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Biografien
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biografisches
3.1. Kindheit und Jugend *3 Biographische Daten zu A. S. Neill Die folgenden biographischen Aussagen stammen hauptsächlich aus Axel D. Kühns Monographie über Neill (Vgl. Kühn 1995a). Auf alle weiter verwendeten Quellen wird direkt im Text verwiesen. Die Biographie enthält Angaben über Neill persönlich, aber auch über die Geschichte Summerhills. Dies läßt sich nicht vermeiden, da Neill die Idee seiner Schule tatsächlich in die Praxis umgesetzt und gelebt hat und sich somit keine Trennungslinie zwischen seinem beruflichen und privatem Leben ziehen läßt. In diesem Kapitel werden nur die wichtigsten seiner Bücher genannt. Zur Vervollständigung der Angaben befindet sich im Anhang (s. Anhang I) eine Aufführung sämtlicher erschienener Werke. Mit viereinhalb Jahren wurde Neill in Kingsmuir in die von seinem Vater geleitete Schule eingeschult. Zu dieser Zeit war es in Schottland üblich, Kinder mit Schlägen und harten Strafen zu disziplinieren. Da Neill von seinem Vater unterrichtet wurde und nicht als bevorzugt erscheinen sollte und zudem als das unbegabteste Kind der Familie galt, wurde er sehr streng behandelt. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wird dadurch sehr negativ beeinflußt und Neill sprach später davon, sich seinem Vater gegenüber minderwertig gefühlt zu haben (Vgl. Neill 1982, 164). Das Verhältnis zu seinem Vater war zudem schlecht, da sein Vater ihn entweder nicht beachtete, oder ihn auch zu Hause streng behandelte. Neills Mutter, die vor ihrer Hochzeit ebenfalls als Lehrerin tätig war, legte viel Wert auf das Prestige der Familie. Trotz der begrenzten finanziellen Mittel achtete sie stets darauf, daß die Kinder gut gekleidet waren. Neill bezeichnete sie später als einen "Snob" (Neill. Zit. n. Kühn 1995a, 9). Darüber hinaus litt er unter dem schottischen Kalvinismus, der hauptsächlich durch seine Großmutter in die Familie getragen wurde. Eine besonders enge Beziehung hatte Neill zu seiner rebellischen Lieblingsschwester Clunie, die ihm zusätzlich durch ihren geringen Altersabstand am nächsten stand. Bis 1908 nahm er wechselnde Lehrerstellungen an und bestand schließlich sowohl die zweite Hälfte des Lehrerexamens als auch die Aufnahmeprüfung der Universität. Ihm wurde inzwischen bewußt, daß das schottische Schulsystem zu viele Grenzen setzt, so daß er nicht mehr als Lehrer arbeiten wollte. Statt dessen immatrikulierte Neill sich an der Universität Edinburgh für das Studium der Agrarwissenschaften, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Auch dieses Studium brach er frühzeitig ab und begann, Englische Literatur zu studieren. Dieses Studium fesselte ihn und Neill fing an, viel zu lesen und auch selber zu schreiben. In seinem letzten Studienjahr wurde er Herausgeber der studentischen Zeitung "The Student". Außerdem schrieb er Kurzgeschichten, um seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können und fand endlich Zugang zum gesellschaftlichen Leben. Bis kurz vor dem Ende seines Studiums strebte der junge Neill die gleichen Ideale wie seine Eltern an. Er legte Wert auf ein kulturelles und gesellschaftliches Leben und besaß eine konservative Einstellung. Erst dann wandte er sich gegen die Religion, das Bürgertum und seine Traditionen und interessierte sich für den trat Sozialismus (s. Kapitel 4.6.). Am 5. Juli 1912 beendete Neill sein Studium zum 'Master of Arts' und arbeitete anschließend als Redakteur für verschiedene Verlage, weswegen er mit 29 Jahren nach London umzog. Dort wurde er außerdem Mitglied der "Labour Party". 1913 wandte er sich wegen seiner Kriegsuntauglichkeit erneut dem Schuldienst zu und wurde am 15. Oktober 1914 Schulleiter der Gretna Public School in Schottland. Hierüber sagte Neill, daß ihm "...zum ersten Mal bewußt [wurde], was Erziehung bedeutet" (Neill. Zit. n. Kühn 1995a, 29). Er bemerkte frühzeitig den Wunsch, gegen den Lernzwang und das strafende System anzugehen und statt dessen mehr Wert auf Spiel und Freude zu legen. Neill träumte von seiner eigenen Schule und entwickelt einige seiner pädagogischen Grundsätze. So konnten seine Schüler den Unterricht verlassen, wenn sie es für es richtig hielten, was bei den Eltern allerdings auf Unverständnis stieß. Darüberhinaus schrieb er mit Hilfe des zu führenden Schultagebuchs sein erstes Buch "A Dominie`s Log", durch dessen Veröffentlichung er Kontakt zu ähnlich denkenden Pädagogen bekam. Während dieser Zeit erfuhr Neill von der Jaques-Dalcroze-Schule in Hellerau bei Dresden und besuchte außerdem die King Alfred School in Hampstead. Zusätzlich hielt Neill Vorträge über Erziehung und führte eine Abendschule für über Vierzehnjährige, in der er seine vorübergehend Verlobte Jessie Irving kennenlernte. 1916 meldete sich Neill nun doch zum Militär und schrieb während dieser Zeit sein zweites Buch "A Dominie Dismissed", das 1917 erschien. Neill wurde jedoch aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes frühzeitig ehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen und widmete sich erneut dem Schuldienst. Außerdem beobachtete Neill, wie Lane in seinem Little Commonwealth die psychoanalytische Pädagogik in die Praxis umsetzte. Er lernte während seines Besuches die Selbstverwaltung (s. Kapitel 5.1.) und 'Paradoxe Sanktionen' kennen und überredete Lane, ihn nach seinem Militärdienst dort arbeiten zu lassen. Er war überzeugt davon, daß Lane "die bei weitem eindrucksvollste Persönlichkeit" war, die er kannte (Neill. Zit. n. Kamp 1995, 317). Seine Begeisterung ging so weit, daß er über seinen späteren Freund einen Vortrag hielt, durch den dieser sich jedoch mißverstanden fühlte und beide sich vorübergehend trennten. Zunächst bemühte sich Neill im Dezember 1918 um eine Anstellung an John Russells King Alfred School, da das Little Commonwealth aufgrund eines Skandals geschlossen wurde. Diese befindet sich auch heute noch in London, in Lanes neuer Wohnstadt. Neill und Lane hielten weiterhin privaten Kontakt, durch den Neill über Freuds Psychoanalyse unterrichtet wurde. Darüber hinaus schickte Lane seine beiden Kinder in Neills Klasse. Die King Alfred School galt als sehr fortschrittlich und modern, da es dort keine Körperstrafen und keine Zensuren, dafür aber eine freiere Disziplin und bereits früh die Koedukation gibt. Neill führte dort zusätzlich in seiner Klasse die Selbstverwaltung ein, durch die die Kinder über die Schulgesetze abstimmen konnten. Er mußte jedoch bald feststellen, daß die anderen Lehrer keine wirkliche Gleichheit mit den Schülern anstrebten, daß trotz praktizierter Koedukation die Sexualität der Kinder unterdrückt wurde und daß der Schulleiter John Russell sehr durch Moral geprägt war. Neills Selbstverwaltung wurde nur von ihm unterstützt und scheiterte durch die mangelnde Konsequenz in der Durchführung. Während seiner Tätigkeit an der King Alfred School lernte Neill die gleichgesinnte und sehr engagierte Lilian Neustätter kennen, deren Sohn Neills Klasse besuchte. Beide gestalteten einen Schulentwurf, den sie aus Geldmangel jedoch zunächst nicht umsetzen konnten. Durch die zunehmenden Unstimmigkeiten mit der Schulleitung und den Kollegen verließ Neill die King Alfred School nach fünf Trimestern wieder, entschlossen, seine eigene wirklich freie Schule zu gründen. Neills radikale Haltung entfachte viele Diskussionen und Streitereien mit anderen Reformpädagogen, die sich z. B. für mehr Freiheit der Kinder einsetzten, im Gegensatz zu Neill jedoch eine anerzogene, von der herrschenden Moral geleiteten Freiheit. Die Auffassungsunterschiede verstärkten sich im Laufe der Zeit so sehr, daß Neills Tätigkeit bei der "New Era" dort zwei Jahre später beendet wurde und er seine eigene Schulidee in die Realität umsetzen wollte. Noch während seiner Mitherausgeberschaft reiste Neill im August 1921 nach Dresden. Offizieller Grund für die Reise war es, einen Artikel über die frühere Jaques-Dalcroze-Schule zu schreiben. Für Neill persönlich war jedoch eine Einladung von Lilian Neustätter viel interessanter, da diese eine Möglichkeit zur Gründung von Neills eigener Schule sah. In Hellerau bei Dresden bekam Neill das Angebot, als Erweiterung der Rhythmik-Abteilung und der "Neuen deutschen Schule" eine internationale Schule zu gründen. Dieses Angebot bezeichnete Neill im nachhinein als Datum seiner Schulgründung, auch wenn die Schule erst 1922 tatsächlich gegründet wurde (Vgl. Kamp 1995, 355). Hier konnte Neill seine persönlichen Vorstellungen einer Schule umsetzen: Er führte erneut die Selbstverwaltung ein, hob das Klassensystem auf, ließ die Schüler entscheiden, ob sie am Unterricht teilnehmen wollten, wendete paradoxe Sanktionen an und gab "private lessons" (s. Kapitel 3.3. und 4.5.). Die Organisation übernahm Lillian Neustätter und ihr Mann Dr. Otto Neustätter die Geschäftsführung der Schule. Neill schrieb währenddessen ein weiteres Buch seiner Dominie-Serie mit dem Titel "A Dominie Abroad" und stellte fest, daß er statt am Unterrichten jetzt verstärkt an der Psychoanalyse interessiert war. Es kam schon bald aufgrund unterschiedlicher Meinungen zu Schwierigkeiten mit dem Personal der Neuen Deutschen Schule. Neill schrieb 1924 in "A Dominie`s Five" über die Situation folgendes: 1924 wurde Neills Schule von der österreichischen Schulverwaltung geschlossen, da Neills Vorstellungen nicht mit dem stark religiösen Umfeld übereinstimmten. Die Schule mußte erneut umziehen, dieses Mal mit fünf Schülern auf den "Summer-Hill" in Lyme Regis in England, dessen Namen die Schule auch heute noch trägt. 1926 erschien das Buch "The Problem Child", worin sich Neill, der sich inzwischen als Kinderpsychologe verstand, das erste Mal ernsthaft und wissenschaftlich mit dem Kind auseinandersetzte. Die Folgen waren, daß Summerhill einerseits vorerst keine finanziellen Nöte mehr hatte und Neill zahlreiche Vorträge in England hielt, andererseits von nun an speziell von Problemkindern besucht wurde, für die Summerhill die letzte Möglichkeit zur Besserung darstellte. 1927 heirateten Neill und die inzwischen von Dr. Otto Neustätter geschiedene Lilian Neustätter "der Schule wegen" und um ihr die englische Staatsbürgerschaft zu ermöglichen (Vgl. Neill 1982, 271). 1927 endete das Mietverhältnis in Lyme Regis und Neill zog mit seiner Schule nach Leiston in Suffolk, England, an den Ort, an dem sie auch heute noch existiert. Die Schule wurde zu dem Zeitpunkt von 31 Schülern besucht und die Zahlen sollten von nun an steigen. In den 30er Jahren begann Neill auch im Ausland Vorträge zu halten und dachte sogar darüber nach, eine Zweigstelle Summerhills in Südafrika zu gründen. Diese Idee wurde aufgrund der dort herrschenden religiösen Umstände jedoch nicht realisiert. Weitere Gründe für diese Therapie waren seine angegriffene Gesundheit und starke emotionale Schwierigkeiten. So war er einerseits kaum in der Lage, Zuneigung auszudrücken und andererseits aber auch nicht fähig zu hassen. Durch Reichs Therapie lernte er, besser mit seinen Gefühlen umzugehen und setzte sich mit seiner Kindheit auseinander. Dieses hielt er als ersten Teil seiner Autobiographie "Neill! Neill! Orange Peel!" (1972) fest. Hinzukamen Neills Probleme hinsichtlich seiner nicht ausgelebten Sexualität durch die platonische Ehe mit Lilian Neustätter und seiner um der Schule Willen nicht heimlichen Affaire (s. Kapitel 4.4.). Im Sommer 1939 emigrierte Reich in die USA. Die Freundschaft wurde durch Briefe und Besuche trotz gelegentlicher Differenzen und Reichs im Alter zunehmendem Wahnsinn aufrechterhalten. Neill galt in einigen Lehrerkreisen inzwischen als "Prophet eines Neuen Zeitalters" und auch die staatlichen Schulen nehmen zumindest in der Theorie progressive Elemente wahr (Vgl. Kamp 1995, 417). Am 30. April 1944 starb Neills Frau nachdem sie durch einen Schlaganfall stark verwirrt war und in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden mußte. Bereits 1945 heiratete Neill im Alter von 62 Jahren die wesentlich jüngere Küchengehilfin Ena Wood, die zuvor Neills erste Frau gepflegt hatte. Dieses Mal handelte es sich nicht ausschließlich um eine Vernunftsehe, sondern durchaus um ein Liebesverhältnis zwischen den Eheleuten. Kurze Zeit darauf konnte die Schule zurück nach Leiston in das inzwischen sich in einem sehr schlechtem Zustand befindliche Schulgebäude zurückkehren. Am 2. November 1946 wurde Neills erstes und einziges Kind Zoë geboren (Vgl. Neill, Ena 1991, 18), deren Entwicklung während ihrer ersten sechs Lebensjahre in "The Free Child" festgehalten wurde. Ein halbes Jahr später begab sich Neill erneut auf eine lange Vortragsreise, um so Schüler werben zu können und die erneut desolate finanzielle Situation Summerhills zu entschärfen. Im Juni 1949 fand die erste Schulinspektion statt. Entgegen Neills Erwartung schnitt die Schule erstaunlich positiv ab. 1959 fand eine weitere Schulinspektion statt, deren Ergebnis "fair, aber desillusionierend" war und die Schülerzahlen sanken (Kühn 1995a, 105). Dieses änderte sich schlagartig als Ende 1960 das Buch "Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing" in den USA erschien. Durch den Erfolg dieses Buches kamen viele amerikanische Kinder nach Summerhill, teilweise auch besonders schwierige Fälle, die die Schule wieder verlassen mußten ( s. Kapitel 5.4.2.3.). Am 10. Mai 1966 wurde Neill der Ehrendoktortitel der Universität Newcastle verliehen. Während dieser Zeit schrieb Neill "Talking of Summerhill", das 1967 erschien. Zuvor wurde "Freedom - not Licence" von seinem Verleger Harold Hart veröffentlicht, das aus einer Auswahl verschiedener Manuskripte bestand und somit nicht Neills Vorstellungen entsprach, jedoch eine dringend nötige finanzielle Sicherheit brachte. Mit zunehmendem Alter schrieb Neill besonders viel, hauptsächlich jedoch Artikel für Zeitschriften und arbeitete weiter an seiner Autobiographie. 1968 erschien zusätzlich Bernsteins Studie über ehemalige Summerhill-Schüler, die sich im großen und ganzen positiv für Summerhill auswirkte (s. Kapitel 9.3.). Am 5. Juli 1968 bekam Neill einen weiteren Ehrendoktortitel verliehen, dieses Mal von der Universität Exeter. Dieser Titel bewahrte Summerhill vermutlich vor der erneut bevorstehenden Schließung, da eine weitere Inspektion im Juni 1968 sehr negativ ausfiel. Im selben Jahr stellte ihn seine ehemalige Universität in Edinburgh als Kandidaten für die Rektorwahl auf. Aufgrund seiner Tätigkeit als Schulleiter war Neill jedoch nicht an diesem Amt interessiert und gewann die Wahl auch nicht. 1969 erschien in Deutschland das ebenfalls von Harold Hart herausgegebene Buch "Summerhill. Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung", das im Zuge der Studentenbewegung ein Verkaufserfolg wurde und Summerhill vor dem finanziellen Ruin bewahrte. 1971 feierte Summerhill sein 50-jähriges Bestehen. Zu dieser Zeit wird die Schule zum größten Teil von Neills Frau Ena geleitet (s. Kapitel 6.2.), da Neill selbst das Interesse am Schulalltag verlor und einen Schlaganfall erlitt. 1972 erschien endlich seine Autobiographie "Neill! Neill! Orange Peel" in den USA und ein Jahr später in England. Zu dieser Zeit ging es Neill gesundheitlich immer schlechter. Er starb am 23. September im Krankenhaus des Nachbarortes Aldeburgh. In seinem Leben galten die Beziehungen zu Homer Lane und Wilhelm Reich als besonders prägend und folgenreich. Er übernahm die typischen Besonderheiten des 1921 gegründeten Summerhills hauptsächlich von Homer Lane. Die Freundschaft zu Wilhelm Reich in den dreißiger Jahren veränderte viele seiner Annahmen, welches von der Öffentlichkeit bis heute häufig nicht berücksichtigt wird. Neill hat es geschafft, seine Theorien in die Praxis umzusetzen und zu leben. |