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Diss 2020: Axel Kühn: A.S. Neill, Uni Tübingen


Deutschland

Von Salzburg aus reiste Neill unmittelbar nach Dresden, wohin ihn Lilian Neustätter eingeladen hatte, die Australierin, die er bereits 1918 während seiner Tätigkeit an der King Alfred School in London kennengelernt hatte. Damals hatten sie gemeinsam eine Schulutopie entworfen, deren Verwirklichung nun in greifbare Nähe rückte. Lilian Neustätter lebte mit ihrem Ehemann Dr. Otto Neustätter in Hellerau, einem Vorort Dresdens, der in Form einer "Gartenstadt" als eines der ersten Projekte des 1907 in München gegründeten deutschen Werkbunds angelegt worden war [vgl. MICHELIS 1991, S. 16ff; vgl. auch: HARTMANN 1976, S. 46ff; sowie CAMPBELL 1989, S. 27f]. Eines der dominierenden Gebäude der Gartenstadt Hellerau ist das Festspielhaus, das vom Architekten Heinrich Tessenow als Jaques-Dalcroze-Schule 1911 gebaut worden war. Neill beschrieb deren Betrieb in einem Bericht für die "New Era" [8]. Neills Beitrag bestand aus einem Brief, der an die Herausgeberin Beatrice Ensor gerichtet war. Er begann mit den Worten: "Dear Mrs. Ensor, I know you picture me spending my time running round visiting the schools of Germany. The truth is that I spend the day lying in the sun, clad in a pair of bathing drawers that would not satisfy the critical eye of Councillor Clark. Of course the dishonest explanation is that the schools are all closed for the summer vacation, but the real truth is that at the present moment I am much more interested in sunbaths, beer, and baccy, than in all the new educational experiments under the sun. " [NEILL in: The New Era 2(1921), S. 220f] Tatsächlich sollte Neill im Auftrag der "New Era" durch Deutschland reisen, um die unterschiedlichsten Reformschulen zu besuchen und über ihre Arbeit zu berichten. In der Fortsetzung des Briefes an Beatrice Ensor schrieb er jedoch: "I warn you solemnly that I am not coming back to London until I have taken a full course here. " [NEILL in: The New Era 2(1921), S. 221]

1921 wurde die Rhythmik-Abteilung der Schule von Christine Baer-Frissell, einer Schülerin Emile Jaques-Dalcrozes, geleitet. Ursprünglich war das Schulgebäude, das nun die unterschiedlichen Schulen beherbergen sollte, für den Schweizer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze errichtet worden, der sich aber nur wenige Jahre in Hellerau aufhielt [vgl. BOYD/RAWSON 1965, S. 51f; vgl. auch SELLECK 1972, S. 43; sowie FASSHAUER 1988, S. 30f]. Am Giebelportal des monumentalen Bauwerks war ein großes Ying/Yang-Symbol befestigt, daß die Schule auch im Briefkopf führte [9].


Das Ying/Yang-Zeichen, das den Giebel des Festspielhauses zierte,
mag als Vorlage für das spätere Schulwappen in Summerhill gedient haben.

Christine Baer-Frissell bot Neill an, neben ihrer Schule und der in einem der beiden Seitenflügel untergebrachten "Neuen deutschen Schule" eine internationale Schule nach seinen Vorstellungen zu betreiben [vgl. CROALL 1983b, S. 116; vgl. auch NEILL 1923, S. 63f; sowie E. MUIR 1968, S. 199]. Neill, der bereits an der deutschen Schule Englischunterricht erteilt hatte [vgl. Schulprospekt der Internationalen Schule, Christmas MCMXXI] und den der günstige Wechselkurs zum "reichen Engländer" machte, ergriff diese Gelegenheit und gründete im Alter von 37 Jahren seine erste eigene Schule. Er investierte seine ganzen Einkünfte aus England in dieses Unternehmen [vgl. W. MUIR 1968, S. 79]. "I had £400 saved and that made me a rich man in a country where the mark had little value. " [NEILL in: Id-Magazine Okt. /1960, S. 4] Die Schule, die auf diese Weise ab Dezember 1921 Gestalt annahm, war mit den unterschiedlichen Bildungseinrichtungen im Gebäude der Dalcroze-Schule verschränkt. So besuchten die Rhythmik-Schülerinnen Christine Baers Neills internationale Schule, und Neill unterrichtete weiterhin Englisch an der "Neuen deutschen Schule" [vgl. NEILL in: New Era 2(1921), S. 32].

Zusammen mit Christine Baer hatte er ein Schulschema entworfen, das vorsah, daß die vierzehnjährigen Kinder einen Zweig der dreigliedrigen Schule selbst wählen sollten. Dabei konnten sie sich zwischen einem künstlerischen Zweig, einem handwerklichen Zweig und der Rhythmischen Gymnastik und den ihnen jeweils zuzuordnenden Schwerpunkten entscheiden [vgl. NEILL 1923, S. 65]. Ein weiterer naturwissenschaftlicher Zweig scheiterte an Neills Ablehnung der traditionellen naturwissenschaftlichen Fächereinteilung und der fehlenden finanziellen Mittel zur Realisierung seiner utopischen Vorstellungen: "If Stinnes were financing our school we should certainly think of making science prominent. But them we should have an engineering shop and make engineering prominent . . . and electricity, and architecture, and many other subjects. Having limited means we cannot take the broad way; we must specialise in the few subjects which in our opinion matter most. " [NEILL 1923, S. 66]

Neill hatte in der "New Era" inseriert und die Gründung der "internationalen Schule" bekanntgegeben. So kam es, daß vier seiner ersten Schüler englische Kinder waren. Das Schulgeld, das deren Eltern bezahlen mußten, war ungleich höher als das der deutschen oder osteuropäischen Kinder; Neill begründete diesen Umstand mit den unterschiedlichen Wechselkursen und forderte englische Eltern auf, mit ihrem Beitrag die bedürftigen Kinder aus weniger wohlhabenden Ländern zu fördern [vgl. NEILL in: New Era, 2(1921), S. 33; vgl. auch Schulprospekt der Internationalen Schule, Christmas MCMXXI]. "We had pupils from every country in Europe except Spain. " [NEILL in: Id-Magazine Okt. /1960, S. 4; vgl. auch NEILL 1926, S. 208] Triumphierend berichtet Neill, daß er mit anfänglich 13 Schülern monatlich fünf Millionen Mark erwirtschaftete, während die "Neue deutsche Schule" mit ihren 100 Schülern mit nur vier Millionen Mark nicht kostendeckend arbeiten konnte [vgl. NEILL 1924, S. 8]. Deutsche Kinder nahm Neill auch auf, sie wurden mit Rücksicht auf die sächsische Schulgesetzgebung jedoch offiziell an der deutschen Abteilung angemeldet [vgl. CROALL 1983b, S. 120].

Die pädagogische Utopie, die Neill in seiner ersten eigenen Schule verwirklichte, bestand nicht aus unumstößlich fixierten Prinzipien. Stattdessen experimentierte er mit unterschiedlichen Ideen und Ansätzen. Er begründete dies folgendermaßen: "I refuse to run a German school; my idea is to take all that is best from all traditions. " [NEILL 1923, S. 148] Bereits in Hellerau kristallisierten sich jedoch bestimmte Elemente heraus, die Neills Erziehungsstil bis zu seinem Lebensende bestimmen sollten. Er nahm die an der King Alfred School fehlgeschlagene und ursprünglich von Homer Lane entlehnte Form des self-government wieder auf und versuchte, sie in den Rahmen der an der deutschen Schule bereits bestehenden Schulgemeinde [vgl. CROALL 1983b, S. 120f; vgl. auch NEILL 1923, S. 149, 49] zu integrieren. Der Besuch des Unterrichts war den Schülerinnen und Schülern freigestellt, was nicht ohne Konflikte blieb - einerseits mit den diese Freiheit nicht gewöhnten Kindern [vgl. CROALL 1983b, S. 120, 121] und andererseits mit der sächsischen Schulgesetzgebung, die feste Stundenkontingente für die Schüler unterschiedlicher Altersjahrgänge vorsah [vgl. NEILL 1923, S. 134; vgl. auch HARLESS in einem Brief an Paul GEHEEB März. 1924]. Neill lehnte jede Form "brillanter Unterrichtsmethoden" ab. "The interest should come from within the child, and this making things too attractive is wrong. " [NEILL 1923, S. 72] Er wandte die in seinen Büchern immer wieder beschriebenen "paradoxen Strafen" an, zum Beispiel als er seinen Schüler Derrick Boyd [vgl. NEILL in: BLEWITT 1934, S. 116], der des Diebstahls beschuldigt wurde, aufforderte, alle Dinge zu benutzen, die Neill gehörten. "The net result is that I haven't the faintest idea at this moment where the following articles are: two pairs of scissors, one knife, one slide rule (value one guinea), one razor-hone. " [NEILL 1923, S. 100]

Mit besonders schwierigen Kindern wie Derrick nahm Neill therapeutische Einzelsitzungen auf, die er in Anlehnung an Homer Lane später "private lessons", Privatstunden, nennen sollte [vgl. CROALL 1983b, S. 122f; vgl. auch NEILL 1972, S. 147; sowie HEMMINGS 1972, 49/50; über das Klima an der Schule: vgl. PASCAL in: FOST-Journal Issue 7 (1992), S. 9; vgl. auch LUCAS in: FOST-Journal Issue 10 (1994), S. 17ff]. Im Alter von knapp siebzig Jahren schrieb Neill über das hier skizzierte Erziehungskonzept: "The school today (1953) does not differ from the school it was in 1921. " [NEILL 1953, S. 133]

Neill hielt an der Dalcroze-Schule Vorträge über Psychologie, wobei er aus seinen Gesprächen mit Homer Lane und den dadurch angeregten Freud-Studien schöpfte, in die zugleich seine aktuelle Lektüre von Werken von Wundt, Silberer ("Der Traum" 1919) oder C. G. Jung ("Psychologische Typen" 1921) [vgl. NEILL 1923, S. 104] miteinflossen.

Bereits in Hellerau zeigten sich auch persönliche Schwachstellen, die es Neill künftig stets schwer werden ließen, die Leitung einer Schule zu betreiben: "I fear I am not a born employer, for I sum up a candidate by his looks rather than by his attainments or theories. " [NEILL 1923, S. 132; vgl. auch S. 160f]

Er wand sich aus diesem Dilemma, indem er konstatierte: "It is impossible to find a staff that will agree to my views of education, and it is well that it is so" [NEILL 1923, S. 133], jedoch konnte er es sich bei seinem schlechten Deutsch noch nicht leisten, seine Idealvorstellung eines Lehrerkollegiums zu verwirklichen: "Socialist with Bolshevist leanings, Roman Catholic, Ascetic with a hate of tobacco, drink, fox-trots, and Charlie Chaplin; gentleman who thinks psychology a disease; and lady who believes in original sin. " [NEILL 1923, S. 133] Tatsächlich bestand das Lehrerkollegium seiner Schule aus Persönlichkeiten, die er sehr bewunderte. So traf Neill zufällig seine frühere Studienkollegin Willa MUIR an einer Straßenbahnhaltestelle in Dresden. Sie reiste zu jener Zeit mit ihrem Mann Edwin MUIR, einem von den englischen Kanalinseln stammenden Schriftsteller, durch Europa und nahm Neills spontanes Angebot, an der Schule zu unterrichten, nach kurzer Bedenkzeit an [vgl. E. MUIR 1968, S. 199; W. MUIR 1968, S. 72]. Sie hatte bereits vorher Erfahrungen im Betrieb eines Reformschulversuchs in London gemacht [vgl. KAMP 1994, S. 365]. Edwin Muir lehrte nicht an der Schule - er gab sich literarischen Studien hin und machte Bekanntschaft mit einigen der freigeistigen Einwohner der Gartenstadt. "All of them had acquired a distinct character which would not have been found in any other small German town, a certain amenity and mazed tolerance. " [E. MUIR 1968, S. 201]

Ein weiterer Lehrer war Professor Zutt, ein Schweizer Handwerkslehrer, der Neill ermutigte, selbst praktische Arbeiten auszuführen. Erst seit dieser Zeit beschäftigte Neill sich mit Techniken der Holz- und Metallbearbeitung. Künftig sollte es in keiner Schule, die Neill betrieb, an einer Werkstatt fehlen. Professor Zutt arbeitete nach Ideen, die sein Freund Franz Cizek, ein Professor an der Kunstgewerbeschule Wien, entwickelt hatte [vgl. NEILL 1923, S. 219]. Neill hatte auf der Konferenz in Salzburg 1921 einen Vortrag Cizeks gehört und schätzte sich glücklich, nun einen Verfechter dieser Ideen an seiner Schule zu haben. Cizek hatte im Rahmen seiner Arbeit an der Kunstgewerbeschule bereits 1898 freie Kindermalkurse eingeführt, deren Resultate eine neue Sicht auf die kreativen Kapazitäten von Kindern eröffneten. Die damals revolutionären Einsichten Franz Cizeks sind im Laufe der Jahre selbstverständlicher Bestandteil jedes schulischen Kunstunterrichts geworden [vgl. CROALL 1983b, S. 115; vgl. auch Boyd/Rawson 1965, S. 48f; sowie Griffin-Beale in: TES 19. 09. 1975, S. 23].

Lilian Neustätter, Neills Gastgeberin in Hellerau, übernahm die Organisation des Schulheims, in dem sowohl Lehrerinnen und Lehrer als auch Schülerinnen und Schüler untergebracht waren [vgl. NEILL 1923, S. 167]. Sie wurde eine Mutterfigur für die Rhythmikschülerinnen und -schüler und die jüngeren Kinder an Neills Schule; Neill wiederum übernahm so etwas wie eine Vaterrolle, mußte sich aber auch der "'hopeless passions'" [W. MUIR 1968, S. 75] der Rhythmik-Schülerinnen erwehren [vgl. NEILL 1972, S. 147]. Lilian Neustätters Mann, "my friend and host Dr. Otto" [10] [NEILL 1923, S. 27], versah die Geschäftsführung der neu gebildeten "Neue deutsche Schule AG" [vgl. NEILL 1923, S. 121]. "He is the sort of man for whom railway porters always open doors of first-class compartments. " [NEILL 1923, S. 121]

Neill war es von der sächsischen Schulverwaltung untersagt, Englisch zu unterrichten [vgl. NEILL 1923, S. 138]. Er engagierte eine deutsche Englischlehrerin. "Ständig diskutierte sie mit mir über Akzente, und als einmal ein Ire zu Besuch kam, dessen irischer Akzent so stark war, daß man ihn mit dem Messer hätte schneiden können, schrie sie verzückt auf: 'Wunderbar, das ist der richtige Oxford-Akzent!'" [NEILL 1972, S. 148; vgl. auch NEILL 1924, S. 170] Um weiteres Lehrpersonal für seine Schule zu finden, lud Neill englische Studenten ein, ein Schulpraktikum bei ihm zu absolvieren [vgl. Mr. A. S. Neill's Experiment in Hellerau, in: New Era, 4(1923), H. 14, S. 164].

Frühzeitig stellten sich Schwierigkeiten in der Kooperation mit den Kollegen der Neuen deutschen Schule ein [vgl. NEILL 1972, S. 145f]. Sie hatte sich - ursprünglich aus einer Elterninitiative hervorgegangen [vgl. CROALL 1983b, S. 116] - in Neills Augen zu einer ideologisch ausgerichteten Erziehungsanstalt entwickelt, die zum Ziel hatte, an ihren Schülern Charakterformung vorzunehmen. Die Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit der deutschen Pädagogen, die Charlie Chaplins Filme aus Mangel an erzieherischem Wert ablehnten, machten Neill zu schaffen: "The Neue Schule was run by idealists, most of them belonging to the Jugend movement of Germany. They disapproved of tobacco, alcohol, fox-trots, cinemas; they wore Wandervogel clothes. We on the other hand, had other ideals; we were ordinary folk who drank beer and smoked and danced fox-trots [. . . ]. Our intention was to live our own lives while we allowed children to live their own lives. We intended that children would form their own ideals," [NEILL 1923, S. 119; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine No. 11/1963, S. 20; sowie NEILL in: New Era 3(1922), S. 58; und NEILL in: New Era 4(1923), S. 129]

Leiter der Neuen deutschen Schule war Dr. Carl Theil [11]. Die Schule war erst Ostern 1920 gegründet worden, und Theil, der später in Zusammenhang mit dem "Weltbund für Erneuerung der Erziehung" in Erscheinung trat [vgl. Das werdende Zeitalter, 7(1928), Titel], hatte sich zur Aufgabe gesetzt, die Schule zu einer koedukativen Arbeitsschule mit einer regelstiftenden Schulgemeinde zu machen [Theil in: Internationale Erziehungsrundschau 2(1921), H. 11/12, S. 88f]. Die inflationäre Geldentwertung im Deutschland der zwanziger Jahre führte jedoch zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der Neuen deutschen Schule, und Neill und Christine Baer übernahmen die Schule ganz. Da Neill jedoch Brite war und Christine Baer Amerikanerin, beugten sie Konflikten mit nationalistisch gesinnten Eltern und der Schulbehörde vor, indem sie Dr. Theil als Leiter des fortbestehenden deutschen Zweigs der Schule engagierten. In der Folge berichtet Neill von Abenden, an denen er im oberen Stockwerk mit seinen Schülern nach Grammophonplatten tanzte, während im unteren Stockwerk des Schulheims vom Leiter der deutschen Abteilung Goethe und Nietzsche vorgelesen wurden. "Etliche seiner Schüler schlichen nacheinander die Hintertreppe hinauf, um mitzutanzen. Das führte zu Verstimmungen. " [NEILL 1972, S. 149; vgl. auch NEILL 1926, S. 209] Peter de Mendelssohn, einer der ersten Schüler an der Schule, schildert in seinem autobiographischen Roman Marianne die Differenz zwischen den unterschiedlichen Erziehungsstilen: "Neills pädagogische Prinzipien waren ungleich moderner, jegliche Konvention bedenkenlos beiseite schiebend, als die der deutschen Landschulheime. Es war faszinierend, zu sehen - oder zu spüren, wenn der Knabe es noch nicht klaren Auges zu sehen vermochte - wie die mystische, ja fast mythische Autorität, die auf uns Kinder von Carl Theil ausstrahlte, mit dem kühnen Pragmatismus des aller Metaphysik abholden schottischen Erziehers zusammenfloß. " [Mendelssohn 1955, S. 56]

Die Schule war seit Februar 1922 als Aktiengesellschaft organisiert und Neill hielt das größte Aktienpaket (130 Stück im Wert von 130. 000 Mark) der sieben Gesellschafter [vgl. Gründungsakten der "Neue Schule" AG Hellerau, 19. 02. 1922]. Der Gesellschaftsvertrag verdeutlichte die Zielsetzung der "Neue Schule AG Hellerau": "Gegenstand des Unternehmens ist der Betrieb einer höheren Lehranstalt für geistig - körperliche Erziehung nach neuzeitlichen Grundsätzen auf dem Gebiete des Rhythmus, der Musik, der Kunst un [sic!] der Körperkultur. " [Gründungsakten der "Neue Schule" AG Hellerau, 19. 02. 1922]

Später übernahm Hermann Harless die Leitung der Neuen deutschen Schule. Harless hatte bis 1920 an Paul Geheebs Odenwaldschule gearbeitet und stand vorher wie nachher in Kontakt zu Hermann Lietz [vgl. HARLESS in: CASSIRER u. a. 1960, S. 53]. Paul Geheeb hatte bereits 1908/09 mit den verantwortlichen Leuten in Hellerau über eine Übernahme der damals noch in Bau befindlichen Schule verhandelt [vgl. Martin NÄF- *, 10. 01. 1994]. Sein Schüler Harless führte nun an der Neuen deutschen Schule das Kurssystem der Odenwaldschule ein [vgl. NEILL 1923, S. 226f] und blieb mit Geheeb in stetem Briefkontakt - ein Umstand, der zur frühzeitigen Beachtung Neills durch Paul Geheeb führte [vgl. Brief Edith Geheebs an Jonathan CROALL 19. 09. 1980]. Peter de Mendelssohn schreibt über diesen Schulleiterwechsel: "Es wurde ein neuer Schulleiter nach Hellerau berufen. Er hieß Hermann Harleß [sic!], war ein Schwabe und ein nüchterner, weniger tyrannischer Pädagoge. Aber der magische Bann, in dem die faszinierende Persönlichkeit Carl Theils uns gehalten hatte, war gebrochen, ließ sich nicht von neuem heraufbeschwören oder übertragen, und hinfort war die pädagogische Provinz nicht mehr, was sie einst gewesen. " [Mendelssohn 1955, S. 65]

Neill stellte befriedigt fest, daß "wir an dieselben Dinge glauben" [NEILL 1923, S. 253], eine Einschätzung, die Hermann Harless nicht teilte. Im September schrieb er in einem Brief an Paul Geheeb: "Von unserm schönen Schulheim stehen mir 3/4 der Räume für meine Schulheimkinder zu; 1/4 etwa ist reserviert für eine englische Gruppe [. . . ] In verschiedenen wichtigen Erziehungsfragen stimme ich mit der Leitung dieser Gruppe nicht überein, und das macht das Zusammenleben etwas schwer. " [HARLESS in einem Brief an Paul Geheeb 04. 09. 1922; vgl. hierzu auch HARLESS in: Hellerauer Blätter, H. 2, Aug. /1922, S. 25ff; sowie ders. a. a. O. , H. 3/4, März/1923, S. 57ff] Später faßte Hermann Harless die Bedingungen in Hellerau so zusammen: "Die Verhältnisse waren schwierig: um das Benutzungsrecht wie um die ideele Maßgabe kämpften verschiedene Interessengruppen. [. . . ] Viel war zu lernen in diesen zwei Jahren des Chaos, und alle Formen der Menschlichkeit kamen beglückend und erbärmlich an uns heran. Wider alles Erwarten war die pädagogische Ausbeute erfolgreich: die Jugend gedieh trotz des Durcheinanders der Erwachsenen. " [HARLESS 1950, S. 7] Willa Muir schreibt über Neills Verhältnis zu Hermann Harless: "One of Neill's most successful 'turns' of an evening was an imitation of Herr Doktor Harless making a speech, which always began with: 'Die Psÿchoanalÿse, zwar,. . . '. " [W. MUIR 1968, S. 76]

Die Zusammenarbeit innerhalb der unterschiedlichen Abteilungen der Schule ging also nicht über formale Aspekte hinaus - eine richtiggehende Übernahme deutscher reformpädagogischer Traditionen durch Neill fand trotz seiner Erkenntnis, daß die deutsche "education movement is, if anything, more advanced than that of England" [NEILL 1923, S. 165f], nicht statt. Und auch Hermann Harless sprach lediglich von einem "rauheren Arbeitsboden" [HARLESS in: CASSIRER u. a. 1960 S. 57], den die Erziehungskreise, in denen er nach seiner Zeit an der Odenwaldschule wirkte, darstellten. Dies waren unterschiedliche Bildungseinrichtungen, an denen er angestellt war, bis er schließlich das Landschulheim Marquartstein in Oberbayern gründete [vgl. HARLESS in: CASSIRER u. a. 1960, S. 53].

Ein Theaterbesuch in Berlin, noch bevor Neill richtig deutsch sprechen und verstehen konnte, weckte in ihm die Begeisterung für den Schweden Strindberg. Er sah Strindbergs "Totentanz" [vgl. NEILL 1923, S. 58; vgl. auch NEILL 1972, S. 219]. Bereits während seines Studiums [vgl. NEILL 1972, S. 103] hatte Neill Bekanntschaft mit den Dramen Henrik Ibsens gemacht, und er bewunderte sein ganzes Leben lang die Stücke des norwegischen Dichters. Der Person Ibsen gegenüber war Neill jedoch kritisch eingestellt: "Alles, was ich über ihn las, gab mir das Gefühl, daß ich ihn nicht gemocht hätte, diesen mürrischen, entrückten Mann, der so gesellschaftskritisch und zugleich so erfreut war, die Auszeichnungen und Ehrungen der Gesellschaft zu empfangen. " [NEILL 1972, S. 219] [12] Neill war von der kulturellen Vielfalt des Lebens in Deutschland tief beeindruckt. Er schreibt: "It was here that I realized how badly educated I was. My university degree seemed a small thing; I had to listen to talk on art and music and philosophy, sitting dumb. " [NEILL in: "Id" Okt. /1960, S. 4; vgl. auch NEILL 1972, S. 146]

Es kamen bedeutende zeitgenössische Künstler wie Isadora DUNCAN oder Upton SINCLAIR nach Hellerau; letzterer verarbeitete die Atmosphäre der Dalcroze-Schule in seinem Roman "World's End" von 1940 [vgl. CROALL 1983b, S. 123f]. So schildert er die Funktion der Schule als weit über die regionalen Grenzen hinaus wirkendes Kulturzentrum: "Upon a high plateau stood a tall white temple with smooth round pillars [13] in front, and to it were drifting throngs of people who had journeyed from places all over the earth where art was loved and cherished; fashionable ones among them, but mostly art people, writers and critics, musicians, actors, producers - celebrities in such numbers that it was impossible to keep track of them. " [SINCLAIR 1940, S. 11] Gespräche mit Zeitzeugen bestätigen diese euphorische Schilderung des kulturellen Lebens im damaligen Hellerau [Gespräch mit Dr. Daniel WENZEL, 08. 06. 1993].

Häufig wurden von Neill und dem ihn umgebenden Kreis die Theater und das Opernhaus in Dresden besucht, und es waren nicht ausschließlich die akademisch Gebildeten in Neills Umfeld, denen er sich in kulturellen Fragen unterlegen fühlte: "To-day I missed Emma from the accustomed kitchen. I asked where she had gone, and was told that she had gone to a symphony concert in the Dresden Opera House. She knows all the best operas by heart, and when we want a really expert opinion of a Brahms Concerto we visit the kitchen. " [NEILL 1923, S. 39ff; vgl. auch W. MUIR 1968, S. 77; sowie NEILL 1972, S. 327] Nicht zuletzt aufgrund des kulturellen Angebots resümierte Neill 1970: "Für mich waren die beiden Jahre in Dresden die anregendsten meines Lebens. " [NEILL in: Die Zeit 07. 08. 70, S. 14; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine Okt. /1960, S. 4; sowie NEILL in: New Era 2(1921), S. 32; NEILL 1967, S. 120 und NEILL 1972, S. 146]

Franz KAFKA kannte die Gartenstadt Hellerau und die Dalcroze-Schule bereits seit 1914 [vgl. KAFKA 1951, S. 541f]. 1922 setzte er sich dafür ein, daß seine Schwester Elli ihre Kinder an Neills Schule schickte. Er schrieb damals in einem Brief: "Immerhin habe ich erreicht, daß meine Schwester mit dem Schwager und den Kindern in Hellerau waren, allerdings habe ich gerade durch diesen Zwischensieg jede Hoffnung auf den endgültigen Sieg verloren. Frau Neustädter [sic!] hat sehr abgeschreckt, sie hatte boshafterweise an dem Tag gerade Schnupfen und Geschwüre im Gesicht, Herr Neustädter [sic!], der Engländer, eine Hilfslehrerin, eine Dalcroze-Schülerin haben zwar sehr gefallen, konnten aber gegen den Schnupfen nicht aufkommen; die Schüler waren auf einem Ausflug, es war Sonntag. " [KAFKA o. J. , S. 418 (Hervorhebung von mir), vgl. auch BINDER 1070, S. 456f]

An keiner Stelle in seinen Schriften ging Neill weiter auf KAFKA als Person ein. Lediglich in einem Brief schrieb er 1967: "Kafka. I shd blush to say I can't appreciate him; [. . . ], to me sick. " [NEILL in: CROALL 1983a, S. 155] Wahrscheinlich konnte Neill die Verbindung zwischen den Besuchern und dem damals noch nicht besonders prominenten Schriftsteller nicht wahrnehmen. Das Ehepaar Muir nahm sie offenbar auch nicht wahr. Beide erwähnen in ihren Autobiographien für diese Zeit keinen Kontakt mit Kafka. Dabei sollten sie es sein, die die Schriften Kafkas später ins Englische übertrugen [vgl. SMALL in: Educational Theory 37(1987), S. 180f].

Ein wichtiges Ereignis in der Zeit von Neills Aufenthalt in Deutschland war der Besuch seiner Eltern. Neill hatte sie eingeladen, und der günstige Wechselkurs ermöglichte es ihnen, in den besten Hotels Station zu machen. Neill besuchte mit ihnen und den Muirs die Passionsspiele in Oberammergau [vgl. W. MUIR 1968, S. 78]. Es war die erste Auslandsreise, die seine Mutter unternahm [vgl. NEILL 1924, Widmung; vgl. auch CROALL 1983b, S. 124].

& A Dominie Abroad 1923

In Hellerau entstand das vierte der Dominie-Bücher, A Dominie Abroad, in dem Neill erstmals die Identität des Erzählers mit dem Protagonisten offenkundig werden ließ. Darin wird nahezu in Form eines Tagebuchs von den Erlebnissen in Deutschland berichtet. Gleichzeitig sollte das Buch offenbar auch bewirken, daß englische Leser ihre Kinder nach Hellerau schicken. Als A Dominie Abroad erschien, bereitete sich Neill jedoch bereits darauf vor, Deutschland zu verlassen. "1923 brach in Sachsen die Revolution aus. In den Straßen von Dresden wurde geschossen. Unsere Schule wurde immer leerer. " [NEILL 1972, S. 150] Ein kommunistischer Putsch löste in Sachsen einen Bürgerkrieg aus, die Reichswehr marschierte am 21. Oktober in Sachsen und Thüringen ein [vgl. KAMP 1994, S. 377], die antisemitischen Übergriffe nahmen immer mehr überhand, und so viele Kinder wurden von ihren Eltern nach Hause geholt, daß die Neue deutsche Schule gezwungen war, ihren Betrieb einzustellen. "The school broke up, and the dear old Schulheim passed into other hands. The new people at once erected a barb-wire fence round it, a symbol that freedom had gone from Hellerau. " [NEILL 1926, S. 216; zu Details der weiteren Geschichte der Schulgebäude in Hellerau vgl. KAMP 1994, S. 355ff]



Fußnoten:

[8] Neill hatte über diese Schule bereits 1914 in einem Zeitschriftenartikel gelesen [siehe à S. 16].

[9] Neill übernahm dieses Symbol offenbar in variierter Form. Ein stilisiertes seitenverkehrtes "S" stellt noch heute das Schulwappen Summerhills dar. Schulwappen sind an englischen Internatsschulen üblich - die "Schoolbadges" werden auf die Schuluniformen aufgenäht und schmücken den Briefkopf der Schule.

[10] Otto Neustätter war maßgeblich an der Gründung und Gestaltung des Deutschen Hygiene Museums in Dresden beteiligt. [vgl. Schulte 2001]

[11] Er sei in den Jahren von 1912 bis 1914 Mitarbeiter der 1910 von Paul Geheeb gegründeten Odenwaldschule gewesen [vgl. Martin Näf *, 18.10.1994].

[12] Neills Verhältniss zu gesellschaftlichen Auszeichnungen war durchaus ähnlich ambivalent, wie in einem nachfolgenden Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen sein wird [vgl. àS.72 in diesem Text].

[13] Die Säulen des von Heinrich TESSENOW entworfenen Hellerauer Festspielhauses sind rechteckig.