Von den Sorgen, die diese Phase bestimmten und die im Grunde seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kulminiert waren, sollte Neill die Herausgabe eines Buches befreien: Bereits im April 1958 hatte der amerikanische Verleger Harold Hart angefragt, was Neill von der Veröffentlichung eines Bandes hielte, in dem die Grundgedanken aus einigen der letzten Bücher Neills zusammengefaßt würden. Neill stimmte dem Vorhaben zu, und im Dezember konnte er die ersten Manuskripte durchsehen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.140].
Hart war es gelungen, aus einigen von Neills neueren Büchern (The Problem Child, The Problem Parent, That Dreadful School, The Free Child [vgl. CROALL 1983b, S.350; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.145; sowie NEILL 1960, S.0 (10)]) die aussagekräftigsten Stellen zu extrahieren und in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Gleichzeitig hatte er nahezu alle Bezüge zu Wilhelm Reich eliminiert, da Reich in den Vereinigten Staaten nach wie vor höchst unpopulär war. In der amerikanischen Ausgabe erschien der Name Reich gerade an drei Stellen [vgl. NEILL 1960, S.131, 159, 207]. Der Umstand, daß eine Verbindung zwischen Neill und Reich bestand, führte auch dazu, daß die amerikanische Ethnologin Margaret Mead, die gebeten worden war, ein Vorwort zu dem Buch zu schreiben, ablehnte [25]. Neill sei ein Reichianer, und deren Bücher nehme sie nicht in die Hand [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.146, vgl. auch CROALL 1983b, S.352].
Über das Vorwort ergab sich eine längere Debatte zwischen Neill und Hart. Neills Wunschkandidat hierfür wäre sein Freund Henry Miller gewesen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.142f]. Hart meinte jedoch, daß eine kontroverse Persönlichkeit wie Miller die Verkaufszahlen niedrig halten würde. "Warum sollen wir nicht überhaupt mit der dummen Tradition brechen, daß ein Buch einen Sponsor braucht?" schlug Neill daraufhin vor, "Why not break that silly tradition that a book needs a sponsor? Or can't I be my own sponsor? I could easily begin thus: ŒIt gives me misery to write a preface to this bloody book by that damn fool Neill¹." [NEILL in: CROALL 1983a, S.143] Schließlich erklärte sich der Psychoanalytiker Erich Fromm bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Fromm hob in seinem Vorwort hervor, daß Neill keine Theorie begründete, sondern einen Bericht aus vierzig Jahren Praxis gebe [vgl. FROMM in: NEILL 1960, S.XII (14)]. Darüber hinaus machte er deutlich, daß Neills Begriff der Freiheit nicht die Zügellosigkeit meine, die fälschlich in sie hineininterpretiert werden könne [vgl. FROMM in: NEILL 1960, S.XIII (14)]. Fromm übte zugleich Kritik an Neills plumpen Freud-Interpretationen [vgl. FROMM in: NEILL 1960, S.XV (16)], die aus der Zeit stammten, bevor Neill Reich kennengelernt hatte. Ihre Aufnahme in das Buch war auch Anlaß zu kleineren Mißstimmigkeiten zwischen Neill und Hart. Neill hatte Hart bereits frühzeitig aufgefordert: "Cut that bit out cos [sic!] I no longer use that method. A lot is from my Freudian period of child analysis which I wouldn't use now." [NEILL in: CROALL 1983a, S.143; vgl. auch NEILL 1972, S.343] Harold Hart nahm sich jedoch die Freiheit, die Texte auszuwählen, die ihm geeignet erschienen, und der wirtschaftliche und damit publizistische Erfolg des Buches sollte Neills ärger hierüber später bezähmen.
Das Buch erschien im November 1960 in den Vereinigten Staaten unter dem Titel Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing. Harold Hart hatte erhebliche Mittel aufgewendet, um in den USA für das Buch zu werben [vgl. NEILL 1972, S.225]. Trotzdem war kein Buchhändler bereit gewesen, Vorbestellungen entgegen zu nehmen. Innerhalb eines Jahres wurden trotzdem 24.000 Exemplare verkauft, was alle Erwartungen übertraf, und bis 1970 waren es zwei Millionen [vgl. CROALL 1983b, S.353]. In England erschien das Buch erst 1962 und wurde auch dort in hohen Stückzahlen verkauft (bis einschließlich 1969 waren es 200.000 Stück [vgl. HEMMINGS 1972, S.155]). "Das Buch hat uns gerettet", schrieb Neill 1964. "That book saved us. We were down to 23 pupils, and now are full with a long waiting list, mostly Americans." [NEILL in: CROALL 1983a, S.222] Summerhill erlebte einen regelrechten Ansturm amerikanischer [vgl. NEILL 1967, S.31; vgl. auch NEILL 1972, S.224; sowie SEGEFJORD 1968, S..47f] und - nach Erscheinen des Buches in England - auch wieder englischer Kinder. Mit den amerikanischen Kindern hatte Neill häufig Schwierigkeiten, weil die Eltern, bevor sie ihre Kinder zu ihm schickten, diese meist nicht vorher in der Schule vorstellten [vgl. NEILL 1967, S.54; vgl. auch NEILL 1972, S.153; sowie NEILL in: Id-Magazine No.10, Mai/1963 S.3]. So konnte eine Vielzahl von Problemkindern nach Summerhill kommen, die Neill gar nicht angenommen hätte, insbesondere nun, da er nicht mehr darauf angewiesen war. Dies führte auch gelegentlich dazu, daß Neill besonders schwierige Kinder von der Schule verweisen mußte [vgl. CROALL 1983b, S. 365f; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.84f]. In einigen Fällen versuchte er, die betreffenden Kinder in anderen fortschrittlichen Schulen, wie zum Beispiel der Kilquhanity House School John Aitkenheads, unterzubringen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.83f; vgl. auch NEILL in: Id-Magazine No.10, Mai/1963 S.3].
Weitere schwierige Folgen der neu gewonnenen Popularität waren die vielen Anfragen besorgter Eltern [vgl. CROALL 1983b, S.357; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.203ff]. "It is end of term and I am free to tackle the pile of letters on my desk ... appalling lot, mostly American fan mail. Costs me 6d a time to answer ... title for a short story: The Scot who Renounced Fame as being too Expensive." [NEILL in: CROALL 1983a, S.204] Neill war stets bemüht, alle Briefe, die er bekam, zu beantworten - bereits als Kind war er tief enttäuscht gewesen, wenn seine Briefe an bewunderte Autoren unbeantwortet blieben [vgl. NEILL 1972, S.43; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.244].
Bald nach Erscheinen des Erfolgsbuches wurden in den USA Schulen nach dem Vorbild Summerhills gegründet [vgl. CROALL 1983b, S.354f]. Eine "Summerhill-Society USA" wurde 1961 mit dem Ziel ins Leben gerufen, eine solche Schule zu gründen. Harold Hart war einige Zeit der Präsident dieser Organisation, gegen deren Pläne sich Neill von Anfang an wehrte. Ihm war der Gedanke, daß eine von ihm aufgrund der Entfernung schlecht zu kontrollierende Organisation mit seinem "Markenzeichen" operierte, nicht geheuer. Schließlich untersagte er den verantwortlichen Leuten, ihre Schule "Summerhill" zu nennen [vgl. CROALL 1983b, S.359f; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.155; sowie NEILL in: CROALL 1983a, S.214ff; und NEILL in: O'NEILL 1969, S.208f; und HOPKINS in: The Journal of Educational Thought 7(1973), H.3, S.141; und HOPKINS in: Educational Theory 26(1976), H.2, S.200]. "The name Summerhill has for over forty years stood for something untarnished, for an uncompromising belief in freedom for children. I refuse to have the name used by men and women I have never seen, whose notions of freedom are divorced from mine." [NEILL in: CROALL 1983a, S.219]
& SNITZER 1964
1964 hat Herb SNITZER in den USA eine Fotodokumentation über Summerhill vorgelegt, in der - zwischen den Bildern - Texte über die Schule eingeflochten sind. Das Buch ist wie ein Reisebericht aufgemacht - von einem der Londoner Bahnhöfe reist SNITZER 1962 (zwei Jahre nach dem Erscheinen von "Summerhill" in den USA) nach Leiston und trifft in Summerhill auf Neill. Neills Frau Ena, das Personal und - im umfangreichsten Teil des Buches - die Kinder werden gezeigt und in Texten beschrieben oder es werden Texte von ihnen abgedruckt. Herb SNITZER gibt eine Dienstag-Abend-Diskussion sowie ein Samstag-Abend-Meeting in Wort und Bild wieder und ein längerer Dialog mit Neill und einigen Kindern über das Fluchen sowie eine Algebra-Stunde Neills und Diskussionen über eine geplante Theater-Vorführung sind abgedruckt. SNITZER hat diese Gespräche auf Tonband aufgezeichnet und für seine Dokumentation transskribiert. Die Themen des Buches sind also recht vielfältig. Dennoch kann nicht darüber hinweggesehen werden, daß es sich um eine ausschließlich wohlwollende Textauswahl handelt. Kritik an Summerhill und Neill ist nicht enthalten. Die Bilder relativieren die positive Beschreibung nicht. Das vielfach in anderen Quellen aus dieser Zeit beschriebene Chaos und die Unordnung werden nicht gezeigt. Gleichwohl vermitteln die dokumentierten Diskussionen einen Eindruck über die Kommunikationskultur in Summerhill. Ray HEMMINGS weist nach, daß bei den 191 in dem Buch dokumentierten Wortmeldungen nur vier Personen mehr als 6 mal sprechen [HEMMINGS 1972, S.144f].
Herb SNITZER gründete später die Lewis-Wadhams School in New York, die sich am Vorbild Summerhills orientierte. Sie wurde 1976 geschlossen [SNITZER-* aus dem Februar 2001].
|
[25] Von ihr wäre vermutlich auch kein wohlwollendes Vorwort zu erwarten gewesen; in einer Rezension über Neill, Neill, Orangepeel schrieb sie nach dessen Erscheinen: "This aphoristic and anecdotal account of an early progressive school experiment in England comes out of the past, like a ghost of the 1920's." [MEAD in: American Sociological Review 26(1961), S.504]