Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         2.5.1. Zielsetzung der psychoanalytischen Pädagogik

         2.5.2. Sachliche Erziehung
      2.6. Schlüsselbegriffe und deren Bedeutung in der psychoanalytischen Pädagogik
         2.6.1. Sexualität
         2.6.2. Aggressionen
         2.6.3. Kreativität
         2.6.4. Identität

         2.6.5. Autorität





2.5.2. Sachliche Erziehung

Unter dem doppeldeutigen Begriff der "Sachlichen Erziehung" versteht man keineswegs eine emotionslose, kalte, unpersönliche Haltung des Erziehenden gegenüber dem Kind. Dies stände im krassen Gegensatz zum eigentlichen Sinn und Streben der psychoanalytischen Erziehung. Meng betonte 1945 in diesem Zusammenhang, dass eine kalte Erziehung wie ein reiner Zerstörer wirke.(Trescher 1990: 21)

Gemeint ist vielmehr eine affektbeherrschte Haltung des Erziehers bzw. der Eltern, welche selbstkritisch und reflektierend sein sollte, um mögliche Übertragungsreaktionen vom Erziehenden gegenüber dem Kind bewusst wahrzunehmen und adäquat damit umgehen zu können.

Aufgrund möglicher Reaktualisierung von unbewältigten bzw. unbewussten Konflikten des Pädagogen ist die Wahrnehmung für das Kind oft nicht mehr realitätsgerecht und situationsangepasst. Eine selbstkritische Reflexion und die Koordination seines Handelns können unter diesen Umständen stark verzerrt und entstellt werden. Der Erziehende ist nun leicht geneigt sich mit dem Kind zu identifizieren und/oder eigene Ängste oder Wünsche auf das Kind zu projizieren. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Pädagoge nicht mehr in der Lage ist, das aktuelle Befinden des Kindes wahrzunehmen, er reagiert zu emotional und mit unangemessenem erzieherischen Handeln wie z.B. mit Abwehrreaktionen oder Affektabfuhr. In diesem Fall wird das Kind nicht mehr als eigenständiges Wesen gesehen, sondern zum Subjekt, an welchem die biographischen Konflikte des Erziehers abreagiert werden. In diesem Zusammenhang kann von emotionalem Missbrauch gesprochen werden.

Eine Sensibilisierung des Erziehers für sein eigenes Selbst (z.B. für eine unbewusste autoritäre Haltung) und das Feingefühl für den anderen ist folglich eine Grundvoraussetzung für die praktische Umsetzung dieser Theorie. Auch S. Bernfeld betonte bereits 1927 die Notwendigkeit zur allgemeinen Achtung und zur Aufrichtigkeit dem Kind gegenüber.

Da in der psychoanalytischen Pädagogik Fehler in der Erziehung immer im unmittelbaren Zusammenhang mit ungelösten, unbewussten Konflikten und Verdrängungen gesehen wurden, war die Erziehung des Erziehers durch Eigenanalyse eine wichtige Forderung.

2.6. Schlüsselbegriffe und deren Bedeutung in der psychoanalytischen Pädagogik

2.6.1. Sexualität

Die psychoanalytische Pädagogik hat die Sexualerziehung zu einem zentralen Thema ihrer Diskussion gemacht. Frühkindliche Sexualität gilt als die treibende Kraft zur persönlichen, körperlichen und seelisch-geistigen Entwicklung. In der Sexualforschung gilt es als erwiesen, dass ein lustfeindlicher Erziehungsstil prägend ist für spätere Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung sowie in der Beziehungs- und Liebesfähigkeit (vgl. Ziebel-Luttmer 1972: 42)

"Folge einer autoritär-repressiven (Sexual-)Erziehung ist die Reproduktion autoritären Verhaltens, die Produktion des sado-masochistischen Charakters, sowie der autoritären Persönlichkeit."(vergl. Auchter 1973: 56)

Es geht hierbei weniger um punktuelle Aufklärung, Sexualerziehung sollte vielmehr ein selbstverständlicher Bestandteil des gesamten Erziehungsprozesses sein.

Konkret kann man die Zielsetzungen bezüglich der Sexualerziehung in folgende Punkte zusammenfassen:

  1. Förderung der Geschlechtsidentität und damit Erziehung zur Liebesfähigkeit

  2. Akzeptanz der kindlichen Sexualität, Enttabuisierung und Aufklärung

  3. Gewährung des kindlichen Forscherdrangs (z.B. in der kindlichen Onanie)

  4. Ausbalancieren zwischen dem Wunsch nach Triebbefriedigung und der Triebversagung

  5. Schaffung von Sublimierungsmöglichkeiten

  6. Förderung der Entwicklung eines starken Ich

Unter Geschlechtsidentität versteht man die individuelle Identifikation und die Freude und Lust an seinem Geschlecht, verbunden mit der natürlichen Beziehungs- und Liebesfähigkeit. Gemeint ist hierbei keine unkritische Anpassung an gesellschaftliche Geschlechterrollen und kulturelle Rollenerwartungshaltungen.

Jedes Geschlecht beinhaltet neben den eigenen auch gegengeschlechtliche Anlagen. Ziel ist es nun, sich mit beiden Geschlechtsidentitäten auseinander zusetzen, beide Anlagen anzunehmen, bejahen zu können und seine individuelle geschlechtliche Identität zu verwirklichen (vgl. Auchter 1973: 70). Diese Fähigkeit, sich selbst als Frau bzw. Mann annehmen zu können, bildet die Basis für eine spätere Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Diese Liebesfähigkeit des Menschen setzt notwendigerweise ein "gesundes" Sozial- und Kommunikationsverhalten voraus. Die Achtung des Partners wird auch bedingt durch das eigene Selbstwertgefühl und die Selbstachtung.

E. Erikson definierte in seiner "Utopie der Genitalität" den Begriff der Liebes- und Beziehungsfähigkeit:

"Wechselseitigkeit des Orgasmus mit einem geliebten Partner des anderen Geschlechts, mit dem man wechselseitiges Vertrauen teilen will und kann und mit dem man imstande und willens ist, die Lebenskreise der Arbeit, der Zeugung und der Erholung in Einklang zu bringen, um der Nachkommenschaft ebenfalls alle Stadien einer befriedigenden Entwicklung zu sichern." (Auchter 1973: 69)

Die hier angesprochenen emotionalen Fähigkeiten, werden primär von den Eltern vermittelt. Eltern besitzen Vorbildcharakter und je befriedigender und lebendiger die (sexuelle) Beziehung der Eltern ist, desto positiver wirkt sich dies auf die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit aus.

Für gewöhnlich treten in der ödipalen Phase auch die ersten Fragen über Geburt und Zeugung auf. Diese Fragen über Sexualität und Menschwerdung sind Ausdruck kindlicher Neugier und Forscherdrang und sollten daher auf jeden Fall beantwortet werden. Das Kind wertet die Aufklärung als Erlaubnis, sich mit der Sexualität auseinandersetzen zu dürfen, was wiederum nicht zuletzt auch ein Liebes- und Vertrauensbeweis an die Eltern ist.

Eine Tabuisierung sexueller Fragen kann sich negativ auf die emotionale und intellektuelle Entfaltung des Kindes auswirken. Sexualität und Triebansprüche können dann als etwas Verbotenes, Böses oder Unerlaubtes angesehen werden, etwas, das Schuldgefühle provoziert und eventuell gar nicht wahrgenommen werden darf, d.h. verdrängt werden muss. Wird diese Neugier in sexuellen Fragen nicht ausreichend gestillt, so kann das Kind an diese Phase fixiert bleiben.

Bereits 1912 entbrannte in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung die Diskussion um die kindliche Onanie. Die Ergebnisse sind heute weitgehend theoretisch akzeptiert worden, die Praxis ist jedoch auch heute noch von emotionaler Abwehrhaltung und Verschleierung geprägt (wobei sich die Form der Sexualabwehr von der damaligen zur heutigen Zeit geändert hat, anstatt absoluter Tabuisierung tritt heute Intellektualisierung, Affektentleerung und Verleugnung der emotionalen Betroffenheit) (vgl. Trescher 1990: 47).

Unterschieden wird in drei entwicklungspsychologische Onanieperioden:

Die Säuglingsonanie, sie wird als reflexartige Reibung des Genitals beobachtet, zumeist im Rahmen der Reinigung.

Für die Phase der Onanie des Ödipusalters wurden die körperlichen Grundlagen der genitalen Reize noch nicht ausreichend erforscht. Man geht davon aus, dass das Kind in diesem Alter seinen Körper neu wahrnimmt und geschlechtlich erforscht. Diese Phase ist hochsensibel, bei dem die infantile Sexualbetätigung tiefe, unbewusste Eindrucksspuren hinterlässt.

Die Pubertätsonanie resultiert aus zunehmendem sexuellen Körperbewusstsein und geschlechtlicher Neugier. Sie führt zudem zu einer schubartigen Reifung des Geschlechts-apparates.

Die Onanie ist entsprechend der einzelnen Phasen für die psychische und physische Reifung von Bedeutung. Sie ist Lustgewinn am eigenen Körper und erfüllt u.a. bei Kleinkindern oftmals die Funktion, Trost zu spenden (vergl. Trescher 1990: 47).

Über das Problem der angemessenen Didaktik der Enttabuisierung und Aufklärung wurde viel diskutiert. Es kristallisierte sich heraus, dass das Kind erst mit dem Themenkreis Sexualität konfrontiert werden soll, wenn es die entsprechenden Fragen darüber stellt. Der Umfang der Antworten sollte sich unmittelbar auf die Frage beziehen. Zullinger wies 1928 darauf hin, dass man dem Kind nichts sagen und nichts aufdrängen sollte, was es noch nicht wissen will und nicht verstehen kann. (vgl. Trescher 1990: 45) Bei den Antworten ist Offenheit und Aufrichtigkeit geboten. Das Wissen um die sexuellen Vorgänge sollte nicht explosiv auf das Kind eindringen, sie sollten in ihm wachsen können.

Die psychoanalytische Pädagogik warnte schon früh davor, bei dem Thema der Tabuisierung von Sexualität in das andere Extrem zu verfallen. Zum einen sollte die Aufklärung das gesamte Feld der menschlichen Beziehungen und ihre Konflikte miteinbeziehen, zum anderen ist eine frühzeitige und übermäßige Reizung der kindlichen Sexualität oder betonte Sexualbejahung einer natürlichen Sexualentwicklung ebenso wenig nützlich, wie Tabuisierung und Sexualablehnung.

Kinder sollten keinen elterlichen Geschlechtsverkehr miterleben. Koitusbeobachtungen können von den Kindern als sadistische Handlungen aufgefasst werden (der Vater "vergewaltigt" die Mutter), was wiederum kindliche Ängste erzeugt und traumatische Folgen (z.B. Sadismus) haben kann.(vgl. Freud 1972: 102)

2.6.2 Aggressionen

Definition: lat. (affektbedingtes) Angriffsverhalten, feindselige Haltung eines Menschen oder eines Tieres als Reaktion auf eine wirkliche oder vermeintliche Minderung der Macht mit dem Ziel, die eigene Macht zu steigern oder die Macht des Gegners zu minimieren. (Duden 1990)

Diese umgangssprachlich recht eng gefasste Definition von Aggressionen spiegelt die ausschließlich negative Besetzung des Begriffes in dem gesellschaftlichen Leben wieder. Die verschiedenen aggressiven Ausdrucksformen werden demnach nicht differenziert, sondern zielen absichtlich auf Verletzungen und Schädigungen.

In der psychoanalytischen Pädagogik hingegen werden Aggressionen zunächst als wertfreie und neutrale Triebe angesehen, welche nicht ausschließlich als schlecht oder böse zu bewerten sind. Der Begriff "Aggression" wird stärker differenziert, um die Ursachen oder Absichten aggressiven Verhaltens klarer herauszustellen (Aggressionen werden sowohl in Form von Zynismus, als auch durch Kriege, Völkermorde ausgelebt). Schramel bezeichnete beispielsweise die Zivilcourage als eine Hochform der kultivierten Aggression.(vgl. Asanger/ Wenninger 1994: 1)

Treffender ist es daher, den Begriff "Aggressionen" durch die entsprechenden Gefühlszustände zu beschreiben, wie Ärger, Wut, Zorn, Hass, mit den dazugehörigen Verspannungen, die gelegentlich durch Aggressionen abreagiert werden. Es gibt heute verschiedene Theorien über die Entstehung von Aggressionen.

Sigmund Freud begründete die dualistische Triebtheorie, wobei er alle Triebe in zwei Kategorien zusammenfasste und sie als die zwei Grundkräfte einander gegenüber stellte - den Sexualtrieb (oder einige Jahre später auch Lebenstrieb) und den Selbsterhaltungstrieb (später dann Todestrieb bzw. Aggressionstrieb). Diese Theorie wurde 1963 von Konrad Lorenz wieder neu aufgegriffen, belebt und modifiziert.

Zunächst ging Freud (anknüpfend an W. McDougalls Aggressionstheorien,1913) von der Grundannahme aus, dass der Aggressionstrieb einem ähnlich hydraulischen Schema unterliegt wie der Libidotrieb ("Die Libido nimmt zu - die Spannung steigt - die Unlust nimmt zu; der Sexualakt vermindert die Spannung und die Unlust, bis die Spannung wieder zu steigen beginnt") (Fromm 1973: 14). Diesem Phänomen schenkte er anfangs noch recht wenig Beachtung. Erst in den zwanziger Jahren wendete er sich erneut und intensiver der Aggressionstheorie zu. Er stellte nun den angeborenen lebensbejahenden Sexualtrieb dem selbstzerstörerischen Todestrieb gegenüber. Der Todestrieb ist nach außen gerichtet und tendiert ehr dazu, andere zu zerstören, als sich selbst. Konsequenter weise führt diese Theorie zu der tragischen Alternative, entweder sich selbst oder den/die anderen zu zerstören oder leidend zu machen. Man folgerte nun, dass der Todestrieb immer in Verbindung mit dem lebensbejahenden Libidotrieb gesehen werden muss. Der Mensch würde sich demnach in einem permanenten Spannungsfeld dieser beiden Pole befinden.

Die Zurückhaltung von Aggressionen ist für Freud (wie auch für Konrad Lorenz) ungesund und wirkt sich krankmachend aus.(vgl. Fromm 1973: 14- 19)

Bedeutend für die psychoanalytische Pädagogik ist die Frustrations-Aggressionstheorie (Fenichel, K. Horney, Fromm), welche Aggressionen nicht als Ausdruck eines spontanen Triebes ansieht, sondern als reaktives, soziales Phänomen. Zentrale Aussage der Frustrations- Aggressions-Hypothese ist: Aggressionen sind immer Folge von Frustrationen, und Frustrationen führen immer zu einer Form von Aggressionen. Demnach ist die Entstehung von Aggressionen unvermeintlich, da das Erkennen der Grenzen des Ichs nur über den Weg der Begegnung mit äußeren, versagenden und frustrierenden Situationen gehen kann.

Konform mit Freud, vertritt auch diese Theorie die Annahme, dass der aggressive Trieb eine Steigerung erfährt, wenn er keinen Ausdruck findet und unterdrückt wird.

Es geht in der psychoanalytischen Pädagogik nicht darum, Aggressionen zu verdrängen bzw. eine innere Abwehr dagegen zu mobilisieren, sondern vielmehr um das Erlernen von Aggressionsbewältigungsstrategien und Kanalisierung von Aggressivität.

Als erzieherische Konsequenzen soll das Ich des Kindes gestärkt werden, denn erst eine gefestigte Persönlichkeit ist in der Lage, Frustrationstoleranz zu entwickeln und bewusst und reflektierend mit ihrer eigenen Aggression umzugehen. Voraussetzung für diesen Lernprozess ist es, in der frühen Kindheit überflüssige Frustrationen zu minimieren. Unabdingbare Versagungserlebnisse sollten durch konstante, liebevolle Zuwendung der Eltern/Erziehenden ausgeglichen werden. Kinder sollten lernen, Konflikte auszutragen, dazu benötigen sie positive Modelle, welche ihnen alternative und gewaltfreie Problemlösungsstrategien aufzeigen und vor allem vorleben. Fördernswert ist eine Sublimierung der aggressiven Energien in konstruktive Leistungen, wie z.B. das bekannte "Holz hacken", sportliche Wettkämpfe ect.. Destruktives Verhalten sollte konsequent missbilligt und verhütet werden, jedoch nicht durch Bestrafung oder Drohung, sondern durch Prävention, aufklärende Gespräche oder im äußersten Fall durch aggressive Äußerungen.(vgl. Auchter 1973: 80- 90)

2.6.3 Kreativität

Die Kreativitätsforschung beschäftigt sich neben dem kreativen Denken und dem kreativen Prozess u.a. auch mit der Erfassung der kreativen Persönlichkeit.

Aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen Pädagogik ist Kreativität ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Elemente des psychischen Apparates. Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch primär von seinen Trieben geleitet wird, ist die Sublimierung eine Möglichkeit, innere Triebansprüche mit sozialen Realitäten in kreativen Aktivitäten zu vereinen .

Im Zusammenhang mit Aggressivität ergibt sich die These, dass ein Kind durch seine Produktivität und seinen Schöpfertum versuchen kann, aggressive Impulse und Schuldgefühle bezüglich seiner Eltern auszugleichen. Kreativität kann demnach als Vergangen-heitsbewältigung und Hilfestellung zur Verarbeitung innerer Konflikte gesehen werden. Das freie, kindliche Spiel ist als Sublimierungsversuch in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Die sogenannte Ich-Psychologie steuert einen weiteren Ansatz zur Erklärung kreativen Verhaltens bei. Sie sieht "den kreativen Akt als ein Schwingen zwischen Regression und Progression, der wieder zur Realität hinführt" (Auchter 1973: 96) Das heißt, das Individuum muss den Mut und die Beweglichkeit besitzen, die strukturierenden, logischen und realitätsgerechten Funktionen seines Ichs teilweise zugunsten phantasievoller, nichtlogischer Funktionsweisen aufzugeben. Zur Ausbildung von Kreativität ist es demnach notwendig, sein realitätsprüfendes Ich zeitweilig zurückzustellen und kurzfristig loslassen zu können.

Gisela Ammon ist der Auffassung, dass sich die Kreativität als "Ich-Funktion mit eigenem Recht nur im Zusammenhang mit der freien Entfaltung von Sexualität und konstruktiver Aggression entwickeln kann" ( Auchter 1973: 96). Sie ordnet den schöpferisch, kreativen Akt zwischen dem primären, irrationalen Denkprozess (Schlafen) und dem sekundär, rationalen Denkprozess (Wachen) ein. Die Kreativität kann sich ihrer Meinung nach nur im Rahmen eines freien Milieus entfalten.

Im Rahmen der Erziehung zur Kreativität ergeben sich folgende Konsequenzen: Eine sichere und emotional stabile Atmosphäre ist die Grundvoraussetzung, welche schöpferisches Handeln erst möglich machen kann. Erst die nötige Sicherheit verleiht Kindern das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen, Herausforderungen anzunehmen, Veränderungen umzusetzen und Lösungen zu entwickeln.

Dazu benötigt das Kind einen stabilen Bezugsrahmen. Die Fähigkeit zur Betroffenheit und zum Staunen kennzeichnet die Begegnung zur Umwelt. Altersspezifische Anregungen des Kindes können Erfahrungsoffenheit, Mut zur Selbstverwirklichung und somit eine positive Lebenseinstellung fördern. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die Kinder ihren eigenen Bewertungsrahmen stecken zu lassen, denn sie selbst sollten in erster Linie mit ihren Leistungen zufrieden sein, nicht die anderen. Durch eine übermäßige Erwartungshaltung der Erziehenden entsteht Druck, welcher sich sehr demotivierend auf die Lernbereitschaft des Kindes auswirkt.

Auch der unangemessene Einsatz von Belohnungen kann sich als Verstärker in gegenteiliges Verhalten kehren, Kinder machen nichts mehr aus Spaß an der Sache selber und die innere Motivation verlischt. Um die Experimentierfreude und die damit verbundene Risikobereitschaft zu fördern, ist es unabdingbar, dass Kinder nicht unter permanenter Beaufsichtigung stehen; man sollte ihnen aber auch nicht das Gefühl geben, dass sie alleingelassen werden, sondern ihnen den Freiraum zur Selbstständigkeit und zu einer angemessenen Entscheidungsfreiheit gönnen.

Auf der Grundlage eines stabilen Ich sollten Kinder nicht nur Hinterfragen und Kritikfähigkeit lernen, sie sollten auch zum aktiven Fragen, verbunden mit der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten, erzogen werden,

In diesem Sinne können gewisse Versagungen und Konflikte sehr anregend sein (Not macht erfinderisch). Ein angstfreier, repressionsarmer Umgang mit dem Kind wirkt sich, im Gegensatz zu dogmatischen Strukturen und übertriebenen Ordnungszwängen, wesentlich kreativitätsfördernder aus.

2.6.4. Identität

E. Erikson reflektierte "Identität" als einen Begriff, der eine wechselseitige Beziehung ausdrückt zwischen dem Individuum in seiner kontinuierlichen Übereinstimmung mit sich selbst (die als "Selbst" erlebte innere Einheit der Person) einerseits, und seiner Identifikation mit bestimmten Gruppen andererseits (vgl. Psychologie und Erziehung 1995: 461 f.).

Die Identitätsbildung kann als ein lebenslanger dynamischer Entwicklungsprozess betrachtet werden, bei dem sich durch die Gesamtheit der bisherigen Erfahrungen, Lernprozesse, sowie der phasenspezifischen Krisen und Konflikte allmählich die Persönlichkeit bzw. die Ich-Identität entwickelt. Dieser Entwicklung muss ein dialogisches Verhältnis innerhalb der Familie zugrunde liegen, da sich die Identität der Eltern unmittelbar auf die Identitätsentwicklung der Kinder auswirkt.

Man kann zwischen Identitätsbewusstsein und Identitätsgefühl unterscheiden. Aus dem Identitätsbewusstsein erwachsen Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven sowie Lebens-erwartungen und Hoffnungen. Identitätsgefühl wird, nach E. Erikson, vorbewusst als psychosoziales Wohlbefinden erlebt, Voraussetzung hierfür ist ein möglichst positives Selbstbild und ein Gefühl des Sich-selbst-seins.

Neben dieser persönlichen Identität, ist die soziale Identität für die Ich-Stärkung und Identitätsentwicklung ebenso wichtig. Durch die Beteiligung am sozialen Leben, verbunden mit deren spezifischen Rollenerwartungen, Kritiken, gemeinsamen Aktivitäten ect., ist der Mensch gezwungen sich und seine Rolle innerhalb der Gemeinschaft immer wieder neu zu überdenken und zu reflektieren. Aus dieser permanenten Auseinandersetzung und der sich ständig wandelnden Beziehungsdialektik entwickelt das Kind sowohl seine soziale Identität, wie auch sein Selbstwertgefühl. Auch die Notwendigkeit, im sozialen Zusammenleben permanent nach Konfliktlösungen suchen zu müssen, fördert und fordert die Ausbildung einer starken Ich-Identität.

Altersgemäße, angebrachte Versagungen haben ihre Berechtigung, da das Kind dadurch lernt eigene Kräfte zu entwickeln und zu mobilisieren. Gleichzeitig ist es maßgeblich für das Kind, auch die Erfahrung von Sicherheit, Vertrauen und Akzeptanz zu erleben; eine konstante, kontinuierliche Eltern-Kind-Beziehung ist der Grundstock für die Identitätsbildung.

Das Zugeständnis zum persönlichen Autonomiebedürfnis des Kindes steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausbildung des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls. In dieser Entwicklungsphase der Ich-Abgrenzung (anale Phase und oft zeitgleich mit der ersten Trotzphase), sollte das Kind die Möglichkeit bekommen, sich im Nein-sagen ausprobieren zu können, ohne das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den Eltern vermittelt zu bekommen.

Dieser Abgrenzungsprozess vollzieht sich in den ersten Lebensjahren im familiären Rahmen. Es ist jedoch zwingend notwendig, dass er sich auch auf einen größeren, gesellschaftlichen Rahmen ausweitet. Um mündig in der Gesellschaft bestehen zu können, müssen Kinder Nein sagen können, um sich in der pluralistischen Gesellschaft (mit seiner ganzen Informations- und Konsumüberflutung) behaupten zu können.

Konflikte und Spannungen innerhalb der Familie werden in der psychoanalytischen Pädagogik als positives Gesundheitsmerkmal und Zeichen geistiger Lebendigkeit gewertet. Konflikte entstehen durch Konfrontationen mit anderen, d.h. Grenzen ziehen, Einschränkungen und Versagungen. Durch die Verschiedenheit der Persönlichkeiten und die ständige Dynamik der alltäglichen Lebensumstände sind Konfrontationen unausweichlich und für das eigene Denken und Handeln sehr von Bedeutung. Die Fähigkeit, Konflikte bewusst zu erleben, auszuhalten und zu lösen, ist eines der wichtigsten Lernziele und stärkt die Ich- Identität enorm. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Eltern ihren Kindern die Einsicht vermitteln, dass sie als Konfliktpartner akzeptiert werden, dass Eltern nicht mit emotionalem Rückzug reagieren, sondern möglichst sachlich bleiben, und dass die Einschränkungen und Verbote transparent und sinnvoll sind.

Der dynamische Gegenpol zur Abgrenzung ist die Identifikation. Dieser Anpassungsvorgang ist ein wesentlicher Faktor in der zwischenmenschlichen Interaktion. Zur sinnvollen Auseinandersetzung mit seinem Selbst und der Umwelt benötigt das Kind Vorbilder und Leitfiguren. Zu dem Identifikationsobjekt muss eine positive Beziehung bestehen, das Kind muss sich angenommen fühlen, damit es sich messen und sich orientieren kann. "Identifikation aus Angst, birgt immer die Gefahr, unbewusste Gegenkräfte zu mobilisieren, die zu einer Fragmentarisierung oder Verkehrung der Identifikation führen können." (Auchter 1973: 131) Besonders die Sicherheit in der Geschlechtsidentität ist ein wichtiger Aspekt in der Identitätsbildung.

Identitätsstörungen können durch Übertragungen und Projektionen traumatischer Rollenbilder der Eltern auf die Kinder entstehen. Überladen Eltern ihre Kinder mit unangebrachten Rollenbeziehungen wie z.B. Kameraderie oder als Substitut für einen anderen Partner ect., kann dies zu Verunsicherungen und Überforderungen führen.

Minderwertigkeitsgefühle, Einsamkeit oder auch Isolationsgefühle (manchmal auch in Verbindung mit narzisstischen Kompensationsversuchen) gehören zu den leichten Identitätsstörungen. Eine extreme Form einer pathologischen Identität stellt die Schizophrenie dar. (zusammengefasst aus Auchter 1973: 113- 130)

In späteren Jahren stellte E. Fromm einer gesunden sozialen Identität den Begriff der "Entfremdung" gegenüber: "Unter Entfremdung ist eine Art der Erfahrung zu verstehen, bei welcher der Betreffende sich selbst als Fremden erlebt. Er ist sozusagen sich selbst entfremdet. Er erfährt sich nicht mehr als Mittelpunkt seiner Welt, als Urheber seiner eigenen Taten.... Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt - mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten" (Fromm 1960: 120)



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
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         2.5.1. Zielsetzung der psychoanalytischen Pädagogik

         2.5.2. Sachliche Erziehung
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