Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Wilhelm Reich

Im Zuge von Neills Vortragsreisen nach Schweden und Norwegen [vgl. NEILL 1936, S.16] machte er die Bekanntschaft mit Wilhelm Reich. Vermutlich im Winter 1935/36 [vgl. CROALL 1983b, S.250; vgl. auch NEILL in: PLACZEK 1981, S.29] hielt Neill sich in Norwegen auf. "Ich hielt eine Vorlesung an der Osloer Universität, und danach sagte der Professor zu mir: 'Heute abend war ein berühmter Mann unter ihren Zuhörern, Wilhelm Reich.' 'Mein Gott', sagte ich, 'Ich habe gerade auf dem Schiff seine Massenpsychologie des Faschismus gelesen.' Ich rief Reich an, und er lud mich zum Essen ein. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht hinein, und ich war fasziniert." [NEILL 1972, S.173 (Hervorhebung im Original)]

Bei diesem Gespräch stellte er eine hohe Übereinstimmung seiner Vorstellungen mit denen Reichs fest. Neill, der zu diesem Zeitpunkt bereits dreiundfünfzig Jahre alt war, entwickelte eine tiefe Sympathie zu dem sechzehn Jahre jüngeren Psychoanalytiker, der in jener Zeit eine Phase der tiefgreifenden Umgestaltung seiner Arbeit erlebte. Er hatte sich als praktizierender Analytiker in Oslo niedergelassen und betrieb die von ihm entwickelte "Vegetotherapie". "Reich sagte mir damals: Der Grund­irrtum der Psychoanalyse besteht darin, daß sie mit der Sprache arbeitet, obwohl der Mensch sein Trauma als kleines Kind erlebt, wenn er noch gar nicht sprechen kann. Ich bin noch heute überzeugt, daß Reich der größte Psychoanalytiker nach Freud ist." [NEILL in: Die Zeit 07.08.1970, S.14] Neill entschied sich dafür, im November 1937 eine Analyse bei Wilhelm Reich in Norwegen aufzunehmen [vgl. CROALL 1983b, S.252; HEMMINGS 1972, S.119]. Neills Vater starb in diesem Monat fünfundachtzigjährig; bereits drei Jahre früher, 1934, war seine Mutter im Alter von neunundsiebzig Jahren gestorben [vgl. CROALL 1983b, S.258; vgl. auch NEILL 1967, S.125]. Die relativ kurz aufeinander folgenden Tode der Eltern mögen wie einst der Tod der Lieblingsschwester Clunie Neills Entschluß befördert haben, sich einer Therapie zu unterziehen. Bis zum Tod der Eltern hatte Neill wöchentlich Briefe mit ihnen ausgetauscht [vgl. NEILL 1953, S.153; vgl. auch NEILL 1972, S.166].

Die Technik der Vegetotherapie entwickelte sich erst in der Zeit, in der Reich und Neill sich kennenlernten. Reich stellte Muskelverspannungen und ihre Verknüpfung mit emotionalen Funktionen fest und therapierte sie anfangs, indem er sie seinen Patienten erklärte, später aber auch, indem er gezielte Massage anwendete [vgl. BOADELLA 1988, S.123]. "Er sagte, ich könnte nur etwas lernen, wenn ich mich seiner vegetativen Therapie unterzöge, was bedeutete, daß ich nackt auf dem Sofa lag, während er meine steifen Muskeln bearbeitete. [...] Es war eine anstrengende und oft auch schmerzhafte Therapie, aber innerhalb weniger Wochen fand ich mehr emotionale Befreiung, als ich je bei Lane, Maurice Nicoll oder Stekel gefunden hatte." [NEILL 1972, S.173]

[& Neill, Neill, Orange Peel (1938/9 - Entstehung der ersten Abschnitte) veröffentlicht: 1972]

Während eines dreimonatigen Aufenthalts zum Jahreswechsel 1937/38 [vgl. PLACZEK 1986, S.33], einer längeren Periode 1938 und schließlich im April 1939 [vgl. CROALL 1983b, S.255] war Neill in Norwegen und ließ sich täglich etwa eine Stunde lang von Reich behandeln [vgl. REICH in: PLACZEK 1981, S.32]. Die Analyse bei Reich regte Neill dazu an, während seiner freien Zeit seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. So entstand bereits Ende der dreißiger Jahre der erste Teil von Neills Autobiographie Neill! Neill! Orange Peel!, die erst 1972 in der auch in Deutschland unter dem Titel Neill, Neill, Birnenstiel verlegten Version in den USA erscheinen sollte [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.138, 144, 148, 157, 169]. Daß Neill sich gerade zu diesem Zeitpunkt wieder intensiv mit seiner Kindheit befaßte, lag sicher auch daran, daß beide Eltern nun nicht mehr am Leben waren [vgl. CROALL 1983b, S.258]. Hatte er bereits vorher in seinen Büchern häufig Beispiele aus seiner eigenen Kindheit herangezogen, um nachzuweisen, wie kindliche Neurosen entstehen, konnte er nun die Kindheit in ihrer Gesamtheit betrachten, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Eltern nehmen zu müssen.

In den langen Pausen zwischen Neills Aufenthalten in Norwegen schrieben Neill und Reich sich zahlreiche Briefe. Auch nach Reichs Emigration in die USA Anfang 1939 behielten beide diesen brieflichen Austausch bei, und aus dem Patient-Therapeut-Verhältnis entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. "Meine Verbindung mit Reich wirkte sich jedoch nicht auf meine Schularbeit aus. Summerhill hatte schon sechsundzwanzig Jahre bestanden, als ich ihn kennenlernte, und das Zusammentreffen änderte an der Schule direkt nichts." [NEILL 1967, S.87; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.105] Lediglich Neills Einstellung zu analytischen Praktiken hatte sich im Laufe der Jahre deutlich geändert. In den dreißiger Jahren beispielsweise analysierte er sogar einzelne Lehrer an seiner Schule, was zu Eifersucht bei den sich vernachlässigt vorkommenden Kindern führte [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.79]. Aber auch die "private lessons" mit den Kindern erlebten unterschiedliche Hochs und Tiefs, bis Neill schließlich konstatierte, daß sowohl die Kinder, die von ihm analysiert worden waren, als auch die Kinder, die lediglich in der Freiheit Summerhills aufgewachsen waren, die Schule frei von Neurosen wieder verließen [vgl. NEILL 1949, S.25; 1953, S.31, 135; 1967, S.75f].

Bereits 1937 korrespondierte Neill mit Paul Geheeb, der einen Englischlehrer suchte und sich an Neill gewandt hatte. Neill antwortete ihm: "You are one of the few educationalists I have wanted to talk with.² [NEILL in: CROALL 1983a, S.9] Seit Neill 1922 mit einem ehemaligen Lehrer von Paul Geheebs Odenwaldschule zusammengearbeitet hatte, war ihm das Schulkonzept Geheebs vertraut. 1934 hatte Geheeb seine Ecole d'Humanité gegründet, die während der folgenden Jahre an unterschiedlichen Orten in der Schweiz praktizierte [vgl. NÄF in: RÖHRS 1986, S.112], bis Geheeb sich 1946 in Goldern niederließ. Hier sollte Ende der fünfziger Jahre Neills Tochter Zoë zur Schule gehen. Im selben Brief ging er auf Geheebs Gedanken der Internationalität ein: "I like your School of Mankind [Gemeint ist Geheebs Ecole d'Humanité] idea, but I doubt if it can be carried out well under Capitalism. Socialism would be the natural environment for it.² [NEILL in: CROALL 1983a, S.9 (Hinzufügung von mir)] Damit wird der Einfluß Wilhelm Reichs auf Neill, aber auch der damalige "Zeitgeist" deutlich: in den frühen dreißiger Jahren entwickelte Neill wie viele andere europäische Intellektuelle eine starkes Interesse für die nachrevolutionären Entwicklungen in der Sowjetunion. Der Sozialismus schien damals ein vielversprechendes Gesellschaftssystem, in dessen Rahmen sich progressive Erziehungsexperimente durchführen ließen. Viele "progressive" Erzieher wie John Dewey [vgl. hierzu auch KAMP 1994, S.401] und Dora Russell [vgl. D.RUSSELL 1975, S.83ff] unternahmen Studienreisen in die Sowjetunion, um die Erziehungsexperimente des Sozialismus zu beschreiben. "Die Wahrheit ist, daß ich an die neue Ordnung glauben wollte; ich wollte glauben, daß die neue Erziehung in Rußland wunderbar sei." [NEILL 1972, S.255 (Hervorhebung im Original)]]

Diese Euphorie nahm ein Ende, als Stalins innenpolitische "Säuberungsaktionen" allmählich an die Weltöffentlichkeit drangen. Neill bewertete die Erziehungsrealität Rußlands in den folgenden Jahren und insbesondere nach Ende des Zweiten Weltkriegs in seinen Veröffentlichungen immer kritischer [vgl. CROALL 1983b, S.237ff]].

& The Last Man Alive 1938

1938 erschien in England The Last Man Alive: A Story for Children from the Age of Seven to Seventy, das in Deutschland in der Übersetzung durch Harry Rowohlt unter dem Namen Die grüne Wolke später ein Bestseller wurde[19] [vgl. hierzu NEILL in: CROALL 1983a, S.162; vgl. auch CROALL 1983b, S.191]]. Neill schreibt dazu selbstkritisch: "Es war das einzige Buch, in das ich Humor und Spaß hineinpacken konnte, außerdem war es eine erfundene Geschichte, während viele der anderen Bücher voller Ansichten waren, von denen sich manche mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung als falsch erwiesen." [NEILL 1972, S.213]] Die Geschichte der grünen Wolke ist die blutrünstige Schilderung einer Welt, deren Menschen - bis auf eine kleine Schar der Summerhill-Kinder mit Neill und dem Millionär Pyecraft (mit dessen Luftschiff sie einen waghalsigen Höhenrekord aufstellen) - durch eine rätselhafte grüne Wolke versteinert worden sind.

Einige weitere Menschen sind ebenfalls davon gekommen: der Deutsche "Fritz" wird auf dem Gipfel der Zugspitze verschont, eine Gangster-Bande aus Chicago legt sich mit den Kindern an und der italienische Franco-Söldner Silvo, Kommandant einer U-Boot-Besatzung, treibt weiter sein antirepublikanisches Unwesen, in das die Kinder von Summerhill verwickelt werden, die mit ihrem Luftschiff die "versteinerte" Welt erkunden.

Naive Zeichnung eines Luftschiffs von Sonja Aranquistain 1938. Illustration in der Originalausgabe von Neills "Last Man Alive".

Pyecrafts Luftschiff in der Originalillustration 1938[20]

Interessant sind die Kommentare der Kinder, die von Neill die Geschichte erzählt bekamen. Sie spielen gleichzeitig wichtige Rollen in der von Neill erzählten Geschichte und kommen zwischen den Erzählkapiteln mit ihren Einwänden und Ansichten als Zuhörerinnen und Zuhörer zu Wort. Dabei wird glaubhaft der Eindruck vermittelt, daß die Kinder der Summerhill-Schule sehr selbstbewußt mit ihrem Schulleiter umgehen und gleichzeitig - wie alle anderen Kinder - das Bedürfnis haben, Geschichten zu hören und ­ dadurch, daß sie eine Rolle in der Geschichte spielen ­ Geltung zu bekommen.

& The Problem Teacher 1939

The Problem Teacher, das dritte Buch der "Problem"-Reihe, kam 1939 heraus. Nachdem Neill sich 1936 mit dem schottischen Schulsystem auseinandergesetzt hatte, behandelte dieses Buch die Lehrerinnen und Lehrer, wie sie Neill in England kennengelernt hatte. Die Einstellungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Erziehungskonferenz, die im Frühsommer 1939 in Summerhill stattgefunden hatte, wird im Anhang des Buches von Neill kommentiert: "A few there were who were genuinely keen on making child psychology the most important study for all teachers, but quite a number gave the impression that school subjects and discipline were all that education means.² [NEILL 1939, S.175] Neill hatte zu dieser Konferenz eingeladen, weil er sich im Rahmen seiner Beschäftigung mit The Problem Teacher Gedanken zur Rolle der Lehrer in der Erziehung gemacht hatte [vgl. CROALL 1983b, S.284ff]. "I was disappointed not to find as many rebels as I had hoped to find. [...] I found myself wanting to cry out: The fundamental is the nature of the child, and all that talk about size of classes and kind of curriculum is not to the point." [NEILL 1939, S.176f] In The Problem Teacher machte Neill klar, daß es ihm weder auf Methoden der Wissensvermittlung noch auf Unterrichtsgegenstände ankam. Er bemängelte den Mangel an Psychologiekenntnissen bei Lehrern und forderte eine völlige Umstrukturierung der Lehrerausbildung, obgleich er einleitend bemerkte, daß er keine Ahnung von der gegenwärtigen Praxis habe [vgl. NEILL 1939, S.115].

Die Zuspitzung der weltpolitischen Ereignisse wurde in Neills Büchern der damaligen Zeit nur am Rande erwähnt. Allerdings vermochte er es, die Erziehungsthematik in einen globalen Zusammenhang zu bringen und erkannte verhängnisvolle politische Entwicklungen bereits früh. Nachdem beispielsweise Chamberlain als Verhandlungsführer der Briten, Italiener und Franzosen die sudetendeutschen Gebiete der damaligen Tschechoslowakei Hitler zugesprochen hatte, spendeten Neill und seine Frau der Tschochoslowakei-Hilfe einen Betrag. Sie machten diese Spende öffentlich indem sie in der lokalen Presse in Anspielung auf das Blutgeld Judas´ inserierten: "Mr. and Mrs. Neill, Thirty Pieces of silver, 30/-." [NEILL 1939, S.108] Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte auch für Summerhill einschneidende Veränderungen mit sich. Eines der ersten Anzeichen hierfür war die mit der Lebensmittelrationierung einhergehende Einführung von Gartenarbeit als Pflicht durch das self-government [vgl. NEILL 1939, S.189; vgl. auch CROALL 1983b, S.265]. An Adolphe Ferrières Sohn Claude, der einige Zeit in Summerhill gearbeitet hatte [A.FERRIÈRE in einem Brief an P.GEHEEB, 14.09.1939; vgl. auch Claude FERRIÈRE * vom 24.01.1994]], schrieb Neill in diesem Herbst: "The Stimmung of the school is better than it has been for years.² [NEILL in: CROALL 1983a, S.50 (Hervorgehobenes im Original deutsch)] Mit Hilfe der Kinder und einzelner Eltern wurden auf dem Gelände Luftschutzräume gebaut, die im Verlauf des Herbstes und im Frühjahr des folgenden Jahres immer häufiger benutzt werden mußten. Schließlich verkündete im Juni 1940 das Militär, daß das Schulgebäude requiriert sei, und Neill schickte die Kinder in die Ferien [vgl. CROALL 1983b, S.265ff].



Fußnoten:

[20] Die Summerhill-Schülerin Sonia ARAQUISTAIN fertigte die Illustrationen zu Neills "Last Man Alive" an.



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