Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Ffestiniog

Auf die in ihrer Gesamtheit betrachtet erfolgreiche und stimulierende Zeit der 30er Jahre folgte mit Einsetzen des Zweiten Weltkriegs für Neill und Summerhill ein jäher Einschnitt, der sich als eine triste, ja deprimierende Phase in der Geschichte der Schule und in Neills Biographie charakterisieren läßt.

Alexander Neill begab sich auf die Suche nach einem Notquartier und machte Pläne, das Haus zu verkaufen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.49f]. Auch Überlegungen, die Schule in die USA zu verlegen, wurden angestellt. "Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, zu versuchen, sie nach Amerika zu bringen, aber irgend etwas in mir war dagegen; ich nehme an, eine Art Weigerung, vor der Gefahr davonzulaufen" [NEILL in: PLACZEK 1981, S. 73; vgl. auch CROALL 1983a, S.51], schrieb er im August 1940 an Wilhelm Reich aus Ffestiniog, einem kleinen Ort im gebirgigen Nord-Wales, wo er schließlich eine renovierungsbedürftige alte Villa gefunden hatte, die einige Zeit leergestanden hatte [vgl. CROALL 1983b, S.267; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.106; sowie NEILL in: CROALL 1983a, S.10, 239; und NEILL 1972, S.154ff]. Die Heizung war defekt, Fenster und Türen mußten repariert werden und durch das Dach regnete es herein. Nachdem diese notwendigen Reparaturen durchgeführt waren, verurteilten der unablässige Regen und die isolierte Lage die Gemeinschaft zu einem tristen Warten auf das Kriegsende. "Vor Bomben sind wir in Wales zwar sicher, aber das Wetter ist ständig regnerisch und schwächt den Tatendrang, und man ist isoliert von Kultur und Gesellschaft." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.126] "Here we are so out of things, seldom see a film, for it means queueing for the buses, usually in heavy rain. Visitors can't come. One gets tired of the staff; one exhausts one's and their conversation" [NEILL in: CROALL 1983a, S.53], schrieb er an Lilian Morgans, eine schottische Freundin.

Im religiösen Wales brachte der Umstand, daß Neill und die Kinder an einem Sonntag im Garten arbeiteten, ihnen von einem Passanten einen Vortrag über die Entheiligung des Tages des Herrn ein [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.86, 140; vgl. auch NEILL 1945, S.73; sowie NEILL 1972, S.156]. So waren es nicht allein die klimatischen Bedingungen, die Neill das Leben in Wales schwer machten. "Mir geht es gut, aber ich bin nie so recht froh geworden mit meinem Exil in Wales. Das Klima, der Calvinismus, Personalprobleme, das alles macht mir zu schaffen." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.135] In seiner Autobiographie sollte Neill sein Leben in Wales noch pointierter charakterisieren: "Ich war in die Atmosphäre meines schottischen Heimatdorfes zurückgekehrt. Kirchen und Choräle, überall - mit der dazugehörenden Scheinheiligkeit." [NEILL 1972, S.154]

Die Lehrerschaft an der Schule bereitete Neill zunehmend Schwierigkeiten [vgl. CROALL 1983b, S.273ff, 278f], wie Neill Reich gegenüber beklagte: "Vor allem sind die tatkräftigen Leute meist im Krieg, und die Gesellschaften füllen sich mit Pazifisten und Spinnern. Ich habe eigentlich nichts gegen Pazifisten als solche, aber ich habe eine Reihe von ihnen hier als Lehrer (man kann sonst niemanden bekommen) und habe die Nase voll von ihrer Unfähigkeit und Phantasterei und negativen Einstellung zum Leben. Es ist tatsächlich so, daß mich mein Personal mehr mitnimmt als die Schüler; und oft fragen mich Besucher: 'Warum haben sie eigentlich so normale Kinder und so neurotische Lehrer?'" [NEILL in: PLACZEK 1981, S.140]

1944 gründete Neills "Kinderfrau" Lucy Francis - sie hatte stets die jüngsten Kinder in Summerhill betreut - mit der Unterstützung Neills eine Zweigschule Summerhills [vgl. hierzu auch BRIDGELAND 1971, S.256], wie er es Wilhelm Reich stolz zur eigenen Tat verklärt berichtete: "Ich habe näher an London eine Zweigschule eröffnet, die sich bezahlt machen wird, wie ich glaube." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.174] Die Schule bekam den Namen Kingsmuir nach dem Ort, in dem Neill aufgewachsen war [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.190; vgl. auch CROALL 1983b, S.298]. Möglicherweise war es der Umstand, daß viele Eltern ihre Kinder in ländlichen Schulen sicherer wähnten als in den Metropolen, der einen wahren Ansturm auf diese Schulgründungen bewirkte. Neill berichtet in dieser Zeit von Wartelisten von 80 bis 150 Schülern [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.140, 145f], die er nicht aufnehmen könne.

& Hearts not Heads in the School 1945

In Hearts not Heads in the School, das in diesen Jahren entstand, schrieb Neill das letzte Kapitel als Nachruf auf "Mrs. Lins", wie seine 1944 gestorbene Frau stets von den Kindern genannt worden war [vgl. NEILL 1945, S.158]. An dieser einen Stelle wird die Leistung der Frau an Neills Seite gebührend gewürdigt. Es ist fraglich, ob Summerhill und die Erziehungsidee Neills je über längere Zeiträume funktioniert hätten, wenn nicht das organisatorische Talent seiner Frau ein tragendes Grundgerüst hierfür geschaffen hätte. Die aufopfernde Arbeit der Hausmütter, deren Inhalte an keiner Stelle in Neills Schriften näher beschrieben werden, mag zum Funktionieren der Schule und zu ihrer Kontinuität in ebenso hohem Maße beigetragen haben wie die eifrige Öffentlichkeitsarbeit, die Neill für die Schule betrieb.

Neills depressive Stimmung lag vermutlich auch an der mangelnden Öffentlichkeit im abgelegenen Wales. Seine Bücher wurden wegen Papiermangels nicht wieder aufgelegt, und neue konnten aus dem gleichen Grund nicht gedruckt werden. Auch das Schreiben machte ihm plötzlich Schwierigkeiten. Im Dezember 1942 gestand er Wilhelm Reich: "Sorgen macht mir, daß ich unfähig zum Schreiben bin." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.135] Er arbeitete in dieser Zeit an seinem vierzehnten Buch Hearts not Heads in the School, das schließlich erst nach Kriegsende erscheinen sollte [vgl. auch NEILL 1945, S.135]. Eine öffentliche Veranstaltung während des Krieges war eine Ausstellung von Bildern, die die Kinder unter Anleitung ihres Kunstlehrers Robin Bond gemalt hatten [vgl. CROALL 1983b, S.276]. Die Ausstellung fand in der Arcade Gallery in der Londoner Bond Street statt und war ein großer Erfolg [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.174; vgl. auch NEILL in: Apropos, H.2, 1944?, S.5]. Robin Bond, den Neill ein "Genie im Umgang mit den Kindern" [NEILL in: PLACZEK 1981, S.174] nannte, hatte durch seine große Popularität im Kunstunterricht und in der Theaterarbeit eine Position erreicht, die es ihm erlaubte, Neills Verhalten gegenüber den an der Schule beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer zu kritisieren. Er warf ihm vor, die Schule selbstherrlich zu leiten. Gleichzeitig war er es, der eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern um sich scharte, die gegenüber den anderen Kindern eine elitäre Gemeinschaft bildete [vgl. CROALL 1983b, S.277]. Derartige Vorkommnisse hatte es in Summerhill immer gegeben, und auch später mußte sich Neill häufiger mit einzelnen Lehrerinnen und Lehrern beschäftigen, deren Umgangsweise mit den Kindern er nicht billigen konnte. Gleichwohl war die Kritik Robin Bonds nicht völlig aus der Luft gegriffen. "Der alteingesessene Jesus von S'hill mag Rivalen nicht gern" [NEILL in: PLACZEK, S.338], schrieb Neill 1948 selbstironisch an Wilhelm Reich.

Um seine Schreibhemmungen zu überwinden, plante Neill bereits 1943, die Biographie von George Douglas BROWN zu schreiben. BROWN hatte den Roman "The House with the Green Shutters" (Das Haus mit den grünen Fensterläden) verfaßt, einen Roman, der das schottische Landleben des neunzehnten Jahrhunderts schildert. Die Hauptfiguren sind ein tyrannischer Vater und dessen sich allmählich emanzipierender Sohn - eine schottische Ödipus-Geschichte, die ebenfalls in einem Vatermord kumulierte [BROWN 1901, S.294]. Seit das Buch 1901 erschienen war, hatte es sich zu Neills Lieblingslektüre entwickelt. Jedesmal, wenn er sich in Edinburgh aufhielt, ging er in die National Library, um in den Originalmanuskripten zu lesen. Er kannte den Text nahezu auswendig [vgl. NEILL 1972, S.330; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine 05/1964 H.13, S.13]. Neill machte sich auf den Weg nach Ayrshire, dem Herkunftsgebiet BROWNs, um Material zu sammeln. Die Ausbeute war jedoch gering und nach einiger Zeit gab er das Unternehmen wieder auf [vgl. CROALL 1983b, S.295; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.136, 153; sowie NEILL 1953, S.91].

1945 kam schließlich Hearts not Heads in the School heraus. Neill verteidigte in diesem Buch seine Einstellung gegenüber dem Bücherlernen an herkömmlichen Schulen. Kinder und einzelne Lehrerinnen und Lehrer hatten Neill vorgeworfen, sie daran zu hindern, eine effektive Examensvorbereitung zu betreiben. Neill war tatsächlich gegen die intensive Examensvorbereitung gewesen, das self-government hatte ihn jedoch überstimmt (als die Examenskandidaten und -kandidatinnen die Prüfungen zum Teil mit sehr guten Resultaten absolviert hatten, stellte er es so hin, als sei die Idee mit den Examen von ihm gewesen [vgl. CROALL 1983b, S.278f]). Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem vierzehnten Buch Neills war die Situation der Jugend während des zweiten Weltkriegs. Es sei Neills Generation der Älteren, die sich für die Teilnahme an diesem Krieg entschieden habe, aber die Generation, die ihn kämpfte und am meisten unter ihm litt, sei die der Jüngeren [vgl. NEILL 1945, S.121ff].

Wesentlich neue Ideen sind dem Buch nicht zu entnehmen und die Wiederholung der alten fand auf eine ungewohnt nüchterne Art statt [vgl. CROALL 1983b, S.286; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.106].



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