Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         3.3. Abgrenzung der psychoanalytischen Pädagogik bezüglich der antiautoritären Erziehungsbewegung

      4. Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich
      5. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich
         5.1. Das Schichtmodell des modernen Kulturmenschen
         5.2. Was versteht man unter der "Panzerung" des Menschen?

      5.3. Freie Pulsation als Grundfunktion des lebendigen Organismus und der Entstehungsprozess chronischer Panzerung



5. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich

5.1. Das Schichtmodell des modernen Kulturmenschen

" Wenn ihr die Natur nicht zuerst unterdrückt, werden keine antisozialen Triebe hervorgebracht, und es ist auch kein Zwang nötig diese zu unterdrücken. Was ihr so verzweifelt und dennoch ergebnislos versucht durch Zwang und Ermahnung zu erreichen, ist im Neugeborenen schon da, bereit zu leben und zu funktionieren. Lasst es wachsen wie es seine Natur erfordert und ändert eure Institutionen dementsprechend"

(Reich 1950 : 44)

Der Mensch untergliedert sich, nach der Auffassung Reichs, in drei Schichten: Einem zentralen Mittelpunkt, welcher die primäre Urkraft des Menschen in sich birgt, als zweite Schicht das Innere oder auch Unbewusste und das Erscheinungsbild bzw. die äußere Hülle des Menschen als dritte Schicht.

Die erste Schicht lässt sich als das Zentrum, den biologischen Kern des Menschen verstehen. Dieser beinhaltet die primären, natürlichen und lebensbejahenden Impulse, d.h. einfache, spontane und aufrichtige menschliche Strebungen. Aus diesem Kern heraus, sah Reich das Kind von seiner Existenz an, als ein Wesen, welches von seinem Ursprung her ganz der Welt zugewandt und in der Lage ist, seine Primärimpulse und Grundbedürfnisse offen und lustvoll nach außen zu richten. Es besitzt volle Kontakt- und Liebesfähigkeit. Folglich war es Reichs Überzeugung, dass der Mensch durch natürliches Wachstum zu einem sozialen und liebevollen Wesen wird, der besten Falles, auch in späteren Jahren noch, in der Lage sein wird, aus seinem Zentrum heraus zu leben, was bedeuten würde, dass er authentisch mit sich selbst ist und der jeweiligen Situation und seiner individuellen Prägung nach angemessen seinen Gefühlen Ausdruck verleihen kann (Fähigkeit zu Intimität und Liebe, zur Lust, zum Hass, Wut, Trauer Freude ect.).

Durch traumatische Erfahrungen oder repressive Erziehungsmethoden, bei denen das Kind genötigt wird seine Grundbedürfnisse und Primärimpulse zu unterdrücken, entstehen verzerrte, oft destruktive Impulse (z.B. antisoziale Handlungen). Diese negativen Affekte kommen in der zweiten Schicht des Menschen zu Tage. D. Boadella bezeichnet sie als "gefährliche, groteske und irrationale Impulse und Phantasien der alptraumhaften Welt des Freudschen verdrängten Unbewussten" (D. Boadella 1988 : 47). Aus Lebensfreude wird Lebensangst, aus natürlicher Sexualität wird pornographisches Denken oder aus natürlichen Aggressionen wird Destruktivität. Diese zweite Schicht ist ein Kunstprodukt unserer Gesellschaft, sie ist unbewusst und wird, wenn überhaupt, als innere Leere empfunden.

Im Interesse einer einigermaßen funktionierenden Gesellschaft, ist es teilweise jedoch notwendig, die Sekundärimpulse der zweiten Schicht zu unterdrücken. Diese pervertierten, destruktiven Impulse prallen meist recht schnell zusammen mit äußerem Druck, mit Strafe oder Ablehnung. Aus dieser Doppelunterdrückung entwickelt sich dann die dritte Schicht, die soziale Fassade und die Anpassung, verbunden mit ihrer unaufrichtigen Haltung von künstlicher, zwanghafter Freundlichkeit, Nachgiebigkeit und Gleichgültigkeit (aus Reich 1987 : 175 f., D. Fuckert 1995 : 71f.).

5.2. Was versteht man unter der "Panzerung" des Menschen?

"Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung" (Reich 1987: 227)

Freud, wie auch Reich betonten, dass im Rahmen der Psychoanalyse ein Symptom nur verschwinden könne, wenn auch der unmittelbar begleitende Affekt wachgerufen werde. "Doch die Erinnerung führt oft nicht zum Affekt, weil, so Reich, nicht nur einzelne Widerstände, sondern auch charakterliche Haltung, wie übergroße Freundlichkeit, Anhänglichkeit, übermäßige Affektiertheit, chronische Melancholie, Zwanghaftigkeit oder überforsches Auftreten sie blockieren" (Schrauth u. Geuter 1997: 94) Die Gesamtstruktur dieser abwehrenden Charakterzüge- bzw. widerstände nannte Reich "Charakterpanzer".

Im Rahmen seiner psychoanalytischen Behandlungen fiel Reich zudem auf, dass Patienten jedes Mal, wenn die Assoziationen ins Stocken gerieten, eine starre Ausdrucks- bzw. Körperhaltung annahmen, jeder auf seine speziell individuelle Art, aber das Gemeinsame lag in der zunehmenden Starrheit.

Für Reich trat nun zusehends das nonverbale Verhalten und der Gefühlsausdruck in den Vordergrund, was ihn von der Charakteranalyse zur Körperanalyse führte. Er stellte fest, dass gewisse Charaktereigenschaften und emotionale Blockaden oft mit bestimmten Körperhaltungen einhergehen und dass der Charakterpanzer (der auf der psychischen Ebene, sich als ein in bestimmter Weise erstarrtes Verhaltensmuster präsentiert) mit der Körperpanzerung (ein in bestimmter Weise erstarrter körperlicher Ausdruck) in unmittelbarem Zusammenhang stehen und funktionell identisch sind (halsstarrige Patienten haben z.B. oftmals eine stark verspannte Nackenmuskulatur; ängstliche, gehemmte Patienten atmen zumeist sehr flach usw.).

In dieser psychosomatischen Einheit manifestiert sich jede emotionale Unterdrückung auch körperlich und jedes körperliche Trauma äußert sich gleichzeitig auch psychisch. Eine Traumatisierung bleibt so lange im Körper, bis sie seelisch verarbeitet und emotional ausgedrückt werden kann und so vom Körper wieder losgelassen wird. Je nach Alter des Kindes/Menschen und nach der Schwere der Traumatisierung, wird der Schmerz entsprechend komprimiert, d.h. er verfestigt sich, verbunden mit einer Verhärtung der Muskulatur - es kommt zu einer psychischen, wie physischen Erstarrung, der Panzerung.

Diese Panzerungen haben die Funktion, starke, schmerzliche Gefühle und die damit verbundenen Affekte zu binden oder abzuwehren, sie mildern den Druck der Verdrängung und bieten Schutz gegen überwältigende Gefühle wie Hilflosigkeit, Wut, Ohnmacht, Angst ect.; Panzerungen besitzen daher eine gewisse Überlebensfunktion.

Panzerungen binden jedoch auch Energien und stören somit den freien Energiefluss des Menschen; damit schränken sie auch massiv die Lebendigkeit, Flexibilität, Genuss- und Lustfähigkeit ein.

Panzerungsmechanismen können unterschiedliche Erscheinungsformen haben: Zum einen die Veränderung der Muskulatur (Hyper- oder Atonie); aber auch Abspaltungsmechanismen mit funktionellen und nachfolgenden strukturellen Gehirnveränderung (vor allem bei frühkindlichen und/oder posttraumatischen Störungen wie Psychose, Autismus, Borderline bzw. Persönlichkeitsstörungen und dissoziativen Störungen). (vergl. D. Fuckert 1999)

Fast jedes Kind erfährt im Laufe seiner embryonalen und frühkindlichen Entwicklung mehr oder weniger gravierende Traumata und panzert sich gegen diese Erfahrungen ab. Der Organismus versucht sich meist selbstregulatorisch, durch Wiedererinnern (Flash-Backs) und durch emotionalen Ausdruck von dem jeweiligen Trauma bzw. einem Teil davon zu befreien. Jedoch verlaufen Panzerungen durch immer wiederkehrende Frustrationen von primären Bedürfnissen oftmals chronisch und dies gestaltet eine Auflösung derselbigen im nachhinein schwierig.

Lt. Reich ist "Gesundheit" demnach kein Zustand, der allein durch das Fehlen von Krankheit definiert ist. Auf dieser ganzheitlichen Grundlage entwickelte er die Vegetotherapie (welche er später psychiatrische Orgontherapie nannte).



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         3.3. Abgrenzung der psychoanalytischen Pädagogik bezüglich der antiautoritären Erziehungsbewegung

      4. Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen S. Freud, der psychoanalytischen Pädagogik und W. Reich
      5. Individuelle und psychotherapeutische Grundlagen des Prinzips der Selbstregulation von W. Reich
         5.1. Das Schichtmodell des modernen Kulturmenschen
         5.2. Was versteht man unter der "Panzerung" des Menschen?

      5.3. Freie Pulsation als Grundfunktion des lebendigen Organismus und der Entstehungsprozess chronischer Panzerung