erfolgreiche Lehrtätigkeit und das - wie sich erweisen sollte - noch erfolgreichere schriftliche Nachdenken darüber so ermutigend, daß Neill sich kurzfristig auf weitere pädagogische Experimente einließ und längerfristig auf eine erzieherische Laufbahn einstellte. Der junge Schulmeister hatte mittlerweile soviel Selbstbewußtsein, daß er Vorträge über Erziehung hielt. Ein Vortrag, den er in Gretna hielt, hieß Children and their parents. Die Besucher nahmen ihn allerdings nicht so recht ernst. Sie betrachteten die Veranstaltung des jungen Dorflehrers eher als Belustigung. "I cannot flatter myself that I made a single parent think on Friday night. Most of the villagers treated the affair as a huge joke." [NEILL 1915, S.154; vgl. auch CROALL 1983b, S.68] Neill führte darüber hinaus eine Abendschule für "junge Erwachsene" ein. Kinder, die vierzehn Jahre alt geworden waren, mußten nicht weiter zur Schule gehen und wurden schnell in den dörflichen Produktionsprozeß eingegliedert. "I shall have the lads and lasses of sixteen to nineteen in my classroom twice a week, and I guess I'll tell them things about citizenship they won't forget." [NEILL 1915, S.154]

A Dominie Dismissed 1917

In einer dieser "Evening classes" lernte Neill die sechzehnjährige Jessie Irving kennen, mit der er sich verlobte. Die Verlobung wurde später auf Betreiben der Mutter wieder gelöst. Trotzdem setzte Neill seiner damaligen Verlobten in dem 1917 erschienenen zweiten Buch [vgl. NEILL 1972, S.122] A Dominie Dismissed in der Figur der Margaret ein Denkmal. Bezeichnenderweise wählte er den Namen Margaret - Margaret Ritchie war in der Schule in Newport 1906 seine erste große Liebe gewesen. Das Nachfolgebuch zu A Dominie's Log, das sich bald als Verkaufsschlager erwies [vgl. CROALL 1983b, S.97], schilderte die weitere Geschichte des Dorflehrers. Er wird aufgrund seiner unkonventionellen Unterrichtsmethoden entlassen, kommt aufgrund eines Lungenleidens nicht zum Militär und kehrt in die Ortschaft zurück, in der sein Nachfolger an der Schule einen rigiden Unterrichtsstil betreibt. Mit diesem führt der Dominie lange Gespräche, in denen deutlich wird, daß die Kinder - einmal selbstbestimmtes Lernen gewohnt - sich auf den herkömmlichen Unterrichtsstil nicht mehr einlassen und dem neuen Lehrer das Leben schwer machen. Parallel entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen dem Dominie und der zwanzigjährigen Margaret, die seinen Literaturkurs für junge Erwachsene besucht. Sie ist die Tochter einer Bauernfamilie, die in der Landwirtschaft ähnliche Prinzipien verfolgt wie der Dominie sie für die Kindererziehung propagiert. Anders als im wirklichen Leben heiratet der entlassene Dorfschullehrer schließlich seine Angebetete [vgl. hierzu auch THOMSON in: Manuskript o.J. (vermutlich 1979), S.1ff]. Neill versah das Buch mit der Widmung: "To the Original of Margaret" [NEILL 1917, S.474]. Als er es schrieb, lebte er bereits wieder in London und hatte zu Jessie Irving kaum mehr Kontakt.

Dieses zweite Buch wurde - ebenso wie A Dominie's Log - ein großer Verkaufserfolg. Der junge Autor hatte eine humoristische Schreibweise, und die Themen, über die er schrieb, stießen bei seinen Lesern auf großes Interesse. So war die Diskussion über die überkommenen Erziehungsmethoden an öffentlichen Schulen in vollem Gange und allenthalben etablierten sich Privatschulen, die unterschiedliche Reformkonzepte erprobten. Bevor Neill jedoch Erfahrungen im Reformschulsektor sammeln konnte, mußte er - anders als er es in A Dominie Dismissed schildert [7] - nun doch zum Militär.

Neill hatte sich als Freiwilliger gemeldet und mußte nun, am 2. März 1916, nach einer weiteren Musterung einrücken. Eigentlich wäre Neill gerne Kriegsdienstverweigerer gewesen, ihm fehlte jedoch die moralische Courage dazu [vgl. CROALL 1983b, S.77]. Bereits in der Studentenzeitschrift "The Student" hatte er sich 1912 über den Mut von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern geäußert: "The coward is not only unconventional; he is imaginative." [NEILL in: The Student 23.02.1912, S.295] Ähnliche Formulierungen finden sich auch in A Dominie Dismissed, das hauptsächlich während seiner Militärzeit entstand [vgl. NEILL 1917, S.638]. Tatsächlich wurde Neill nicht an die Front abgerufen - er erkrankte während der Ausbildung, wurde schließlich ehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen und zog sich zu einem längeren Erholungsaufenthalt nach Schottland zurück [vgl. CROALL 1983b, S.79f; vgl. auch NEILL 1972, S.138].

Bald begann Neill sich wieder Gedanken um eine Anstellung zu machen und bewarb sich darum bei dem amerikanischen Erzieher Homer Lane, um in der von diesem geleiteten Besserungsanstalt für jugendliche Verbrecher namens "Little Commonwealth" mitarbeiten zu können. Neill hatte von dieser Einrichtung durch eine Leserin seines Buches A Dominie's Log erfahren. Bei einem kurzen Besuch des Little Commonwealth noch während der Zeit seiner Militärausbildung hatte Neill Homer Lane kennengelernt und war Zeuge einer Heimversammlung geworden [vgl. NEILL 1917, S.520; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine 05/1964 H.13, S.19; sowie CROALL 1983b, 81ff; und SKIDELSY 1969, S.114]. "That weekend was perhaps the most important milestone in my life. Lane sat up till the early morning telling me about his cases. I had been groping for some philosophy of education but had no knowledge of psychology." [NEILL in: Id-Magazine Okt./1960, S.3; vgl. auch NEILL 1972, S.170; sowie Vorwort Neills in: LANE 1928, S.5]

Homer Lane kam ursprünglich aus den Vereinigten Staaten, wo er sich durch die Leitung verschiedener Erziehungseinrichtungen einen Namen gemacht hatte. Anfangs hatte er als Handwerkslehrer schwedischen "Slöjd"-Unterricht erteilt. Slöjd bedeutet sinngemäß "Handfertigkeit" und bezieht sich auf die Arbeit mit natürlichen Werkstoffen wie Holz und Textilien. Auf diese Weise sollten die Kinder durch den Umgang mit dem Material Respekt vor handwerklichen Arbeitsweisen entwickeln [vgl. WILLS 1964, S.54f]. Die amerikanische "Sloyd"-Bewegung, der Lane entstammte, hatte sich zum Ziel gesetzt, die manuelle Arbeit im Gegensatz zum Schreibtischlernen zur Grundlage der Elementarerziehung zu machen [vgl. SKIDELSKY 1969, S.216].

Im Little Commonwealth wurde Lane von einer Gruppe interessierter Strafvollzugsreformer unter der Leitung des Earl of Sandwich die Möglichkeit gegeben, seine Experimente in eigener Regie durchzuführen [vgl. Wills 1964, S.129ff]. Die neu gegründete Erziehungseinrichtung befand sich auf einer Farm mit unterschiedlichen Gebäuden, die nach und nach von Kinder- und Jugendlichengruppen besiedelt wurden. Weitere Gebäude wurden von den Bürgern dieser "Republik" selbst gebaut[vgl. WILLS 1964, S.135]. Die Kinder und Jugendlichen waren entweder Waisen oder wurden von ihren Eltern, die nicht mit ihnen zurecht kamen, geschickt. Viele von ihnen hatten Bewährungsstrafen abzuleisten [vgl. KAMP 1986, S.271f]. Die älteren Kinder bestimmten das Geschick der Gemeinschaft in wöchentlichen Zusammenkünften [vgl. BAZELEY 1928, S.89]. Lane nannte diese Form der Selbstverwaltung "self-government" - Neill übernahm den Begriff von ihm. In diesen Versammlungen machten die Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Gesetze und wählten Funktionäre wie Richter und Schatzmeister. Lanes therapeutische Maßnahmen hielten sich im Hintergrund dieses Grundmusters, griff er jedoch ein, geschah dies oft in Form psychoanalytisch motivierter "paradoxer Sanktionen". So "bestrafte" das self-government beispielsweise Gesetzesbrecher mit Urlaub, für dessen Kosten die Gemeinschaft aufkam [vgl. KAMP 1986, S.278], oder Lane forderte einen Jungen, der das ganze Geschirr zertrümmert hatte, auf, nun auch noch Lanes Uhr zu zerschlagen [vgl. NEILL 1921b, S.325ff; vgl. auch NEILL in: Anarchy 4(1964), H.39, S.145; sowie NEILL in: Lane 1928, S.6f; und WILLS 1964, S.140f]. Neill sollte später - in der Nachfolge Lanes - Kinder zum Einwerfen von Fensterscheiben ermutigen. Er hatte sich allerdings bereits, bevor er Lane kennenlernte, Gedanken über die Anwendung ähnlicher "paradoxer Strafen" gemacht [vgl. NEILL 1915, S.119; vgl. auch SKIDELSKY 1969, S.113].

Das Little Commonwealth bestand von 1913 bis 1918, als ein Skandal zu seiner Schließung führte[vgl. WILLS 1964, S.216ff; vgl. auch BAZELEY 1928, S.151ff]. "The Little Commonwealth was closed because an adolescent girl ran away after stealing. When cought by the police she made the excuse that Lane had assaulted her sexually. The Home Office sent down a learned K.C. to investigate; he found no evidence against Lane, but apparrently didn't like the free system, for the Home Office decided that they would withdraw its licence if the committee did not appoint another superintendent in Lane's stead. The committee, knowing that Lane would never assault any girl, chose rather to close down the Commonwealth" [NEILL 1949, S.131], schrieb Neill später über die Vorgänge, deren tatsächlicher Ablauf nie ans Tageslicht gelangte. Der Bericht der Untersuchungskommission wurde trotz mehrfacher Aufforderung durch David Wills, den Biographen Homer Lanes, nie veröffentlicht und ist - wie die Aufsichtsbehörde 1975 mitteilte - später vernichtet worden [vgl. CROALL 1983b, S.83]. Als Antwort auf Neills Bewerbung zur Mitarbeit im Little Commonwealth teilte Lane ihm mit, daß die Einrichtung geschlossen worden sei. "Enttäuscht dachte ich, daß ich nun das zweitbeste versuchen sollte. So schrieb ich an John Russell, bat ihn um eine Anstellung, bekam sie und wurde Lehrer an der K.A.S. [King Alfred School]." [NEILL 1972, S.139 (Hinzufügung von mir)]

Die King Alfred School, eine koedukative Reformschule im Londoner Stadtteil Hampstead [vgl. hierzu SKIDELSKY 1969, S.116], wurde von John Russell geleitet. "Er war Gott, ein liebenswerter, alter Gott, aber eben doch ein Gott - und ein Moralist von großer Kraft und Stärke." [NEILL 1972, S.140; vgl. auch ebd., S.325; sowie NEILL in: Id-Magazine No.11/1963, S.20] Als Neill im Dezember 1918 Lehrer an Russells Schule wurde, bemühte er sich, die Freiheiten, die ihm eine private Schule bot, gründlich auszuschöpfen. Er engagierte sich in der Theaterarbeit [vgl. HEMMINGS 1972, S.14] und nutzte die Schul-Werkstatt im Unterricht [vgl. CROALL 1983b, S.88]. Sein bedeutsamstes Experiment war die Einführung des self-government nach Homer Lanes Vorbild in seiner Klasse. "Ich klagte darüber, daß die Schule nicht mit der Zeit ginge. Man müsse die 'Selbstverwaltung' einführen. Der liebe alte J.R. breitete die Hände aus und sagte mit seinem üblichen Lächeln: 'Nur zu, Neill, Versuchen Sie's! Versuchen Sie's!'" [NEILL 1972, S.141; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine Okt./1961, S.3f] Die Selbstverwaltung scheiterte schließlich. Die Kinder betrieben sie ausschließlich in den Stunden, in denen sie bei Neill Unterricht hatten. "Und natürlich sahen sie in der 'Selbstverwaltung' eine Möglichkeit, eine Stunde lang in meiner Klasse Dampf abzulassen." [NEILL 1972, S.141] Gleichwohl muß es die eine oder andere Sitzung gegeben haben, in der die Selbstverwaltung in Neills Augen zu Ergebnissen geführt hat. Er schildert eine Episode:

One day a class was holding a self-government meeting, and they sent for me. I was annoyed because I was having my after-dinner smoke in the staff-room. However I went up. "Hullo!" I said as I entered, "what do you want?" Eglantine the chairman said: "A member of this class has insulted you." "Impossible!" I cried.

Then Mary got up. "I did," she blurted out nervously; "I said you were just a silly ass." "That's all right!" I said cheerfully, "I am," and I made for the door. Then the class got excited.

"Aren't you going to do anything?" asked Ian in surprise. "Good Lord, no!" I cried. "Why should I?" "You're on the staff," said Ian. "Look here," I said impatiently, "I hereby authorise the crowd of you to call me any name you like."

[NEILL 1921b, S.385]



Die übrige Lehrerschaft protestierte, als Neill seinen Schülern auch noch zugestand, sich in ihren Selbstverwaltungssitzungen über die einzelnen Lehrer und Lehrerinnen zu ereifern [vgl. NEILL 1921b, S.385ff], und schließlich sagte John Russell zu ihm: "Einer von uns beiden muß gehen, Neill." [NEILL 1972, S.141; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine Okt./1961, S.4] Neill ging. Jahre später formulierte Neill seine Lehre aus dieser Erfahrung: "You can have true self government only when living in a community all the time." [NEILL in: TES 14.02.1964]

& The Booming of Bunkie 1919

1919 erschien Neills drittes Buch The Booming of Bunkie. Er schrieb darüber: "Ein Buch voller fauler Witze, in manchen Partien ganz gut. Die Dorfkapelle konnte nur eine Melodie spielen, und da die Musikanten sie stehend spielten, wußten die Einheimischen, daß es die Nationalhymne war." [NEILL 1972, S.213] Es erzählt die Geschichte von Peter MacMunn, der zufällig nach Bunkie, einem schottischen Küstenort, kommt (das Vorbild war Lunan Bay westlich von Neills Geburtsort Forfar [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.151]), den er im Laufe der Handlung durch "moderne" Öffentlichkeitsarbeit in einen populären Ferienort verwandelt. Er verliebt sich in Evelyn, die Tochter eines Gutsbesitzers, und es gibt ein Happy-End. 1964 plante der Vater eines Kindes an Neills Schule, das Buch als Stoff für ein Musical zu verwenden, er kam jedoch bald darauf bei einem Verkehrsunfall ums Leben [vgl. NEILL 1972, S.213; vgl. auch CROALL 1983a, S.150], und der Plan wurde nicht verwirklicht.

Während seiner Zeit als Lehrer an der King Alfred School hatte Neill Lilian Neustätter, die Mutter eines Schülers, kennengelernt [vgl. NEILL 1972, S.271]. Sie war eine mit Dr. Otto Neustätter, einem Deutschen, verheiratete Australierin, die sich bei Kriegsausbruch in England aufhielt und - auch aufgrund ihrer Sympathien für die englische Seite - nicht nach Deutschland und zu ihrem Ehemann zurückkehrte. Ihr Sohn ging in Neills Klasse, und es gehörte zum Konzept der Schule, daß die Lehrer die Eltern der Kinder gelegentlich besuchten. Zusammen mit Lilian Neustätter entwarf Neill bei diesen Besuchen eine Schulutopie, deren praktischen Elemente Lilian Neustätters Beitrag waren. Hauswirtschaftliche und organisatorische Aspekte waren Neill stets fremd. Nach Kriegsende kehrte Lilian Neustätter jedoch zurück zu ihrem Mann, der damals im Dresdener Hygienemuseum arbeitete[vgl. KAMP-Manuskriptkorrektur 1995, S.312 vgl. dagegen: CROALL 1983b, S.109ff].

Dort gab er an, aufgrund seiner unkonventionellen Lehrmethoden von seinem Amt suspendiert worden zu sein.

& Carroty Broon 1921

Zeichnung Neills: Kind auf einem Fahrrad mit Pedalen am Lenker und einem Propeller am Heck (aus Carroty Broon 1921)
Im Alter von 38 Jahren schrieb Neill den Roman Carroty Broon, eine "fictional autobiography of my boyhood." [NEILL in: CROALL 1983a, S.171; vgl. auch S.153, 167; sowie NEILL 1972, S.213] Der Roman erzählt die Kindheit des rothaarigen Peter Brown (daher "Carroty"; Alexander Neill wurde in seiner Kindheit aufgrund seiner roten Haare auch "Sandy" genannt [vgl. NEILL 1915, S.176; vgl. auch CROALL 1983b, S.50]). Kindliche Verliebtheit, die Auseinandersetzung mit der Religion, das strenge Schulwesen und die Armut der schottischen Landbevölkerung werden geschildert. Insbesondere die Darstellung der Erfahrungen, die der kleine Peter während der Kartoffelernte macht, stimmen mit Neills früheren und späteren Schilderungen dieser "Schufterei" überein. Als Peter sich entschließt, Erfinder zu werden, experimentiert er mit Fahrrädern[vgl. NEILL 1921a, S.221 (vgl. hierzu auch CROALL 1983b, S.7)], wie Neill es im Alter von dreizehn Jahren tat [vgl. NEILL 1972, S.40f].

Die Wanderprediger, die vorübergehend die kleine Gemeinde Peter Browns missionieren, bis sie nach deren Abschied wieder in Sünde verfällt [vgl. NEILL 1921a, S.38ff], waren auch in Neills Heimatort [vgl. NEILL 1972, S.60f, 213].

Neill widmete das Buch, das 1921 erschien, seiner Schwester, die auch in der Figur der Bets in dem Roman abgebildet wird. Die Hauptfigur, der rothaarige ("Carroty") Peter Brown (schottisch "Broon") und sein Geschick sind ein Abbild von Neills eigener Kindheit. Aktuelle Geschehnisse, die Neills Leben bewegten, wurden in die Kindheitsschilderung zurückversetzt. So stirbt beispielsweise die Schwester, Bets und die Schilderung ihres Todes und die ihn begleitenden Umstände stimmen weitgehend mit Neills späteren Schilderungen von Clunies Tod überein [vgl. NEILL 1921a, S.141ff; vgl. auch NEILL 1972, S.142; sowie NEILL 1921b, S. 330].

In der Londoner Zeit intensivierte Neill seine Kontakte zu Homer Lane. Er war nun ein häufiger Gast in Lanes Haus und verfolgte dessen Vorträge über Psychoanalyse. "Ich wußte damals noch nichts über Psychoanalyse und hatte kaum von Freud gehört: ich hatte niemals daran gedacht, mich analysieren zu lassen, bis Lane eines Tages zu mir sagte, seiner Meinung nach sollte eigentlich jeder Lehrer eine Analyse durchmachen. Er bot mir an, mich unentgeltlich anzunehmen." [NEILL 1972, S.168] Lane, der acht Jahre älter war als Neill, verdiente damals als Analytiker in London recht gut [vgl. Wills 1964, S.202f]. Neill nahm das verlockende Angebot an und unterzog sich "private lessons", wie Lane seine analytischen Sitzungen nannte [vgl. CROALL 1983b, S.90f]. Die Traumdeutungen, die Lane bei seinen "Schülern", wie er seine Patienten zu nennen pflegte, anstellte, waren höchst willkürlich [vgl. NEILL 1972, S.169], und trotzdem nahmen seine Jünger, wie Neill sie - sich selbst einschließend - bezeichnete, Lanes Ansichten und Behauptungen für bare Münze [vgl. NEILL 1972, S.171; vgl. auch NEILL in: Anarchy 4(1964), H.39, S.144; sowie NEILL in: Lane 1928, S.11].

Neill hatte in einem Vortrag Lanes Ideen referiert und Lane fühlte sich fehlinterpretiert. So kam es, daß sich die beiden zerstritten und Neill eine Analyse bei Maurice Nicoll, einem Jungianer, aufnahm [vgl. NEILL 1972, S.171; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.97]. Die sonntagabendlichen Besuche in Lanes Haus und die gemeinsamen Mahlzeiten an den Wochenenden wurden dadurch aber nicht unterbrochen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.97]. Schließlich kehrte er zu Lanes kostenloser Analyse [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.100] zurück und begann kurze Zeit darauf - von Lane dazu aufgefordert - selbst, eine junge Lehrerin zu analysieren [vgl. NEILL 1921b, S.369; vgl. auch CROALL 1983b, S.94]. Angeregt durch die Gespräche mit Homer Lane schrieb Neill damals auch einen Artikel in "The New Age" mit dem Titel Psycho-Analysis in Industry. Der Inhalt bestand aus einem Schnelldurchgang durch die Theorien Freuds, Jungs und Adlers auf einer halben Seite und resultierte - nachdem auch der Name Nietzsche gefallen war - in einer ebenso langen Anpreisung des von Homer Lane eingeführten self-government als Lösungsformel für alle gesellschaftlichen Probleme [vgl. NEILL in: The New Age 04.12.1919, S.69].

& A Dominie in Doubt 1921

In dieser Zeit entstand A Dominie in Doubt, das Fortsetzungsbuch zu A Dominie Dismissed. Neill widmet das 1921 erschiene Buch Homer Lane: "To Homer Lane, whose first lecture convinced me that I knew nothing about education. I owe much to him, but I hasten to warn educationists that they must not hold him responsible for the views given in these pages. I never understood him fully enough to expound his wonderful educational theories." [NEILL 1921b, S.224]

Das Buch erzählt die weitere Geschichte des entlassenen Dominie in Form von Dialogen mit seinem Nachfolger, der ein konventioneller Lehrer ist. Die Ratschläge, die der Nachfolger von der Hauptfigur bekommt, muten wie eine Quintessenz aus Neills neu gesammelten Erfahrungen an der King Alfred School und den häufigen Unterhaltungen mit Lane an. So philosophiert der Dominie über Self-government [vgl. NEILL 1921b, S.254, S.278] und Koedukation [vgl. NEILL 1921b, S.290ff]. Des weiteren gibt er Ratschläge über die Lektüre von Büchern zur neuesten Psychologie. Dabei werden Autoren wie Sigmund Freud, Carl G. Jung, Alfred Adler, Sandor Ferenczi, Oskar Pfister und Maurice Nicoll genannt [vgl. NEILL 1921b, S.341f]. Im Laufe der Geschichte entschließt sich der Dominie, eine eigene Schule in London zu gründen, findet aber kein geeignetes Gebäude und fährt stattdessen nach Holland, um dort österreichische Waisenkinder für den Aufenthalt in England abzuholen.

Diese Vorgänge sind (mit Ausnahme des Vorkommens eines Schülers namens Carroty Broon [vgl. NEILL 1921b, S.307]) autobiographische Skizzen des tatsächlichen Geschehens. In der Tat suchte Neill in jener Zeit ein geeignetes Gebäude, in dem er eine eigene Schule gründen wollte. Die Mieten in Londons näherer Umgebung machten diesen Plan jedoch unausführbar [vgl. CROALL 1983b, S.97; vgl. auch NEILL 1921b, S.410, 415]. Er reiste tatsächlich nach Holland. Diese Reise hing mit seiner neuen Beschäftigung zusammen. Neill hatte sich erneut dem Journalismus zugewandt. Diesmal jedoch beschäftigte er sich als Journalist mit der neuen Erziehungsbewegung: im Frühjahr 1920 erschienen die ersten Ausgaben der Zeitschrift "Education for the New Era". Die Herausgeberin Beatrice ENSOR kam aus der theosophischen Bewegung, die bereits 1875 in New York begründet worden war [vgl. hierzu SKIDELSKY 1969, S.118f: vgl. zu B.E. auch: BOYD/RAWSON 1965, S.67ff; vgl. auch Kruip 1992, S.90], und ursprünglich galt die Zeitschrift als das Organ des englischen Zweigs dieser Bewegung, der "Theosophical Fraternity in Education", deren Sprecherin Beatrice ENSOR war [vgl. CROALL 1983b, S.101; vgl. auch SELLECK 1972, S.34, 45].

Beatrice ENSOR forderte Neill im Frühjahr 1920 auf, als Mitherausgeber der New Era mit ihr zusammenzuarbeiten. Neill, der den Posten an der King Alfred School aufgegeben hatte, nahm das Angebot an, und bereits in der dritten Ausgabe der Zeitschrift im Juli 1920 schrieb er das Editorial [vgl. hierzu auch: SKIDELSKY 1969, S.129f]. Beatrice ENSOR fügte diesem Vorwort lediglich einige erklärende Worte hinzu: "Owing to the fact that I have had much to do in my capacity of Secretary to the Children's Famine Area Comitee the editing of this number has been left entirely to my co-editor Mr. A. S. Neill. As his interest is in the psychological side of education the main portion of this issue is devoted to the new psychology." [ENSOR in: New Era 1(1920), S.67] Tatsächlich befindet sich nur ein einziger Artikel über Psychoanalyse in dem Heft. Weitere Artikel beschäftigen sich mit Schulbesuchen, und ein Schultheaterstück, das Neill für die Schülerinnen und Schüler der King Alfred School geschrieben hatte, ist abgedruckt.

Die Schilderungen von Schulbesuchen enthalten einen Bericht Neills über seinen Besuch holländischer Schulen. Beatrice ENSOR hatte hatte für das Children's Famine Area Comitee daran mitgewirkt, daß 458 österreichische Kinder in England Unterkunft fanden. Die Kinder wurden nun von ihr in Rotterdam abgeholt und Neill nahm an dieser Mission teil [vgl. NEILL in: New Era 1(1920), S.67]. Neill, der nie vorher eine Auslandsreise unternommen hatte, war bereits einige Tage vorher nach Holland gefahren, um dort Ausschau nach einer Institution zu halten, in deren Rahmen er seine Schulutopie verwirklichen konnte [vgl. NEILL in: New Era 1(1920), S.74; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.58]. Er besuchte die unterschiedlichsten pädagogischen Einrichtungen in Orten wie Rotterdam, Den Haag, Amersfoort, Laren, Amsterdam und Leiden [vgl. NEILL 1921b, S.417ff; vgl. auch CROALL 1983b, S.113f; NEILL 1972, S.144f] und resümierte schließlich enttäuscht: "Hier gab es keine neuen Dinge in der Erziehung: alles, was ich sehen konnte, war die Wissenseintrichterung, die wir an unseren englischen Internatsschulen Erziehung nennen." [NEILL in: New Era 1(1920), S.73]

Die achte Ausgabe der "New Era", das Herbstheft 1921, wurde ausschließlich von Neill betreut und behandelte das Thema der Selbstregierung. "It may serve a useful purpose if occasionally a whole issue of the magazine is devoted to some particular phase of the new ideals in education. Thus this number deals with Self-Government in Schools" [ENSOR in: New Era 2(1921), S.156], schrieb Beatrice ENSOR im Vorwort dieser Ausgabe. In dem Heft waren diverse Artikel zum Thema self-government abgedruckt, die nicht immer mit Neills Sicht der Dinge übereinstimmten. Dies machte er bereits in seinem Vorwort deutlich: "Most of our contributors to this issue have declared against a sudden introduction of self-government. I disagree. I am all for the dramatic moment, the abreaction of the repressed emotions." [NEILL in: New Era 2(1921), S.157] Im Anschluß hieran schildert er seine eigenen Erfolge, aber auch die Mißerfolge bei der Einführung von self-government an Schulen, die er zu diesem Zweck besucht hatte [vgl. hierzu auch à S.25].

Überall in Europa entstanden damals Reformschulen, die ihren Ursprung in der Kritik an den veralteten Erziehungsidealen des etablierten Bildungswesens hatten. Überwiegend handelte es sich hierbei um private Internatsschulen oder Schulen in sozialen Brennpunkten der Städte. In das staatliche Bildungssystem drangen die Reformbestrebungen nicht oder nur sehr allmählich ein. Merkmale dieser neuen Schulen waren beispielsweise die Einführung von Koedukation, Loslösung von festen Stunden- und Fachschemata, Auflösung von Klassen- und Jahrgangsverbänden, Ersetzen von Lehrbüchern durch teilweise selbst erstellte Nachschlagewerke, Schuldruckereien, Schulgärten, ... - also die experimentelle Erprobung unterschiedlichster neuer pädagogischer und auch psychologischer Erkenntnisse. Nur wenige der Schulreformer entwickelten einen festen Systemrahmen für ihr Bildungskonzept. Meist experimentierten sie mit wechselnden Elementen. Wenigen von ihnen gelang es, aus diesen Experimenten heraus eine eigene Reformschulidee zu formulieren und eine anhaltende Schultradition zu begründen.

Neill besuchte die Schulen von Norman MacMunn und Caldwell Cook, die durch ihre jeweiligen Bücher "The Path to Freedom in the School" (1914) und "The Play Way" (1917) in der "progressiven" Erziehungsdiskussion Englands eine bedeutende Rolle spielten. Norman MacMunn, der bereits früh (1925) starb, leitete die Schule in Tiptree Hall, nordöstlich von London, die vor allem von Arbeiterkindern besucht wurde. Besonders imponierte Neill, daß Normann MacMunn während des Unterrichts zu rauchen pflegte. Darüber hinaus war Neill von der Arbeitsatmosphäre an der Schule begeistert. "His boys filled the room with noisy talk as they worked, and never have I seen children do more work with so much joy." [NEILL 1921b, S.363] In seinem Buch "The Path to Freedom in the School" wendet sich MacMunn gegen das klassische Erziehungsideal Rousseaus und übte Kritik an Maria Montessori, deren Methode in jenen Jahren in England starke Popularität erreichte. MacMunns erklärtes Vorbild, so schreibt er selbst, war Homer Lane und die mit ihm in die englische Erziehungsdiskussion eingebrachte neue Psychologie [vgl. MacMunn 1914, S.7f]. Später verdeutlichte Neill seine Beziehung zu MacMunn: "Dear dead Norman MacMunn and I had a great admiration for each other because at conferences we used to sneak off to the nearest pub and swap stories." [NEILL in: New Era 13(1932), S.297] Caldwell Cook, der ebenso wie Norman MacMunn Mitglied der "New Ideals Group" war, erläuterte in seinem Buch "The Play Way" in Anlehnung an Maria Montessori, welche Bedeutung das kindliche Spiel habe. "My criticism of his book is that he uses the play way with an end in view ... learning; but to me play has no ulterior motive barring fun" [NEILL in: CROALL 1983a, S.33; vgl. auch NEILL 1953, S.73], schrieb Neill später in einem Brief über Caldwell Cook. Dies war jedoch der einzige Aspekt an Cooks Methode, den Neill kritisierte. Bei seinem Besuch an Cooks Schule, der Perse School in Cambridge, war Neill von dessen Pädagogik sehr angetan [vgl. CROALL 1983b, S.105; vgl. auch NEILL 1921b, S.331, 341].

Eine weitere Schule, die Neill besuchte, war die Prestolee Village School von E.F. O'Neill [vgl. SELLECK 1972, S.65f]. "I have seen his school and it is a pure delight. He is a great man" [NEILL in: New Era 1(1920), S.95]. O'Neill hatte den Stundenplan abgeschafft, einen Schulgarten angelegt und ermutigte die Kinder zusammenzuarbeiten [vgl. CROALL 1983b, S.103f]. Neill schrieb damals: "I don't think he has any theoretical knowledge, and I believe that anyone could trip him up over Freud or Jung, Montessori or Froebel, Dewey or Homer Lane; but the man seems to know it all by instinct or intuition." [NEILL 1921b, S.454; vgl. auch NEILL 1936, S.26]

Mit der seit der England-Reise ihrer Begründerin 1919 hochaktuellen Montessori-Pädagogik mußte Neill sich während seiner Beschäftigung bei der New Era ebenfalls auseinandersetzen. Er tat dies auf seine ganz persönliche Weise. "Not long ago I entered a Montessori school, and I spoke not one word. In five minutes the insets and long stairs were lying neglected in the middle of the floor, and the kiddies were scrambling over me. I felt very guilty for I feared that if Montessori herself were to walk in she would be indignant. I cannot explain why I affect kiddies in this way." [NEILL 1921b, S.249; vgl. hierzu auch: NEILL 1967, S.74] Neills Einstellung zu Maria Montessoris Erziehungsmodell war geprägt von einer eher gefühlsmäßigen Ablehnung: "No, the Montessori world is too scientific for me; is too orderly, too didactic. The name 'didactic apparatus' frightens me." [NEILL zitiert in: CROALL 1983b, S.105; vgl. auch NEILL 1921b, S.361ff; sowie NEILL 1939, S.123; und NEILL 1967, S.131] Eine gewisse Bewunderung für das System konnte diese Ablehnung nicht überwinden helfen: "The Montessori system, wonderful as it is, is an artificial way of making the child learn by doing. It has nothing creative about it." [NEILL 1926, S.103]

Bei weiteren Schulbesuchen erzielte Neill ähnliche "Erfolge" wie bei seiner Visite in der Montessori-Schule. So wurde an der Wychwood-School in Oxford anläßlich eines Wochenendbesuchs Neills innerhalb einer halben Stunde ein self-government eingeführt, das durchaus Bestand hatte [vgl. CROALL 1983b, S.107; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.36; sowie NEILL in: New Era 2(1921), S.157]. Diese Begebenheit wurde zum Anlaß genommen, Neill zu einer weiteren Schule, der St Christopher's School in Letchwood Garden City, einzuladen, damit er auch hier dasselbe tun sollte [vgl. CROALL 1983b, S.107f; vgl. auch NEILL in: New Era 2(1921), S.158]. Die Einrichtung von self-government durch einen angereisten "Missionar" entsprach eigentlich nicht der Grundauffassung Neills. Beatrice ENSOR hatte in dem Themenheft der "New Era" dazu folgendes geschrieben: "Any scheme for self-government must come as a demand from the children themselves and not be imposed upon them by authority." [ENSOR in: New Era 2(1921), S.155] Neill widersprach ihr nicht, war jedoch gleichzeitig - wie schon angeführt wurde - von der Notwendigkeit einer schockartigen Einführung des self-governments überzeugt [vgl. NEILL in: New Era 2(1921), S.157].

Während der Zeit seiner Beschäftigung bei der "New Era" unternahm Neill auch Vortragsreisen innerhalb Englands und Schottlands. Dabei hielt er sich in London, Edinburgh und Dundee sowie in seiner Heimatstadt Forfar auf [vgl. HEMMINGS 1972, S.36]. Themen dieser Vorträge waren Mechanismen des Denkens, Psychoanalyse, das Unterbewußte des Kindes, die Psychologie des Prügelpädagogen, Self-government und Massenpsychologie [vgl. CROALL 1983b, S.106].

Im Sommer 1921 veranstaltete die "New Era" eine Konferenz in Calais. An dieser Konferenz nahmen mehr als hundert Pädagoginnen und Pädagogen aus vierzehn Ländern teil[vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.70], und Neill hielt einen Vortrag mit dem Titel The Abolition of Authority. Eingeleitet wurde der Vortrag, wie so viele Vorträge Neills, mit einer erheiternden Anekdote: "I define authority as the force outside a personality that thwarts the libido of that personality. But then I should define libido, and I don't know if I can. Libido is the life force, the life force that expresses itself as interest. At the present moment part of my libido is directed to the task of making you interested. Last night my libido went into fox-trotting with Miss King down at the Casino. Now you know what libido is." [NEILL Vortragsmanuskript 30.07.-12.08.1921, S.63] Im Verlauf seines Vortrags wies Neill auf die Gefahren des moralisierenden Umgangs mit Kindern hin und schloß mit der Erkenntnis, daß die Kindergruppe ihre Regeln selber aufstellen könne [vgl. NEILL Vortragsmanuskript 30.07.-12.08.1921, S.66; vgl. auch CROALL 1983b, S.114; sowie HEMMINGS 1972, S.37; und BOYD/RAWSON 1965, S.72]. Unvorbereitete Reden hielt Neill außerordentlich ungern[vgl. NEILL 1972, S.220, 339; vgl. auch NEILL 1921b, S.270f], hatte er jedoch seine Notizen bei sich, benutzte er sie nicht. "Ich hatte ein unheimliches Gefühl für das Publikum bei Vorträgen; wenn ich auf das Podium stieg, wußte ich, ob ich bei den Zuhörern Zustimmung finden würde oder nicht. [...] Einer meiner Tricks war, eine lustige Geschichte zu erzählen, sobald die Leute gelangweilte Gesichter machten oder mit Papier raschelten." [NEILL 1972, S.220f]

Die Calais-Konferenz führte zur Gründung der "New Education Fellowship" [vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.72f]. Diese Organisation faßte die internationalen progressiven Erziehungsexperimente zusammen und bildete bald nationale Sektionen, so daß sie sich zu einer Lobby der internationalen Reformpädagogik entwickelte. Die deutsche Sektion dieser Organisation - der "Weltbund für die Erneuerung der Erziehung" - wurde erst 1929 auf der Konferenz in Helsingör gebildet. Seine erste Leiterin war die Schweizerin Elisabeth Rotten. Sie war als einzige deutschsprachige Vertreterin bereits in Calais anwesend, weil Frankreich drei Jahre nach Ende des ersten Weltkriegs Deutschen nach wie vor die Einreise untersagte [vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.70]. Auch wenn Neill viel später das Gegenteil behauptete [vgl. NEILL 1972, S.196], so war er seinen Angaben von 1932 zufolge nie Mitglied der New Education Fellowship "because I could not see it going the way I wanted to go." [NEILL in: New Era 13(1932), S.296; vgl. auch CROALL 1983b, S.164; sowie NEILL in: Id-Magazine Okt./1960, H.3, S.4]

Im August 1921 reiste Neill, von der "New Education Fellowship Conference" in Calais kommend, über Brüssel nach Salzburg, wo er an einer weiteren Konferenz teilnahm. Bei dieser Konferenz - organisiert von Beatrice ENSORs "Women's International League for Peace and Freedom" - ging es um Psychologie, Erziehung und Politik [vgl. NEILL in: New Era 2(1921), S.156]. Neill hielt einen Vortrag über Erziehung, dessen Inhalt nicht überliefert ist, nahm an den übrigen Veranstaltungen aber nicht teil, da die Referate überwiegend auf deutsch oder französisch gehalten wurden. Er sah sich stattdessen die Stadt an. Er schreibt darüber wie folgt: "Here every one is Bavarian in costume, and I feel conspicuous in my English clothes. To-day I bought a pair of Bavarian braces - with a green band across the chest - and a velour hat with a wonderful bunch of feathers on it, a glorious velour, grey and soft as silk. I walked forth this afternoon dressed to kill - Bavarian braces, hat feather; London coat and vest; Glasgow boots and Edinburgh leggins." [NEILL 1923, S.17]

Bereits während dieser Reise erkannte er, daß sein englisches Geld auf dem Kontinent einen ungeahnt hohen Wert hatte [vgl. NEILL 1923, S.14]. In seiner Autobiographie gab er zu: "Ich nehme an, daß die Valuta mich blasiert machte, denn ich lebte wie ein Millionär." [NEILL 1972, S.146]



Fußnoten:

[5] Er war aufgrund einer Venenentzündung ausgemustert worden.

[6] Anna Pawlowna Matwejewa war eine der berühmtesten Ballettänzerinnen zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sammte aus Russland, lebte jedoch lange Jahre in London.

[7] Dort gab er an, aufgrund seiner unkonventionellen Lehrmethoden von seinem Amt suspendiert worden zu sein.



Diss (2002): Axel Kühn: Alexander Neill, Uni Tübingen
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