Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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& The Free Child 1953

1953 erschien The Free Child. Neill hatte während eines Urlaubs mit Ena und Zoë in Norwegen angefangen, daran zu schreiben. Er bekannte gleich in den ersten Zeilen "I have little new to say" [NEILL 1953, S.7] und beschrieb in der Folge das freie Aufwachsen von Zoë, die bei Fertigstellung des Manuskripts im Dezember 1952 sechs Jahre alt war. Neills These bestand in der Behauptung, daß ein selbstreguliert aufwachsendes Kind (den Begriff hatte er von Reich) keine Neurosen entwickeln würde. "Self-regulation is the answer, Reich's answer, to the arresting questions arising out of Freud's discoveries." [NEILL 1953, S.105] Bereits Kleinkinder sollten ihre Bedürfnisse selber regeln und es wäre falsch, wenn die Eltern ihnen ihren Willen aufzwängen. Stattdessen sollten sich die Eltern an den Bedürfnissen ihrer Kinder in bezug auf Nahrung, Schlafenszeiten und sogar Kleidung orientieren (letzteres ließ sich bei Zoë nicht verwirklichen, die selbst in der kalten Jahreszeit am liebsten unbekleidet über das Schulgelände gekrabbelt wäre). Die Analyse Erwachsener und die dabei stattfindende Aufarbeitung kindlicher Neurosen sei bei den nach diesen Grundsätzen aufgezogenen Kindern wie Reichs Sohn Peter und Neills Tochter Zoë später nicht erforderlich. Allenfalls Zoë habe - so fügte er scherzhaft an - später sicher das Bedürfnis, ihren Vaterkomplex zu bearbeiten, der auf Neills Unart, sie in seinen Büchern zu präsentieren, zurückginge [vgl. NEILL 1953, S.105]. Tatsächlich ließ Zoë sich später bei Ola Raknes, einem Schüler Reichs, in Oslo analysieren [Gespräch mit Zoë READHEAD 09.09.1993; vgl. auch CROALL 1983b, S.374; sowie NEILL in: CROALL 1983a, S.199].

1955 fand eine Erziehungskonferenz in Weilburg an der Lahn statt. Es handelte sich um ein internationales Treffen der New Education Fellowship, die das "Sommertreffen des Weltbundes für die Erneuerung der Erziehung", also des deutschsprachigen Zweigs der New Education Fellowship vorbereitete. [24] Neill traf einen wichtigen Vertreter der europäischen Reformpädagogik, Adolphe Ferrière. Sie hatten sich seit der Calais-Konferenz 1921 nicht mehr gesehen [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.556; vgl. auch A.FERRIÈRE in einem Brief an Paul GEHEEB 18.08.1956]. Der Sohn von Adolphe Ferrière, Claude, hatte Ende der dreißiger Jahre in Summerhill gearbeitet und schwärmte später gegenüber Paul Geheeb, mit dem die Ferrières engen Kontakt hielten, von Neills Pädagogik. "Es bewegt mich tief und beglückend, einen so von Grund auf idealistischen Jüngling zu sehen, wie er auf diesem einseitigen Standpunkt in voller Hingabe und mit unerschütterlichen Enthusiasmus die absolute Lösung aller Schwierigkeiten in der unbeschränkt freien Entwicklung jedes Individuums erblickt" [GEHEEB in einem Brief an A.FERRIÈRE 30.11.1939 in: SCHÄFER (Hg.) 1970, S.53], schrieb Geheeb über Claude an dessen Vater. Weitere namhafte Teilnehmerinnen dieser Konferenz waren Elisabeth Rotten, die Leiterin der deutschsprachigen Abteilung der New Education Fellowship, sowie Beatrice Ensor, die aus Südafrika angereist war.

Neill hatte bereits vor der Tagung in Weilburg befürchtet, daß es eine "recht formelle Konferenz" werde, "denn Pädagogen können nicht lachen." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.556] Nach der Tagung schrieb er an Reich: "Die Konferenz in Weilburg war wie erwartet: Fast völlig losgelöst von der Realität. Als ich das Sex-Thema anschnitt, bekam ich fast gar kein Echo. Ich habe ihnen gesagt, daß sie viel zu kopflastig und mystizistisch sind. Soweit ich feststellen konnte, sind die deutschen Pädagogen noch immer dort, wo sie 1921 waren: wollen den Charakter bilden, indem sie selbst ein Beispiel geben. Aber ich habe wenigstens ordentliches Helles getrunken, mein Lieblingsgetränk, und Unmengen meiner geliebten Leberwurst gegessen." [NEILL in: PLACZEK 1981, S.559f] Neill sei während der Tagung allerdings "mürrisch und unzugänglich, kaum ansprechbar" [CARSTENSEN-* 04.10.1994, S.3] gewesen, berichtet ein deutscher Teilnehmer der Tagung. Offenbar bestimmte Neills vorgefaßte Meinung sein Verhalten, und die Reaktion der übrigen Tagungsteilnehmer darauf wiederum bestätigte seine Auffassung.

Wilhelm Reich wurde im Mai 1956, nachdem er einer früheren Gerichtsentscheidung nicht Folge geleistet hatte (er hätte alle seine Bücher und Apparaturen vernichten sollen [vgl. SHARAF in: BOADELLA 1988, S.307ff; vgl. auch SKIDELSKY 1969, S.144; sowie OLLENDORF-REICH 1969, S.194ff]), wegen Mißachtung des Gerichts zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb am 3. November des gleichen Jahres in seiner Zelle an Herzversagen [vgl. Placzek 1981, S.592; vgl. auch BOADELLA 1988, S.301f; sowie CROALL 1983b, S.323; HEMMINGS 1972, S.118]. Neill hatte noch neben Sir Herbert Read, Professor Vivian da Sola Pinta, Paul Ritter und Robert Furneaux Jordan ein Protestschreiben gegen die drohende Verbrennung von Reichs Büchern sowie das Urteil selbst unterzeichnet. Die englischen Zeitungen hatten jedoch die Veröffentlichung des Schreibens abgelehnt [vgl. BOADELLA 1988, S.299]. "Sein Tod berührte mich noch schmerzlicher als Homer Lanes Tod" [NEILL 1972, S.178], schrieb Neill Jahre später in seiner Autobiographie.

Die finanzielle Situation Summerhills rückte schnell andere Sorgen in den Mittelpunkt von Neills Gedanken. Eine erneute finanzielle Krise führte 1957 zur Gründung der "Summerhill Society", einer Elterninitiative, die sich an das bereits bestehende Finanzverwaltungskomitee angliederte [vgl. CROALL 1983b, S.342; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.154; sowie CASE in: New Statesman 10.08.1957]. Es waren gerade noch 45 Kinder, die in Summerhill lebten, und um den Anforderungen des Erziehungsministeriums zu genügen, mußte Neill sieben Lehrer beschäftigen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.33; vgl. auch NEILL in: TES 26.07.1957, S.1053]. Diese unökonomische Situation drohte, den finanziellen Kollaps von Summerhill heraufzubeschwören.

Der amerikanische Schriftsteller Henry Miller hatte Neill im Juli 1958 einen Brief geschrieben, in dem er fragte, ob Neill in den USA eine Schule wisse, die nach den Prinzipien Summerhills arbeitete, so daß er seine dreizehnjährige Tochter dorthin schicken könne. Weiter gab er seiner tiefen Bewunderung über Neills Arbeit Ausdruck und berichtete, daß er etwa fünf Bücher Neills mit Begeisterung gelesen habe [vgl. MILLER in: CROALL 1983a, S.140f]. Es schloß sich ein Briefwechsel an, in dem die beiden Männer sich ihre gegenseitige Hochachtung bestätigten und Sympathien füreinander entdeckten. Im Herbst 1961 trafen sie sich in London [vgl. CROALL 1983b, S.359; vgl. auch NEILL 1972, S.329]. Später spendete Henry Miller Summerhill zweimal in Folge einen Betrag von 500$. Neill dankte Miller, dessen Schreibstil persiflierend: "Now what exactly does a guy say when another guy sends him 500 bucks? There isn't any vocabulary that fits. Thanks." [NEILL in: CROALL 1983a, S.122] Solche Spendengelder hatte Summerhill in jenen Jahren bitter nötig. Als die Schule finanziell an ihrem Tiefpunkt angelangt war, schrieb Neill an den Leiter der Kilquanity House-School, John Aitkenhead: "I am so tired of watching the crooks and gangsters living out their hates, but to make it pay I have to take any damn kid offered me." [NEILL in: CROALL 1983a, S.61]

Die Vielzahl an neuen Problemkindern führte für Neill und Ena zu einem weiteren Problem: Zoë nahm unter dem Einfluß der anderen Kinder neurotische Charakterzüge an, die ihre Eltern durch ihre Erziehung eigentlich ausschließen wollten. An Seishi Shimoda schrieb Neill im März 1959: "We are sending Zoë to a school in Switzerland for a year. It is too difficult for her here; as my daughter." [NEILL in: CROALL 1983a, S.194] Bereits einige Zeit vorher war Zoë im Internatsbereich Summerhills untergebracht worden, damit sie keine zu bevorzugte Rolle im Schulleben einnehmen sollte [vgl. NEILL in: PLACZEK 1981, S.506; vgl. auch NEILL 1972, S.338]. Die Entscheidung, sie nun an Paul Geheebs Ecole d'Humanité in Goldern im Berner Oberland zu schicken, war die Folge der sich immer weiter auftürmenden Probleme, die aus der Sonderrolle Zoës erwuchsen. Die Eltern waren sich nicht recht einig, ob sie Zoë wegschicken sollten. Ena war sehr dafür, während Neill sie gern weiter in Summerhill behalten hätte [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.195f]. Neill kannte Paul Geheebs Erziehungsideen schon seit den zwanziger Jahren, als dieser noch die Odenwaldschule geleitet hatte.

Als Zoë Neill 1959 nach Goldern kam, war Paul Geheeb fast neunzig Jahre alt (er starb zwei Jahre später). Zoë erinnert sich an ihn als einen liebenswerten Greis, seine Frau Edith hingegen "was a bitch" [Gespräch mit Zoë READHEAD 09.09.1993], wie sich Zoë im Gespräch mir gegenüber später ausdrückte. Die Ecole d'Humanité unterschied sich grundlegend von Summerhill, und es ist nicht recht nachvollziehbar, warum Neill seine Tochter ausgerechnet an eine Schule schickte, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Ideale zu vermitteln. Zwar gab es eine Schulgemeinde (über Hermann Harless, einen Lehrer an Geheebs Odenwaldschule, der später neben Neill in Hellerau arbeitete, hatte Neill 1921 den Begriff kennengelernt und in England eingeführt [NEILL in: New Era, 10(1929), S.72]), und die Schule war koedukativ, aber es gab ein festes Regelwerk, an dem die Schulgemeinde nicht rütteln konnte. So war es den Schülerinnen und Schüler unter vierzehn Jahren nicht erlaubt, am gemeinsamen Tanz teilzunehmen, eine Tatsache, die Zoë außerordentlich erboste [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.195]. Weitere Elemente des Schullebens, die die Schule für Zoë als krassen Gegensatz zu Summerhill erscheinen lassen mußten, waren die obligatorische Teilnahme an "Singgemeinden" [vgl. NÄF in: RÖHRS 1986, S.104] sowie die sozialen Aufgaben, die von den Kindern erledigt werden mußten [vgl. NÄF in: RÖHRS 1986, S.105]. Es fanden "Andachten" statt, in denen klassische Texte verlesen wurden [vgl. WAGENSCHEIN in: Bildung und Erziehung 3(1950), S.641]; beispielsweise wurde beim Essen ein Dichtersatz gelesen und schweigend darüber nachgedacht [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.196f]), und das den Unterricht bestimmende Kurssystem machte eine Auswahl von Kursen erforderlich, statt es - wie in Summerhill - den Kindern zu ermöglichen, den Kursen fernzubleiben [vgl. NÄF in: RÖHRS 1986, S.107f].

Ena brachte Zoë im April 1959 in die Schweiz. Sobald ihre Mutter abgereist war, hatte Zoë schreckliches Heimweh und schrieb verzweifelte Briefe an Neill. Der Vater schrieb daraufhin an Edith Geheeb "I blush to think that I once wrote that a child is homesick when it comes from a bad home. Zoë's letters tear my heart and I long for the day she will write that she is happy with you." [NEILL in: CROALL 1983a, S.194] Tatsächlich hatte Neill mehr als einmal über Kinder mit Heimweh geschrieben. "[...] when there is homesick the home is always unhappy." [NEILL 1945, S.38; vgl. auch NEILL 1937, S.29; sowie NEILL 1932, S.190] Auch später sollte Neill dieses Postulat bedenkenlos weiter verwenden [vgl. NEILL 1967, S.71, 153; vgl. auch NEILL in: ADAMS 1971, S.140]. Zoës Briefe nahmen im Laufe dieses ersten Semesters einen ausgeglicheneren Charakter an, wenngleich sie die Schule nach wie vor nicht leiden konnte [vgl. Zoë Readhead in: CROALL 1983b, S.310]. "In den ersten Ferien sagte sie zu mir: ’Daddy, du bist ein Schwindler. Du gibst anderen Kindern Freiheit, nur nicht deiner eigenen Tochter. Ich hasse diese Schule; die Freiheit dort ist eine Scheinfreiheit, und es gibt da auch keine richtige Selbstverwaltung.Œ Ich sah mir die Schule an und holte Zoë nach Hause." [NEILL 1972, S.338]

Der Beginn des zweiten Semesters hatte noch schlimmeres Heimweh gebracht, obwohl Zoë diesmal von einer Freundin aus Summerhill begleitet wurde. Am 16. September kam Neill nach Goldern - eigentlich, um Zoë zu beruhigen. Sie überredete ihn jedoch, sie wieder mit nach Summerhill zu nehmen [vgl. CROALL 1983b, S. 311f; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.195f]. "My wife tells me that Zoë can twist me round her little finger" [NEILL 1953, S.111], hatte Neill bereits in The Free Child geschrieben.

Neills Dankbarkeit den Geheebs gegenüber war nicht groß, als er 1972 in einem Manuskript zur Einleitung einer neunbändigen japanischen Ausgabe seiner Schriften schrieb: "If anyone asked me to name two pioneer schools on the Continent I could not name one." [NEILL in: Manuskript zur Einleitung einer neunbändigen japanischen Ausgabe, S.1; vgl. hierzu auch NEILL 1972, S.338f] Trotzdem ehrte Neill den Pädagogen Geheeb in einem Brief zu dessen neunzigsten Geburtstag: "I consider Paulus Geheeb one of the great pioneers in education." [NEILL in: CASSIRER u.a. 1960, S.12]

Im März 1959 mußte Summerhill, das gerade noch 44 Schülerinnen und Schüler hatte, eine weitere Schulinspektion über sich ergehen lassen. Der Inspektionsbericht war erneut - zu Neills Verwunderung - fair, aber desillusionierend. Die spartanischen Verhältnisse wurden beklagt und der niedrige Bildungsstand der Kinder. Viele Eltern schickten ihre Kinder nun auf weiterführende Schulen, so daß schließlich im Herbst 1960 24 Kinder übrig blieben [vgl. CROALL 1983b, S.343]. Enttäuscht schrieb Neill an John Aitkenhead, den Leiter der Kilquhanity House School: "I began in England in 1924 with five kids, and it looks as if I'll end with five. The causes? Mixed I fancy. Some hesitate cos of my age ... what if I die when the kid has been here only for two years? Some say that. Also, more important, parents write me and say if I make lessons compulsory for the mornings they will send their brats. I can't compromise abt that; it wd wreck the whole basis." [NEILL in: CROALL 1983a, S.64]



Fußnote

[24] Tagungsort war das Weilburger Schloß, und das ortsansässige "pädagogische Institut" war an der Organisation beteiligt.



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