Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Fortsetzung (* CUNNINGHAM U.A. 2000)



Fortsetzung: Die drohenden Schulschließungen (2)

Die Inspektoren gaben nun der Schule zwei Monate Zeit Erklärungen und Einwände gegen die bemängelten Mißstände vorzubringen. Zu diesen gehörte z.B. der Gebrauch einer ausgeprägten "Umgangssprache" durch die Kinder (colloquial language) und die Möglichkeit, dem Unterricht fern zu bleiben sowie Elemente der Selbstverwaltung und der Umstand, daß körperliche Berührungen zwischen Personal und Schülerinnen und Schülern stattfanden [vgl. PRESTON a.a.O.; BOHNACKER in: Süddeutsche Zeitung 14.02.1994, S.14; FAZ, 15.02.1994]. Die Inspektoren kritisierten überdies, daß in der Schulbibliothek Bücher von Proust und Goethe ständen, welche "were not really for children" [Lebkowska, in: Daily Express 21.02.2000]. Sollten die Schulbehörden von den Einwänden nicht überzeugt werden, hätte die Schule weitere sechs Monate Zeit, Mißstände zu beheben. Wenn dies nicht geschähe, werde die Schließung der Schule erzwungen.

Diese Drohung wurde von der internationalen Presse überraschend ernst genommen und löste ein gewaltiges Medienecho aus: Journalistinnen und Journalisten besuchten die Schule und Zoë READHEAD gab reihenweise Interviews. In Deutschland berichteten viele Zeitungen über die drohende Schließung und stellten in Zusammenhang mit diesen Berichten vielfach erstaunt fest, daß es die Schule überhaupt noch gibt: "Der Mythos lebt. Er lebt fort unter hohen Bäumen, in einem alten, viktorianischen Schulhaus, das wir von Bildern kennen, das uns in einer anderen Zeit vertraut geworden, ans Herz gewachsen ist" [NONNENMACHER in: Frankfurter Rundschau am Wochenende, 02.04.1994, S.ZB1] oder: "Ja, es gibt Summerhill noch" [KRÖNKE in: Süddeutsche Zeitung 21.02.1994, S.3; vgl. auch REGNITZ in: Erziehung und Wissenschaft 46/1994, S.34; sowie: THRON in: Schwäbisches Tagblatt 07.02.1995; S.3]. Längst abgeschlossen geglaubte Diskussionen um die Abhängigkeit der Schule von Neills charismatischem Geist lebten erneut auf [vgl. LUIKEN in die Zeit 04.03.1994] und Leserbriefe wurden veröffentlicht, die eine negative Berichterstattung ankreideten [vgl. Der Spiegel 07.03.1994, S.12 sowie Die Zeit 25.03.1994, S.74 sowie Frankfurter Rundschau 03.03.1994].

Die Presseberichte konzentrierten sich weniger auf die aktuelle Schließungsdiskussion, sondern nahmen sie zum Anlaß, die Schule mit ihrer Geschichte und gegenwärtigen Struktur zu beschreiben [vgl. LUIKEN a.a.O; NONNENMACHER a.a.O., KRÖNKE a.a.O.; Von wegen Anarchie... in: Der Spiegel, 21.02.1994, S.80-82].

Eine grundsätzliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Schulinspektionen, wie Neill sie stets zu führen versucht hatte, kam nicht zustande. Zoë READHEAD stellt zwar fest, daß die Inspektion durch die Schulbehörden einer Bewertung einer Kirche durch Atheisten gleichkäme [Zoë READHEAD zitiert in: Summerhills Atheisten in: FAZ 15.02.1994] [58] und der Kommentator der Times meinte - ein englisches Wortspiel aufgreifend - , daß man ebenso gut einen Dachs damit beauftragen könne, die Lebensbedingungen in einem Goldfischaquarium zu bewerten [PURVES in: The Times 14.02.1994].

Offenbar war es der Schule im Anschluß an die Schließungsdrohung doch gelungen, die Bedenken der Schulbehörden zu zerstreuen - über diesbezügliche Maßnahmen fand keine Medienberichterstattung statt.

1997

1997 berichtete nur eine Zeitung, das Schweizer "Neue Bülacher Tagblatt" in einer Meldung von erneuten Schließungsdrohungen. Der Artikelvorspann soll hier in voller Länge wiedergegeben werden, weil er auf belustigend komische Weise deutlich macht, wie die konservative Presse unter Fürwahrhaltung vielfältiger Vorurteile und bar jeder empirischer Erkenntnis über Summerhill urteilen kann:

A.S. Neills ultra-extreme, pur antipädagogische Selbstverwirklichungsanstalt für die verzogenen Gören linksgepolter Neureicher aus den dreissiger Jahren war jahrzehntelang Vorbild für die Erziehung im marxistischen Menschenideal: keine Familie, viel Selbstverwaltung, Scheindemokratie.

Seine Schule wurde jahrzehntelang gelobt. Seine Schüler waren nirgendwo in der Produktivität brauchbar und wurden Künstler, Sozialschmarotzer oder stürzten vollends ins Nirvana. (Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel).

Genau diese Schule soll jetzt nach dem Willen der englischen Regierung geschlossen werden. Sie erreicht noch nicht einmal minimalste Lernziele. Späte Erkenntnis.

[Summerhill droht Schließung, in: Neues Bülacher Tagblatt 27.10.1997]

Dem nachfolgenden wenig längeren Artikel ist zu entnehmen, daß im Sommer 1997 erneut eine Inspektion stattgefunden hat, die die Schulerfolge der Kinder in Englisch und Mathematik bemängelt habe [59]. Gleiches berichtet ein Artikel aus dem Juli 1998 [STRECH in Tages-Anzeiger (Schweiz), 07.07.1998]. Beide Artikel beziehen sich auf möglicherweise unterschiedliche "kleine Inspektionen", die wenig Auswirkungen auf den Schulbetrieb hatten [60]:

"Alle paar Jahre gerät Summerhill unter Beschuss. Dann nämlich, wenn Her Majesty's Inspectors die Schule kontrollieren. Regelmässig beanstandet die staatliche Aufsichtskommission, der Unterricht spiele sich zu wenig diszipliniert ab; die jüngeren Kinder hätten Bildungslücken etwa in Englisch oder Mathe.

Letztlich missbillligt man natürlich Neills Philosophie. Es folgt jeweils die Drohung, Summerhill müsse schließen. So geschah es auch wieder in diesem Schuljahr.

Zoe [sic!] Readhead zieht dann jeweils die Schraube ein bisschen an. Sie besteht aber darauf, dass die Schulversammlung damit einverstanden sein muss. Unter der neuen Labour-Regierung, so klagt sie, sei der Druck auf Summerhill noch gewachsen. Das hatte sie nicht erwartet."

[STRECH in: Tages-Anzeiger (Schweiz), 07.07.1998]

So wurde z.B. eingeführt, daß eine individuelle Evaluation von Lernfortschritten für diejenigen Schülerinnen und Schüler durchgeführt werden sollte, die dies wünschten. Einen Vergleich innerhalb von Altersklassen oder -gruppen lehnte die Schule ab ["Summerhill vs HMI Inspectors" 1999].

1999

Im Jahr 1999 wurde der Druck der Schulbehörde so groß, daß Zoë READHEAD ihre abgeklärte Haltung ablegen mußte. Die Schule wurde auf Grundlage eines Berichts von acht Ofsted [61]-Inspektoren (1.-5. März) vom "Education Secretary", David Blunkett, ultimativ aufgefordert, Pflichtunterricht einzuführen um die Kinder auf ein altersentsprechendes Bildungslevel zu bringen. Es sei nicht hinzunehmen, daß einzelne Kinder zwei Jahre lang keinen Mathematik-Unterricht besuchten [JAMMERS in: Berliner Zeitung 04.06.1999]. Weitere Kritikpunkte bezogen sich auf die Ausstattung der Räumlichkeiten und den Umstand, daß es keine nach Geschlechtern getrennte Toiletten in Summerhill gebe [CRANSTON in: BBC-news 27.05.1999].

Die Zusammenfassung, die dem Bericht vorangestellt ist (er ist im Internet einsehbar), lautet folgendermaßen:

Summerhill is not providing an adequate education for its pupils. Whether the pupils make sufficient progress and achieve the standards of which they are capable is left to each child's inclination. As a result, those willing to work achieve satisfactory or even good standards, while the rest are allowed to drift and fall behind.

There are some strengths. Standards of speaking and listening are good, as are standards of reading in Key Stage 4. Those pupils who are inclined to learn often enjoy good, well-differentiated teaching and achieve satisfactory or good standards, especially in mathematics. Similarly, the provision of English as an additional language (EAL) is effective for those who choose to attend lessons.

In general, pupils are well-behaved and courteous, if often foul-mouthed. They relate well to the staff and to each other. Because of their democratic participation in most aspects of decision-making in the school, pupils have a practical understanding of citizenship.

Sadly, these comparative strengths cannot compensate for the many and serious weaknesses. In Key Stage 2, pupils make insufficient progress throughout the curriculum because of erratic attendance of lessons. The many pupils who do not regularly attend classes in Key Stages 3 and 4 achieve poor standards of numeracy, reading and writing, and underachieve across the subjects of the curriculum as a whole. Some pupils with special educational needs make insufficient progress for the same reason. Similarly a significant number of overseas students do not benefit from the EAL teaching and so do not acquire sufficient command of English to take full part in the democratic system which the school claims as its distinctive strength.

A root cause of these defects is non-attendance at lessons: for example, some pupils abandon mathematics for up to two years on end. That is compounded by the fact that neither the short-term nor the long-term planning by the teaching staff take account of this erratic pattern of attendance, least of all in Key Stage 2. Consequently, for the great majority of the pupils, their curriculum is fragmented, disjointed, narrow and likely adversely to affect their future options.

This amounts to an abrogation of educational responsibility and a failure of management and leadership. The school has drifted into confusing educational freedom with the negative right not to be taught. As a result, many pupils have been allowed to mistake the pursuit of idleness for the exercise of personal liberty.

In relation to the arrangements for boarding, the school has suitable procedures for child protection in place. Beyond this, there is a catalogue of shortcomings. Pupils who do not attend lessons are unsupervised. There is no resident adult to supervise senior boarders. The security of the site is inadequate. One member of staff has not been checked against List 99, so the school cannot guarantee that all are fit persons to teach children. Boys and girls share common toilets contrary to the Children Act 1989 guidance and despite the recommendation of the Suffolk social service department that this practice should cease. In addition to this, many problems of cleanliness and health and safety were identified and are set out in paragraphs 71-73.

Few real improvements have been made since the last HMI inspection report. The local social services' recommendations have been rejected by the school as against the school's ethos.

Actions to address the key issues from the 1993 inspection report remain either ineffective or unimplemented. Standards of achievement still need to be raised, especially at Key Stage 2. The rate of attendance at lessons remains low in line with the school's philosophy of voluntary attendance. The range of curricular provision remains narrow in terms of what is actually delivered to pupils. Accommodation, including toilet and dormitory arrangements, fail to meet minimum standards.

The school fails to meet the requirements for registration under the Education Act 1996 in the following respects: the instruction is not efficient or suitable; the welfare of boarders is not adequately safeguarded and promoted; the school does not provide suitable accommodation.

[Summerhill School...Reporting inspector Mr N Grenyer HMI 1999]

Die öffentliche Debatte, die dieser Bericht auslöste, war nicht zu erwarten gewesen. Zuerst stellten sich überraschenderweise prominente konservative Politikerinnen und Politiker vor die Schule und vertraten die Auffassung, daß es das freie Recht von Eltern sei, ihre Kinder an eine solche Schule zu senden - dies vor allem angesichts dessen, daß die Examens-Resultate von Summerhill-Schülerinnen und -Schülern über dem Landesdurchschnitt lägen und daß die Angehörigen der Kinder die Schule in hohem Maße unterstützten ["Summerhill finds unlikely ally", in: BBC-news 01.07.1999; vgl. auch "Pupils take protest to Downing Street", in: BBC-news 14.07.1999].

Die Schule reagierte auf die Schließungsdrohung mit einem Bündel von Maßnahmen:

Im Juli fand ein Protestzug aller Schülerinnen und Schüler sowie des Lehrpersonals nach London statt. Am Sitz des Premierministers in Downing Street 10 wurde eine Protest-Petition abgegeben, in der die Schule für den Bestand ihrer pädagogischen Prinzipien plädierte [vgl. "Pupils take protest to Downing Street", in: BBC-news 14.07.1999].

Im Internet wurde unter dem Titel "S.A.V.E. [62] Summerhill" eine Unterstützungskampagne gestartet, die dazu aufrief, sich an die verantwortlichen Stellen zu wenden und sich für den Fortbestand der Schule und ihrer Prinzipien einzusetzen.

Die Schule veröffentlichte eine zwölfseitige Antwort auf die Mängelliste der Inspektoren. In ihr wird einleitend angeführt, daß Sprache und Stil des Reports darauf abzielen, die Schule in der öffentlichen Meinung zu diskreditieren. Zum ersten Mal werde in einem Bericht geschrieben, daß die Schließungsdrohung auch dann nicht zurückgezogen werde, wenn die Schule die Absicht erkläre, bemängelte Mißstände zu beheben, wie dies in früheren Jahren der Fall war. Die Schule habe ihre angekündigten Maßnahmen später stets umgesetzt. Stattdessen wolle man erst dann von einer Schließung absehen, wenn konkrete Änderungen im Schulbetrieb vorgenommen worden seien. Darüber hinaus werden zahlreiche Beispiele angeführt, in denen der Bericht sich selbst widerspricht. So ist an einer Stelle die Rede davon, daß die älteren Schülerinnen und Schüler gute Sprachkenntnisse haben, aber abschließend wird bemängelt, daß die Sprachkenntnisse der jüngeren Kinder schlecht seien. Mit dieser Kritik übersähen die Inspektoren den offenbaren Umstand, daß Kinder in Summerhill ihren eigenen Lernrhythmus entwickelten. Dann verwende der Report unklare Begrifflichkeiten, die unprofessionell und empirisch unhaltbar seien. So sei z.B. davon die Rede, daß "viele" Schülerinnen und Schüler Lernschwächen aufwiesen. Tatsächlich läge für exakt vier Kinder der Nachweis einer solchen Lernschwäche vor. Oder: die "Mehrheit" der Schülerinnen und Schüler folgten einem lückenhaften Lehrplan. Dabei werde in keiner Weise deutlich, welche Gruppe von Kindern damit tatsächlich gemeint sei und welcher Lehrplan nicht lückenhaft sei.

Zentraler Punkt dieser Beschwerden war allerdings, daß in dem Bericht von einem "negativen Recht der Abwesenheit vom Unterricht" die Rede war. Damit werde deutlich, daß der inkonsequent formulierte und auf Sensationen abhebende Bericht ausschließlich das Ziel einer Schließung der Schule verfolge, die das Recht der Wahlfreiheit als positives Recht in ihrer Philosophie verankert habe [vgl. Summerhill Response to 1999 HMI Inspection Report].

Ein wichtiger Kritikpunkt an dem Bericht war ebenfalls, daß er zwei Tage vor seiner Veröffentlichung bereits zu den Medien "durchgeleckt" sei und erst einen Monat später sei die "Notice of Complaint", die Schließungsandrohung, der Schule zugestellt worden. Die Schule machte klar, daß sie gegen einen Schließungsbeschluß alle gerichtlichen Instanzen bis hin zum europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bemühen würde.

Zoë READHEAD veröffentlichte eine Schrift mit dem Titel "Why Summerhill must not close", in der sie die Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Kinder mit dem Wahlrecht von Frauen vergleicht, dessen Einführung vor weniger als hundert Jahren ebenfalls als ausgeschlossen angesehen worden sei. Summerhill sei international dafür anerkannt worden, das Vorurteil, Kinder "verwilderten", wenn sie sich selbst überlassen blieben, bereinigt zu haben. Es komme nicht darauf an, diese Erziehungsphilosophie zu teilen, sondern darauf sie als Alternative zu den althergebrachten Erziehungsmodellen bestehen zu lassen [vgl. READHEAD 1999].

Summerhill war nicht die einzige Schule, die den Prüfkriterien der Schulinspektoren nicht standhalten konnte. Die Presse berichtete davon, daß ausgerechnet in Sheffield, dem Herkunftsbezirk des Education Secretary unter dessen Leitung die Schulinspektoren agieren und in dem er von 1980 bis 1987 für das Schulwesen verantwortlich gewesen war, besonders unterdurchschnittliche Leistungen der Schülerinnen und Schüler festgestellt wurden [BENTHAM in Telegraph 23.01.2000]. 80.000 16 jährige verließen jährlich den Schulbetrieb, ohne Basiswissen in Englisch und Mathematik erlangt zu haben [CLARE, in: Telegraph 09.02.2000].



Fußnoten.

[58] Erneut unterstreicht sie damit den religiösen Charakter, den die "Insider-Beschreibung" der Schule oftmals annimmt.

[59] Diese Inspektion wird durch eine "History of Inspections", die die Schule zusammengefaßt hat, bestätigt. Darin ist die Rede davon, daß Summerhill "For the past ten years [...] has been inspected nearly every year" ["Summerhill vs HMI Inspectors" 1999].

[60] Die Inspektion aus dem Jahr 1998 wird auch an anderer Stelle erwähnt [vgl. Summerhill Response to 1999 HMI Inspection Report, S.1,3].

[61] Ofsted = Office for Standards in Education

[62] Support Alternative Values in Education



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