Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         5.2. Was versteht man unter der "Panzerung" des Menschen?

         5.3. Freie Pulsation als Grundfunktion des lebendigen Organismus und der Entstehungsprozess chronischer Panzerung
         5.4. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich

      6. Zum Kontext der Selbstregulation: ...



5.3. Freie Pulsation als Grundfunktion des lebendigen Organismus und der Entstehungsprozess chronischer Panzerung

"Wie können sich Babies, diese arglosen Geschöpfe nur so verwandeln in so unsichere, selbstbezogene Menschen, wie wir sie sind, unfähig harmonisch zusammen zu leben, mit dem Ehrgeiz entweder sehr reich, ungemein gebildet, beneidenswert schön oder berühmt zu werden, Gott zu erkennen - der sich wahrscheinlich irgendwo versteckt - und zu hoffen, dass unsere Kinder nicht so werden wie wir ?" (W. Steig im Vorwort zu "children of the futur" Reich 1983)

Reich beschäftigte sich mit unterschiedlichen wissenschaftliche Disziplinen und verknüpfte diese miteinander; er überschritt damit, nach traditionellem Wissenschaftsverständnis, Kompetenzbereiche. Gerade diese Überwindung der Disziplingrenzen führte ihn jedoch zu einem einheitlichen Konzept der Physiologie des Organismus. Die zentrale Frage, welche er sich dabei stellte war: "Was ist Leben?". Im Rahmen dieser Betrachtung stieß Reich auf eine biophysikalische Energie, die Körper und Seele zur psychosomatischen Einheit integriert und uns mit der Natur verbindet. Diese Lebensenergie (Orgonenergie) verspürt jeder Mensch als Lebensantrieb, -kraft oder -wille.

Den Begriff der Lebensenergie gab es bereits in früheren Kulturen, er ist identisch mit Begriffen wie Ki, Prana, Äther, Od, Aura oder Orgon. Reich zeigte in späteren Jahren durch bioelektrische Experimente, dass diese Energie objektiv messbar ist. Es gibt heute noch andere wissenschaftliche Ergebnisse, die diese Forschungen Reichs bestätigen. Eine endgültige wissenschaftliche Akzeptanz dieser biophysikalischen Energie gibt es jedoch bis heute nicht (vergl. D. Fuckert 1997: 51ff.). (wobei die bioenergetische Arbeit heute bereits zu einem festen Bestandteil vieler alternativ - medizinisch - und therapeutischer Bereiche geworden ist)

Für Reich ist der lebende Organismus eine energetische Einheit, ein System, welches eine bestimmte Menge an Lebensenergie enthält und ein Zentrum in sich birgt. Diesem lebendigen System liegt die energetische Grundfunktion der Pulsation zu Grunde, d.h. sämtliche Grundgefühle (Aggressionen, Sexualität, Angst ect.) entsprechen bestimmten Bewegungsmustern dieser Lebensenergie im Körper (sie pulsieren wellenförmig vom Zentrum nach Außen hin). Reich fasste diese Gesetzmäßigkeit der Pulsation in der sogenannten Lebensformel zusammen: Spannung - Ladung - Entladung - Entspannung.

Spannung und Ladung sind hierbei auch als Expansion zu betrachten (lustvolle Aktivität zur Welt hin). Entladung und Entspannung als Kontraktion (zusammenziehen, Passivität und ängstlicher Rückzug von der Welt weg) d.h. der Körper nimmt sowohl auf der körperlichen, wie auch auf der emotionalen Ebene Lebensenergie in sich auf (durch Atmung, Essen, äußere Sinneseindrücke, Ruhe) und gibt sie wieder ab (in schöpferischem Tun, emotionalem Ausdruck, Spielen, körperliche und sexuelle Aktivität ect.) (vergl. D. Fuckert 1994: 66).

Eine freie Pulsation beinhaltet demnach die Möglichkeit des freien Ausdrucks der Gefühle und ist gleichbedeutend mit dem ungehinderten Strömen von (Lebens-) Energie im individuellen Grundrhythmus des Menschen. Dieses Strömen bioenergetischer (bzw. sexueller) Energie schlägt sich dann auch in der Fähigkeit zu ungehemmtem, angstfreiem und spontanem Verhalten nieder und ist damit das Kennzeichen des Lebendigseins.

"Ist dieses Fließen blockiert, kommt es zu seelischen Störungen, zu Angst und zu seelischen wie körperlichen Verkrampfungen. Ist es nicht blockiert, dann ist der Mensch liebesfähig und.....generell gemeinschaftsfähig" (Brockert 1995 : 197)

Wilhelm Reich betonte bereits sehr früh die Bedeutung der intrauterinen Phase des Embryos, wie auch die perinatale Phase für die weitere Entwicklung des Kindes. Für ihn war das Kind bereits als Embryo ein sehr empfindliches, formbares und reagibles Wesen (vergl. hierzu die Bsp. von Lichtenberg 1991: 142). Es schöpft und entfaltet sich aus seinem Zentrum heraus und ist mit allen Sinnen, Bedürfnissen und Impulsen offen und zur Außenwelt hin gerichtet. Erfährt das Neugeborene nicht die Zuneigung, welche es braucht, wird es fortdauernd frustriert bzw. seine Grundbedürfnisse und Impulse abgelehnt, bestraft oder ignoriert, beginnt sich das Kind gegen solche schmerzlichen Erfahrungen und unerträglichen Gefühle zu schützen. Es hält diese Impulse zurück und verdrängt den Konflikt.

Für diesen Verdrängungs- oder auch Panzerungsprozess benötigt es Energie, welche es durch Energieabspaltung seines Zentrums bezieht. Durch diese Verdrängungsmechanismen wird eine freie Pulsation blockiert, d.h. der natürliche Abbau der Energien ist behindert, die Energie wird aufgestaut, das Kind steht unter Druck.

Emotionale Ausbrüche sind für Kinder oftmals ein Ventil, welches solchen Druck und Spannungen löst und dem Kind somit Erleichterung verschafft, es ist aber auch oft die einzige Verteidigungsmöglichkeit gegenüber äußerem Druck. Werden jedoch diese emotionalen Reaktionen auf Frustration permanent unterdrückt, bekommen Kinder nicht die Möglichkeit ihre Gefühle u.a. im Spiel abzureagieren und ihr Lebendigsein ausleben zu können (sowohl die natürlichen Aggressionen, wie auch ihre Freude und Impulsivität), können diese ursprünglich natürlichen und positiven Impulse so eine mehr oder weniger pervertierte und destruktive Qualität annehmen (z.B. neurotische, blindwütige Aggression, Sadismus ect.).

Wenn nun diese Spannungen bzw. aufgestaute Energien wiederum verhindert werden, erstarrt das Kind, es wird ängstlich und hilflos.(vergl. hierzu auch Punkt 5.1)

"Das klassische Beispiel: unbefriedigende Liebesimpulse und ungestillte Sehnsucht nach Kontakt führen zu Frustrationen, zu Wut, zu Angst. Wird deren emotionaler Ausdruck unterdrückt, entsteht Lebensangst einerseits und Lebenshass andererseits" (D. Fuckert 1995)

Um diesen Prozess praktisch nochmals zu veranschaulichen, sollte man sich vor Augen führen, was es z.B. für ein heftig schluchzendes Kind bedeutet, wenn man ihm befiehlt sich "zusammenzureißen" und mit dem Weinen aufzuhören. Tränen und der damit verbundene Gefühlsausbruch sind nicht einfach abzustellen. Emotionen sind, wie bereits erwähnt, Wellen, die sich aus dem tiefsten Inneren des kindlichen Wesens heraus zur Oberfläche, nach Außen hin bewegen und sich dort entladen. Um diese Entladung zu stoppen, muss sich das Kind verkrampfen. Es hält den Atem an, beißt sich eventuell auf die Lippen, seine Augen schauen weg, es vermeidet Blickkontakt und macht sich somit gegen den emotionalen Ausdruck von Weichheit, Offenheit und Verletzbarkeit hart. Der Hals zieht sich zusammen und der Kiefer verhärtet, um gegen das Zittern anzugehen, welches in Kinn und Lippen aufsteigt. Hände ballen sich zu Fäusten und je nach Heftigkeit des äußeren Drucks versteift sich der ganze Körper und geht vom rhythmischen Schaudern zu Starrheit über.

In emotionalen Ausbrüchen, wie beim Schreien oder Weinen "stoßen" wir die Emotionen raus, atmen tief, fühlen uns erschöpft, aber auch befreit und gelöst. Der Körper bleibt weich und lebendig und das emotionale Gleichgewicht wird wieder hergestellt. Wenn diese Unterdrückung von emotionalen Äußerungen und Verhaltensweisen oft bzw. mit genügender Intensität vorkommt, besetzt es die ganze Persönlichkeit, das Kind verliert den Kontakt zu seinem weichen Inneren, es verhärtet. (vergl. M. Appleton 2000: 143)

Durch solche Erstarrungen und Verpanzerungen schützt sich das Kind gegen schmerzliche Erfahrungen und Traumatisierungen. Was jedoch in diesem kindlichen Stadium seinen Sinn hatte, wirkt auch noch später im Erwachsenenalter fort, wenn es längst seinen aktuellen Sinn verlor, es wird chronisch. Auch wenn der äußere Druck, der diese Verdrängung notwendig gemacht hatte, nicht mehr existiert, kann sich der erwachsene Mensch gegenüber den damals verletzten Gefühlen nicht mehr öffnen. Er zieht sich zurück und kann weder seine Gefühle klar zum Ausdruck bringen, noch die Gefühle anderer direkt an sich heran lassen. Die Sicht und Klarheit in der Wahrnehmung (der Gefühle) ist getrübt, die eigenen Gefühle sind verwirrt, verworren und ambivalent, Lust ist mit Angst durchsetzt, Liebe mit Hass, Wut mit Schuldgefühlen. Aus den einzelnen klaren Gefühlen sind neurotische Verstrickungen geworden. (vergl. D. Fuckert 1997: 55f.)

Wut, Aggressionen aber auch Traurigkeit werden in unserer Gesellschaft zumeist als negative, schlechte Gefühle gewertet, dies geht auf Einflüsse solcher oder ähnlicher Kindheitserlebnisse zurück.

5.4. Das Prinzip der Selbstregulation als pädagogische Konsequenz der wissenschaftlichen Erkenntnisse Reichs

"Wir können unseren Kindern nicht sagen, welche Art von Welt sie schaffen werden oder schaffen sollen. Doch wir können unsere Kinder mit der Art von Charakterstruktur und biologischer Kraft ausrüsten, die sie befähigt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre eigenen Wege zu finden und in rationaler Weise ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder zu gestalten"

(Reich, 1950 : 4)

Reich gründete 1948 zusammen mit einem Team von 40 Ärzten, Therapeuten, Erziehern und Sozialarbeitern das "Orgonomic Infant Research Center" mit der Zielsetzung zu untersuchen, wie emotionale Störungen in der Kindheit entstehen und wie sie sich gestalten. Zudem wurde fiktiv die Frage aufgeworfen, wie sich ein Kind unter optimalen Bedingungen von der Zeugung an entwickeln könnte. Die Grundlage zum Entstehungsprozess des Prinzips der Selbstregulation als Erziehungsmodell, bildeten Reichs bioenergetische Erkenntnisse.

Die pädagogische Umsetzung der sowohl psychologischen wie auch naturwissenschaftlichen Theorien basiert nicht auf Dogmen, starren Verhaltensregeln oder strikten pädagogischen Richtlinien. Das Konzept der Selbstregulation versteht sich vielmehr als ein dynamischer, wechselseitiger Prozess zwischen Eltern/Erziehenden und den Kindern. "Es geht um eine aufmerksame, einfühlsame, angemessene d.h. altersspezifische Befriedigung und Beantwortung, der sich stets ändernden kindlichen Bedürfnisse." (D. Fuckert 1995 : 75)

Die Tatsache, dass dieses Erziehungsmodell auf situativen Interaktionen fundiert, macht deutlich warum es keine eindeutige Definition dieses Prinzips geben kann. A.S. Neill, der seit den späten 40er Jahren von dem Prinzip der Selbstregulation sprach, war der Meinung, Selbstregulation könne nur vom Herzen kommen, und M. Appleton ergänzte dies, indem er sagte: "Selbstregulation ist eine Haltung zu Kindern und letztlich auch eine Haltung zum Leben" (M. Appleton, zit. De Meo, B. Senf 1997 : 336).

Ich will versuchen das Prinzip der Selbstregulation zu konkretisieren, um den Grundgedanken Reichs dadurch zu verdeutlichen.

Ziel ist es, durch das Prinzip der Selbstregulation das Kind nicht zu formen, sondern es in seiner jeweiligen Natur zu unterstützen. Ausgehend von Reichs Schichtmodell des Menschen, soll dem Kind erlaubt werden, sich frei nach seiner individuellen Persönlichkeit zu entwickeln, d.h. Kinder sollten die Möglichkeit bekommen, altersgemäß ihre Grundbedürfnisse und Gefühle ausleben zu können. Dabei versteht sich die Selbstregulation als Gegensatz zu einem sich einmischenden, versagenden, kontrollierenden und autoritären Umgang einerseits und antiautoritärer, nachlässiger, kontaktloser- oder benutzender Haltung andererseits. Sie ist demnach eine Gratwanderung zwischen Autorität, Laisser-faire und freiheitlicher Erziehung.

In der Konzeption der Selbstregulation wird sowohl der Erziehende wie auch das Kind immer wieder neu gefordert zwischen den verschiedenen Grund-Impulsen und -Bedürfnissen eine positive Balance zu finden.

Zu diesen Primärbedürfnissen gehören (neben der Nahrungsaufnahme) der Wunsch nach:

Werden diese Grundbedürfnisse nicht nur respektiert und ernst genommen, sondern zudem als Erziehungsziele und Lebenszielsetzung verinnerlicht, bekommt man eine Vorstellung von dem was es bedeuten kann, ein Leben aus seinem inneren Zentrum heraus zu leben.

Werden jedoch diese kindlichen Impulse und Bedürfnisse durch eine repressive, vernachlässigende oder manipulierende Erziehung stark beeinträchtigt, führt dies zu einer Blockade der angeborenen lebenspositiven Potentiale des Kindes. Sein lebendiges Wesen und der freie Ausdruck seiner Emotionalität werden massiv eingeschränkt, das Kind verpanzert sich. (siehe hierzu auch Punkt 5.2)

Die Zielsetzung der Selbstregulation sollte es demnach sein, den biologischen Kern des Kindes freizuhalten, es vor chronischen Panzerungen zu schützen und dem Kind dadurch eine freie, energetische Pulsation zu ermöglichen, um so die emotionale Lebendigkeit des Kindes zu erhalten (siehe hierzu auch Punkt 5.3). Die Konzeption dieses Erziehungsmodells unterscheidet sich sowohl durch diese Zielsetzung, als auch durch die pädagogische Methodik von allen anderen nicht-repressiven und liberalen Erziehungsformen. Der zentrale pädagogische Aspekt basiert darauf, den Kindern ein Recht auf einen freien emotionalen Ausdruck einzuräumen.

Wenn wir konsequent den Absichten und Bedürfnissen des Kindes entgegenkommen, es mit dem nötigen Respekt behandeln, erziehen wir das Kind in natürlicher Weise, sich entgegenkommend zu verhalten und die Bedürfnisse anderer ebenso zu respektieren (dem gegenüber steht die autoritäre Variante des "anständig-benehmen-lernens" aus Prinzip). In der erzieherischen Praxis ist es unumgänglich, dass Rechte zweier Menschen des öfteren auch aufeinanderprallen. Es ist ein Lernprozess für jeden Beteiligten, solche Situationen zu meistern.

Neill betonte in seinem Buch "Das Prinzip Summerhill: Fragen und Antworten" ganz klar die Notwendigkeit der gegenseitigen Akzeptanz in allen sozialen Beziehungen und besonders innerhalb der Erziehung. Er differenzierte dabei klar zwischen Freiheit und Zügellosigkeit.

Reichs pädagogische Zielsetzung war eine weit möglichste Enthaltsamkeit in der Erziehung; er beschränkte die Erziehungsmaßnahmen auf die allernotwendigsten Versagungen.

Nun, aber was sind notwendige Versagungen und wo liegen die Grenzen zur Zügellosigkeit in der Erziehung ? Die Antwort auf diese Frage dürfte individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Reich, sowie auch Neill unterstrichen in diesem Zusammenhang das gemeinsame Grundprinzip sozialer Interaktionen und somit auch das Fundament der Demokratie: die Freiheit hat dort seine Grenzen, wo die Freiheit (und Rechte) anderer verletzt werden. Beide waren sich einig darin, dass freiheitliche Erziehung sich nur auf gegenseitiger Akzeptanz aufbauen kann und dem unterliegt das Prinzip des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Das sind die natürlichen Einschränkungen durch das Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft.

In der frühen Kindheit ist es ganz klar, dass die Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse im Vordergrund zu stehen hat und dass die Eltern in dieser Zeitspanne ihre eigenen Bedürfnisse und Zufriedenstellungen zurückstellen müssen. Eltern müssen in dieser Lebensphase Halt und Sicherheit vermitteln können. Je nach Entwicklungsstand des Kindes, verschiebt sich das Verhältnis der Bedürfnisse zwischen Kind und Eltern und es sollte bezüglich der Wichtigkeit der Bedürfnisbefriedigung von Kindern und Eltern abgewogen werden.

Dazu muss "eine instinktive und natürliche Bewertung der Vorrangigkeit der unterschiedlichen Interessen erfolgen. Das Wohlbefinden eines Babies ist sicher wichtiger, als der Kinobesuch der Eltern. Der Schlaf der Eltern ist vermutlich wichtiger, als gemeinsames Fernsehschauen mit Schulkindern. Der stets nach Wertschätzung, Abwägung und möglichen Konsens strebende Umgang mit diesen alltäglichen Konflikten, die Suche nach kreativen Lösungen und Kompromissen zeigt die Demokratieorientierung einer Familie und übt Demokratiefähigkeit bei Kindern und Erwachsenen" (D. Fuckert 2000 : 73)

Diese natürliche, kindliche Entwicklung von der totalen Abhängigkeit und Hilfebedürftigkeit in der Kleinkindphase bis hin zum immer stärker werdenden Wunsch nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit sollte nicht punktuell, sondern prozesshaft und begleitend erfolgen.

Zunächst sind Kinder von Natur aus einfach laut, oft sehr lebhaft, fordernd und unordentlich, dieses Ausleben kindlicher Impulsivität wird von den Eltern dann vielfach als störend, unangenehm und belastend empfunden. Das Problem, welches sich in diesem Zusammenhang auftut ist, dass der Mehrheit der Erwachsenen selbst der Zugang zu ihrer eigenen Gefühlswelt fehlt, so dass sie ihre eigenen Gefühle und Impulse nicht mehr frei auszudrücken wissen. Aus diesem Grund fällt es ihnen dann sehr schwer, kindliche Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Lust ect. anzunehmen und widerspruchslos zuzulassen.

Zum Beispiel erschrecken wir im Alltag über die Aggressionen unserer Kinder und versuchen sie umgehend in friedliche Bahnen zu lenken. Zeigen Kinder Angst, so teilen wir sie nicht mit ihnen, sondern haben gleich ein "Du brauchst doch keine Angst zu haben" parat, und wenn unsere Kinder weinen, wissen wir gleich "wein’ doch nicht, es ist doch halb so schlimm..." All dies geschieht mit den guten Vorsätzen, das Beste für das Kind zu wollen. Wir versuchen sie nach unseren Maßstäben zu "fördern", jedoch sollten wir uns einmal vor Augen halten, wie häufig wir am Tag mit dieser Form der "sanften" Manipulation unseren Kindern ihre eigenen Gefühle und Empfindungen absprechen.

Wir achten darauf, dass unser Kind genug isst; dass es sich bloß warm anzieht; dass es sowohl musische, wie auch künstlerische Förderung erhält, um jede eventuelle Begabung zu fördern. Wir versuchen selbst Streitigkeiten zwischen den Kindern zu schlichten, anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst kreative Konfliktbewältigungsstrategien und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln oder sie einfach nur streiten zu lassen - kurzum, wir Erwachsenen glauben zu wissen, was für unser Kind gut und schlecht ist. In diesem Wunsch, den Kindern unsere eigenen Wertemaßstäbe auf zu doktrinieren, spiegeln sich zumeist die Unsicherheiten und Ängste der Eltern wieder.

"Wir täten gut daran, unsere Kinder anzunehmen, wie sie sind, ohne den permanenten Erziehungszwang im Hintergrund, der die Beziehung zwischen Eltern, Erziehern und Kindern vergiftet" (K. Heimann 1990 : 54)

Die Rolle der Eltern und Erziehenden ist bei dem Prinzip der Selbstregulation eine sehr anspruchsvolle. Man muss schon ein hohes Maß an Offenheit, Einfühlungsvermögen, Flexibilität und den Mut und Willen zu kritischer Selbstreflexion mitbringen, um dem Kind die Haltung der Selbstregulation vermitteln zu können, um es in seiner individuellen Natur zu sehen und lassen zu können, es dabei zu unterstützen, ohne jedoch in den einen oder anderen extremen Erziehungsstil zu verfallen.

Das Prinzip der Selbstregulation zielt dabei jedoch nicht auf eine Leugnung des Überlegenheitsgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern. Eine Degradierung der Eltern-Kind-Beziehung auf reine Kumpelhaftigkeit und Kameradschaft kann aus verschiedenen Gründen heraus überaus schädlich sein für die kindliche Entwicklung. Auch die Forderung nach Verzicht auf jegliche Lenkung und Beeinflussung ist sowohl in der Erziehung, wie auch bei allen intensiven Beziehungen illusorisch, da innige zwischenmenschliche Beziehungen immer auf gegenseitige Interaktionen ausgerichtet werden sollten. Zudem sind altersentsprechende pädagogische Orientierungshilfen zur Sicherung und Ausbildung des kindlichen Ichs notwendig.

Die Selbstregulation fordert auch keine generelle Ablehnung erzieherischer Absichten und Ziele (wie z.B. manche extremen Formen der antiautoritäre Erziehungsbewegung), solange diese sinnvoll und für die Kinder nachvollziehbar bzw. transparent sind. Dies setzt nicht die Negierung von Autorität, sondern eine bejahende, rationale Autorität in der Erziehung voraus (Autorität hat in der Erziehung dann ihre Berechtigung, wenn sie Ausdruck einer subjektiven, freiwilligen Anerkennung einer partizipialen Überlegenheit des Autoritätsträgers in Bezug auf Wissen, Können, auf bestimmte Wertung oder Sinnorientierung in Verbindung mit Vertrauen und Menschlichkeit ist).

Wir sollten uns aber auch ebenso von diesem "Perfektionistenanspruch" in der Erziehung und dem damit verbundenen Krampf und Druck frei machen. Kinder brauchen keine künstlich pädagogisch gesetzten Widerstände, sondern aufrichtige, authentische Erwachsene, die ihre eigenen Interessen nicht verbergen, sondern auch vertreten und verteidigen können.

Eltern und Erzieher sollten daran interessiert sein, eine aktive, interessierte und liebevolle Beziehung zu den Kindern aufzubauen, welche die Rechte und Bedürfnisse von Kindern respektieren und ernst nehmen sollten, und Kinder Kinder sein lassen dürfen.

"Wir können uns intellektuell darüber auseinandersetzen, wie weit Kinder zu Selbstregulation und Selbstbestimmung fähig sind, - wir können aber auch darüber reden, warum wir Erwachsenen so Schwierigkeiten haben, der selbstregulierenden Lebenskraft unserer Kinder zu vertrauen" (K. Heimann aus einem Einführungsreferat zweier Diskussionsabende an der Montessori - Schule Breitbrunn)



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         5.2. Was versteht man unter der "Panzerung" des Menschen?

         5.3. Freie Pulsation als Grundfunktion des lebendigen Organismus und der Entstehungsprozess chronischer Panzerung
         5.4. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich

      6. Zum Kontext der Selbstregulation: ...