Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
            9.2.4.4. Freier emotionaler Ausdruck, Vertrauen ...

            9.2.4.5. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.6. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.7. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.8. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen

         9.3. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen



9.2.4.5. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen

Damit ein Kind lernt selbstbestimmend zu handeln, braucht es die Auseinandersetzung mit Konflikten, mit inneren und äußeren Grenzen.

Jedoch lassen sich gewisse Realitäten, die zur Einschränkung der kindlichen Bedürfnisse führen nicht vermeiden. Eltern müssen pünktlich bei ihrer Arbeit sein oder die persönlichen Interessen der Eltern sind gerade vordergründig (Arztbesuche, das Bedürfnis kurz entspannen, anstatt spielen zu wollen ect.). In diesen Fällen muss das Kind dies als Gegebenheiten hinnehmen, es hat aber diesbezüglich eine Erklärung der persönlichen Abwägungen verdient, auch wenn es die nicht akzeptiert und ein Geschrei anfängt. Eltern sollten in solchen Situationen fest sein - und zwar fest mit den eigenen Bedürfnissen und im eigenen Tun und nicht, wie oft fehlgedeutet, um das Kind zu einem Verhalten/einer Einsicht bringen zu wollen. Eltern sollten Machtkämpfe vermeiden, und statt dessen in angemessener Weise den Kindern vermitteln, dass die persönlichen Grenzen der Eltern ebenso ihre Berechtigung haben und akzeptiert sein wollen. In solchen Situationen kann es z.B. hilfreich sein, wenn Eltern mit "absichtlichem" Ignorieren auf die Konfliktsituation reagieren. Auch könnten sich Eltern kurzfristig von der emotional angespannten Situation distanzieren, und versuchen einen Zuschauer- bzw. den Blickwinkel der Kinder einzunehmen, um sich dadurch zu vergegenwärtigen, dass sie und ihr Kind zwei getrennte Personen sind, welche sich gleichberechtigt mit ihrer Bedürfnislage gegenüber stehen (Bewusstheit). Eltern müssen sich nicht schlecht fühlen, wenn ihre Kinder wütend und ärgerlich sind, sie dürfen jedoch auch nicht den Kindern das Gefühl vermitteln etwas unrechtes, böses zu tun, wenn sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen bzw. ihre Bedürfnisse einfordern.

Auch die zweite Einschränkung des Prinzips der Selbstregulation mag selbstverständlich klingen und besitzt ebenso eine besondere Bedeutung im Kleinkindalter: Der Schutz vor Gefahrensituationen. Nun, dieses "natürliche" Empfinden unsere Kinder vor gefährlichen Dingen und Situationen schützen zu wollen, ist fester Bestandteil unseres "Mutterinstinktes" Und natürlich müssen wir unser Kind beschützen und eingreifen, wenn das Kind durch eine unüberschaubare und für es nicht abschätzbare Gefahren bedroht wird (z.B. Straßenverkehr, ätzende Reinigungsmittel, giftige Substanzen).

Eltern sollten sich diesbezüglich hinterfragen, welche Motivation und Befürchtung hinter einen "Schutzverbot" steckt. Oftmals schieben Eltern auch eine Scheinbegründung vor, um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen (z.B. ein Vater hat keine Lust mit seinen Kindern ins Hallenbad zu gehen und begründet diese Entscheidung damit, dass die Kinder das letzte mal nach dem Hallenbadbesuch gehustet hätten. Ehrlicher wäre, wenn er sagen würde: Heute habe ich einfach keine Lust. Dann hätten die Kinder jedoch auch die Möglichkeit eigene Lösungsmodelle zu finden wie z.B.: Du musst ja nicht baden, du kannst einfach nur am Beckenrand sitzen und aufpassen, dass wir nicht ertrinken...) Grundsätzlich ist es beziehungsförderlicher in Form von Ich-Sprache und Ich-Botschaften ehrlich gegenüber sich selbst und mit seinen Kindern umzugehen.

Es ist für Eltern zumeist ein Balanceakt situativ entscheiden zu müssen wie weit sie den Rahmen feststecken müssen, so dass sich das Kind weder verloren und vernachlässigt fühlt, sich aber trotzdem frei bewegen kann. Wir müssen sie vor nicht abschätzbaren Gefahren beschützen und dürfen sie gleichzeitig nicht ihrem Handlungsspielraum, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit berauben. Ein Beispiel hierzu: Kinder müssen in unserer Zeit nicht vor Massenmedien geschützt werden, sie müssen vielmehr einen sinnvollen und kritischen Umgang damit erlernen. Einer altersentsprechende(!) Beschäftigung mit Computer und Fernsehen steht also absolut nichts entgegen. Eltern sollten jedoch emotional so dicht bei ihrem Kind sein, dass sie den Übergang erkennen können, wenn Kinder oder Jugendliche diese Medien z.B. als Flucht vor der Realität oder zur Kompensation ihrer Aggressionen oder anderer Gefühle missbrauchen. Gesetzten Falles müssen Eltern dann eingreifen und ihre Kinder/Jugendliche schützen. Sie müssen ihnen die emotionale Sicherheit und Hilfestellung zu geben, dass die Kinder die Alternative haben, sich am Leben zu orientieren und ihren Gefühlen, sowie der Realität, auf eine lebensbejahende, konstruktive Art und Weise begegnen zu können.

Kinder sollten aber grundsätzlich auch Gefahren, Hindernisse und Herausforderungen begegnen dürfen und selber entscheiden, welchen es sich stellen und welchen es aus dem Weg gehen möchte. Wenn Kinder von klein auf die Möglichkeit hatten ihren Bewegungsbedürfnis nachzukommen und sich auszuprobieren (ohne die permanenten "gut gemeinten" Ratschläge von Eltern wie z.B. "Mach‘ das doch so..."; "Sei aber vorsichtig...", "Pass‘ doch auf...", "Mach‘ doch langsamer/schneller..." ect.) , bekommen sie durch diese Erfahrungswerte eine gesunde Selbsteinschätzung bezüglich ihren eigenen Grenzen und Vertrauen in seine Fähigkeiten. Dieses Übungsfeld sollte man ihnen zugestehen und ihre individuellen Grenzen respektieren. Man kann gewissen Gefahrenquellen jedoch durch Enttabuisierung und durch das frühe Erlernen des Umgangs mit diesen Dingen gut entgegenwirken. Bereits Kleinkinder können z.B. Selbstsicherheit beim Klettern erwerben, den Umgang mit (abgestumpften) Messern erlernen, oder durch die Mithilfe bei einem Lagerfeuer das Gefahrenpotential kennen- und einschätzen lernen, um dann dementsprechend vorsichtig damit zu agieren. Wenn Kindern die Freiheit und die Gelegenheit eingeschränkt wird, überschaubare Risiken einzugehen, werden sie gezwungen, ihren Nervenkitzel woanders zu suchen.

Verantwortung und Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder zu setzen bedeutet für die Eltern auch den Mut zu besitzen den Kindern ein Stück Verantwortung an sie abzugeben. Das Recht, selbst Entscheidungen treffen zu dürfen und eigenverantwortlich zu handeln, hängen eng zusammen. Wer nicht eigene Maßstäbe bzw. Grenzen setzen darf oder in Entscheidungsprozesse miteinbezogen wird, lehnt im allgemeinen auch sonst Verantwortung ab bzw. läßt lieber andere für sich entscheiden.

Jedes Elternteil, das sowohl einmal sein Kind aus einer realen Gefahrensituation retten musste, als auch den freudigen Stolz seiner Kinder nachempfinden konnte, wenn diese das erste Mal eine persönliche Hürde nahm (z.B. das erste Mal alleine die Leiter hochklettert), wird zukünftig sehr bewusst abwägen, wo seine persönlichen Grenzen diesbezüglich liegen und welches Verhalten angemessen ist (sofern diese intuitive Gewissheit der pädagogischen Handhabung nicht als Folge der Entfremdung und emotionalen Verpanzerung verschüttet ist).

Jedoch nur wenn wir an das Kind glauben und an seine Fähigkeiten, können wir ihm Achtung erweisen (nicht im Sinne eines Leistungsprinzips). Dieses Ernst- nehmen beinhaltet auch, dass wir uns als Eltern ein Stück zurück nehmen und lernen müssen unsere Kinder in deren individuellen Tempo los-zu-lassen. Dies bedeutet Kindern zu erlauben, Risiken einzugehen, sich aus unserer Einflußsphäre, unserer Schutzzone zu entfernen, so dass sie ihre Unabhängigkeit stückweise erproben können (wobei man auch in diesem Punkt keine allgemeingültige und altersspezifische Grenze ziehen kann, da jedes Kind individuell seine eigenen Grenzen für sich persönlich festlegt und demnach auch individuellen Schutz benötigt).

Dies soll jedoch nicht heißen, dass sich Eltern aus der Erziehung zurückziehen können in der Annahme, Kinder würden sich schon allein zurechtfinden, damit ziehen sich Eltern aus der Beziehung zurück. Kinder fühlen sich ohne Bindung allein gelassen, sie benötigen nichts dringlicher als emotionale Sicherheit und vertrauensvolle Bindungen.. Eine zu frühe forcierte Distanzierung zwischen Eltern und Kind ist deshalb genauso abzulehnen, wie das wachsende Autonomiebedürfnis ihrer Kinder nicht zu sehen (wollen) und es dementsprechend zu "beglucken" (eine übertrieben aufopferungsvolle Mutter braucht ihr Kind als Lebensinhalt und wird dementsprechend dadurch bedroht, dass das Kind heranwächst und selbstständiger wird).

9.2.4.6. Konfliktfähigkeit als Grundstock eines demokratischen Zusammenlebens

Auseinandersetzungen gehören zu jeder gleichwertigen, lebendigen Beziehung und zum demokratischen Zusammenleben (das Wort "demokratisch" wird in diesem Kontext nicht als politischer, einer Staatsform zugeordneter Begriff angewendet, sondern als Lebensweise). Für Kinder sollte, durch das Vorbild des Erwachsenen erfahrbar gemacht werden, dass Konflikte und die Achtung des Anderstdenkenden zusammengehören. Dabei ist es wichtig, dass zwischen Erwachsenen und Kinder kein Machtgefälle herrscht und Auseinandersetzungen auf einer themenzentrierten und sachlichen Ebene ausgetragen werden. Natürlich haben Eltern Erfahrungsvorsprünge, aber dies als Machtinstrument einzusetzen zeugt von emotionaler Unreife.

Eine objektive absolute Wahrheit bzw. Wirklichkeit gibt es nicht, es gibt nur die jeweilige Sichtweise (konstruierte Wirklichkeit) der jeweiligen Person. Aus diesem Grund sollten sich Erwachsene, anstatt als Wissende (und damit auch als Bewertende) ebenso auch als Lernende begreifen und Konflikte als einen gemeinsamen Lernprozess verstehen.

Das Grundprinzip des gegenseitigen Geben und Nehmen, sowie die daraus resultierenden Grenzen, werden in einer lebendigen dynamischen Beziehung immer wieder aufs neue definiert und abgesteckt. Die daraus resultierenden Konfrontationen sind in einem aktiven und demokratischen Zusammenleben sinnvoll und unausweichlich. Konfliktfähigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden Entwicklung. Wichtig ist jedoch, dass diese Konflikte nicht in dominierender und demütigender Form ausgetragen werden, sie sollten weder emotional verletzend, noch sollte die Persönlichkeit des Kindes angreifen werden mit Äußerungen wie z.B. "Du bist einfach blöd". Die Dialoge sollten themenbezogen und alters- und persönlichkeitsentsprechend angemessen geführt werden. Dabei ist es wichtig, dass das Problem einer angemessenen Anerkennung, Akzeptanz und Wertschätzung bedarf. Es ist auch relevant die Welt aus der Perspektive der Kinder heraus, und somit aus zwei Blickwinkel gleichzeitig zu sehen. Persönlichen Grenzen sollten von Eltern und (älteren) Kindern soweit als möglich klar formuliert werden.

Auch Regeln sind wichtig und notwendig, solange sie zur Orientierung und den individuellen Bedürfnissen dienen, sie dürfen jedoch nicht starr sein, sondern sollten sich den Umständen entsprechend anpassen lassen. Wenn z.B. ein Kind, ein Jugendlicher oder eines der Elternteile gerade mit einem bestimmten Projekt sehr beschäftigt ist, sollte dies als Grund respektiert werden, um beispielsweise nicht an einem wöchentlichen Familienausflug teilnehmen zu müssen. Ein starres dogmatisches einhalten von Regeln, läßt die individuellen Bedürfnisse der Familienmitglieder oft nicht zur Geltung kommen. Nur weil eine Regel gelegentlich nicht eingehalten wird oder nur für einen kurzen Zeitraum seine Gültigkeit besitzt, heißt es nicht, daß diese Regel belanglos ist, wenn sie deutlich auf die Besonderheit der Umstände hinweist.

Am Aufstellen und Mitbestimmen von Regeln sollten alle Familienmitglieder gleichberechtigt beteiligt sein, der Grund bzw. die Ursache einer bestimmten Regel sollte für alle transparent und nachvollziehbar sein. Da jedoch Regelungen auch immer einschränken, ist es sinnvoll damit sparsam umzugehen. Um jedoch auch die Verbindlichkeit von Übereinkünften zu verdeutlichen, sollten Familienmitglieder deren Überschreitung möglichst unmittelbar und direkt ansprechen, damit die Situation geklärt werden kann. Je nach Kind braucht es auch unterschiedliche Regeln; klare Regelungen können z.B. auch durch deren Verbindlichkeit besonderst jüngeren Kindern eine gewisse Sicherheit geben.

Wenn wir unsere Kinder nicht in Watte hüllen wollen, müssen sie lernen mit Konflikten zu begegnen und damit umzugehen. Auch wenn wir uns größte Mühe geben, die Tage mit unseren Kindern so angenehm wie möglich zu gestalten, brauchen wir trotzdem unangenehme Gefühle nicht auszuschalten, denn sie gehören zum Leben dazu. Das Austragen von Konflikten ist für Kinder eine sehr wichtige Erfahrung. Sie müssen sich einerseits behaupten und durchsetzen, aber andererseits auch zurückstecken und lernen zu verlieren. Sie müssen ihre Bedürfnisse und Wünsche formulieren, andere überzeugen und sich Anerkennung verschaffen, wodurch sie wiederum ihren Platz in der Gruppe, wie auch in der Familie finden. Das Durchhaltevermögen und die Frustrationstoleranz, die in den unterschiedlichen Konfliktfällen erprobt werden, sind wichtig für die Selbsteinschätzung und das Selbstbewusstsein des Kindes. Das Kind kann sein eigenen Positionen entwickeln und bekommt die Möglichkeit eigene Lösungen zu finden. Durch eine Stellungsnahme kann das Kind eigene Grenzen setzen, es lernt verhandeln und Dialogfähigkeit.

Aus diesen Gründen heraus, muss man den Kindern den Freiraum gewähren, sich streiten zu lassen, ohne dass unmittelbar ein Erwachsener dazukommt um zu schlichten, Grundregeln aufstellt in welcher Form Kinder zu streiten haben oder durch Schuldzuweisungen bewusst oder unbewusst beide Streitenden in Täter bzw. Opferrollen klassifiziert. Besonderst auch Konfliktaustragungen zwischen Geschwistern sind wichtig und unausweichlich. Man sollte den Kindern Gelegenheit geben ihre eigene Streitkultur zu entwickeln (was jedoch nicht bedeutet, dass Eltern bei sadistischen Handlungen oder völliger Unterlegenheit eines Kindes zuschauen sollen). In diesem Prozess bekommen die Kinder Gelegenheit untereinander ein gesundes Beziehungsgleichgewicht wieder herstellen. Manchmal lassen sich auch Konflikte oder Streitgespräche zwischen Erwachsenen und Kinder auf eine humorvolle und spielerische Art und Weise lösen z.B. indem man daraus ein "absurde Streitgespräch entwickeln lässt (man kann eventuell wechselseitig die Argumente austauschen oder spielerisch absurde Argumente mit einbringen) oder z.B. durch Softballwerfen, Kissenschlachten oder Ballonkämpfe die Aggressionen auf einer spielerischen Ebene raus lassen.

Natürlich muss das Kind auch lernen mit Begrenzungen umzugehen und Grenzen diskussionslos zu akzeptieren. Auch wenn es enttäuscht reagiert, solche Erfahrungen gehören zum Leben. Ein Kind das in einer "nährenden" Beziehung aufwächst, kann auch solche mit unter starren Grenzen akzeptieren. Erst wenn es Einschränkungen erlebt, ohne eine emotional sichere Bindung, wird es in der Entfaltung seiner Selbstbestimmung beeinträchtigt. Mit Ungerechtigkeiten umgehen lernen, sind wichtige Erfahrungen.

Kinder benötigen authentische Erwachsene als Vorbilder, die ihre eigenen Grenzen im alltäglichen Umgang erkennen und klar abstecken können. Wenn Eltern ihren Kindern bezüglich unangemessenen Forderungen ständig nachgeben, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht wahren können, erzieht man Kinder dazu nach diesen Grenzen durch permanentes Fordern zu suchen. Für die Eltern bedeutet dies eine dauerhafte Überforderung, eine ständige Übertretung der eigenen Grenzen. Eltern fühlen sich dadurch verständlicherweise sehr schnell ausgelaugt und erschöpft und reagieren ihrerseits dann auch mit unangemessenen emotionalen Ausbrüchen, welche verständlicher weise für die Kinder oft in diesem Maße nicht mehr nachvollziehbar sind.

9.2.4.7. Nachvollziehbare Konsequenzen statt Strafe

Kinder brauchen dann am meisten Liebe, wenn sie es am wenigsten "verdienen"
anonym, aus der FH für Sozialwesen, Mannheim

Strafe ändert nichts am störenden Verhalten des Kindes, wenn es die Strafe als Erniedrigung bzw. Demütigung empfindet. Vielmehr führt dies zu emotionalem Rückzug, überangepaßtem Verhalten oder zu Rachegelüste und Widerstand. Auch Verbote als Strafe sind kein geeignetes Mittel um Grenzen zu setzen, sie dienen vielmehr dem Zweck den kindlichen Willen zu brechen. Wir müssen Kindern erlauben, ihren eigenen Weg und ihre eigenen Grenzen zu finden. Im Rahmen dieses Selbstfindungs- und Lernprozesses kann nur Vertrauen das Fundament bilden, auf dem sich unsere Kinder sicher bewegen können. In diesem Prozess der Grenzfindung sind Grenzübertretungen wie z.B. Regeln brechen und Fehler machen unablässlich. Das bedeutet nicht, dass wir alle Regeln aufgeben sollen, wir sollten den Kindern jedoch den Freiraum bieten, ihre persönlichen Grenzen zu finden. Dies bedeutet auch, dass wir dem Kind viel Eigenverantwortlichkeit zugestehen. Entscheidet es sich das z.B. für den schwierigeren Weg (in "unangemessener" Kleidung in den Kindergarten zu gehen, die Verantwortung für Spielzeug beim Einkaufen zu übernehmen, längere Zeit im Auto zu warten, anstatt mit zu gehen ect.) so sollten Eltern diesen Wunsch des Kindes ernst nehmen und die Kinder dann auch mögliche negative Konsequenzen tragen lassen (z.B. wenn das Kind sein Spielzeug dann im Supermarkt verliert).

Es gibt zu dem auch Eskalationsfallen, in die sich Eltern zumeist unbewußt immer wieder verstricken. Dazu gehören ungewollte Belohnungen (Kinder die grundsätzlich im Supermarkt anfangen laut zu schreien bzw. zu weinen und von ihrem hilflosen, genervten Elternteil dann Süßigkeiten bekommen, damit sie mit diesem Verhalten aufhören), disgruentes Verhalten oder auch das Ignorieren von erwünschtem Verhalten. Angemessenes Verhalten findet im Alltag häufig viel weniger Beachtung als provokantes Verhalten. Wenn Kinder bei sozialem Verhalten ignoriert werden, lernen sie schnell durch unsoziales Verhalten auf sich aufmerksam zu machen. Effektiv hingegen ist, wenn unerwünschtes Verhalten möglichst nicht verstärkt wird z.B. durch absichtliches Ignorieren.

Eine anderer positive Möglichkeit mit Fehlern der Kinder umzugehen ist, ihnen zu erlauben es selbst wieder zurechtzubiegen. Wenn sie z.B. etwas vergossen haben, bekommen sie einen Lappen um es selbst wegzuwischen oder wenn Kinder anderen weh tun, ist es eine Möglichkeit sie zu fragen wie sie damit nun umgehen wollen, wenn das andere Kind weint. Kinder besitzen meist noch eine innere Gewissheit und eine innere Ordnung und wissen intuitiv was richtig und was falsch ist (vergl. hierzu auch Punkt 5.1., das Menschenbild Reichs), wenn wir ihnen Vertrauen schenken, sie respektieren und ihnen zusehends Verantwortung für sich selbst übertragen.

Manchmal ist es natürlich auch unabdingbar ein entschiedenes Nein auszusprechen, wenn z.B. persönliche Grenzen überschritten werden und man nicht an die Vernunft des Kindes appellieren kann. Sinnvoll ist es, wenn man in Form von "Ich-Botschaften" und der entsprechenden inneren Haltung dazu entschieden seine persönliche Meinung zu diesem Konflikt ausspricht. Bei diesem Prozess des Grenzen setzen sollte man zunächst die Ursache des Konfliktes reflektieren, die Würde, das Recht und die persönliche Ordnung des Kindes respektieren, auf die Gleichwertigkeit zwischen den Personen achten und die Proteste der Kinder zulassen, ihre Gefühle nicht ignorieren oder bagatellisieren. Auch Erwachsene sollten keine Gefühle unterdrücken (z.B. des Zorns, Trauer, Wut), sondern in angemessener Form zum Ausdruck bringen. Wenn sich Kinder nun trotzdem noch über die persönlichen Grenzen der Eltern hinwegsetzen, sollte keine Bestrafung, sondern logische, dem Entwicklungsstand angemessene und für das Kind bzw. Jugendlichen nachvollziehbare Konsequenzen folgen. (Oftmals ist es sinnvoller mit solchen Konsequenzen zu reagieren, anstatt sich in lange Diskussionen verwickeln zu lassen; ein Beispiel: Zwischen der Mutter und ihrer heranwachsenden Tochter kommt es wiederholt zu Konflikten, weil die Tochter öfters am Tag ihre Kleidung wechselt und ihre getragenen Kleider verstreut im Zimmer liegen lässt, während die Mutter sich vom wachsenden Wäscheberg überfordert fühlt. In einem solchen Fall wäre es eine logische Konsequenz, wenn die Mutter sich, solange die Tochter keine Mitverantwortlichkeit zeigt, nicht mehr um das Waschen und Bügeln ihrer Kleidung kümmert und ihrer Tochter sowohl die alleinige Verantwortung für diese Arbeiten überträgt, als auch die daraus resultierenden Konsequenzen, z.B. die Tochter muss mit dreckiger Kleidung zur Schule gehen.)

9.2.4.8. Verwöhnung

Verwöhnung tritt dann ein, wenn Eltern ihre persönlichen Grenzen missachten und als Folge dessen den Kindern übermäßig viel Aufmerksamkeit einräumen, welche ihnen als gleichwertige Person in dem jeweiligen Moment nicht zusteht. Dadurch kommt die Beziehung zwischen Elternteil und Kind aus dem Gleichgewicht und das Elternteil muss zukünftig sehr viel mehr Energie aufwenden, um die Homöostase wieder herzustellen. Die Ursache solcher dysfunktionalen Beziehungen sind oftmals Schuldgefühle oder fehlende Anteilnahme (Gleichgültigkeit) am Leben des Kindes bzw. Defizite der primären Bindung (z.B. oftmals hervorgerufen durch Trennung in der Partnerbeziehung oder akute Stresssituationen), wobei dann versucht wird diese Defizite gegenüber den Kindern durch ein Übermaß an Gefühlen zu kompensieren. Verwöhnung ist demnach nicht das Ergebnis von zuviel Liebe, sondern von unehrlicher und instrumentalisierter Zuneigung.

Verwöhnung und Vernachlässigung sind deshalb die beiden Seiten ein und derselben Münze. Beiden Fälle zeichnen sich durch die Unfähigkeit des Grenzen setzen aus, im ersten Fall durch Überkompensation von Gefühlen, im zweiten Fall durch Mangel an Gefühlen (Kontaktlosigkeit) und Desinteresse am Kind.

Kinder brauchen daher authentische Gefühle, emotionale Sicherheit, Anleitung und Orientierungshilfen, welche ihnen die Freiheit gibt sich zu entspannen und weniger zu fordern. Durch mangelnde Bindung und Vernachlässigung wird das Kind z.B. permanent an die Sehnsucht nach Liebe, Zuwendung und Angenommen werden gefesselt. Unbefriedigten Bedürfnisse und Frustrationen "binden" das Kind an den Eltern (z.B. auch durch Überbehüten, das Abschirmen des Kindes vor negativen Gefühlen, Konflikten oder in dem wir es nicht erwachsen werden lassen und ihm unnötigerweise Verantwortung abnehmen) und weil es seine tiefe Sehnsucht nach Akzeptanz seiner selbst nicht formulieren kann, kompensiert es dies mit einem Überhang an emotionalen Forderungen oder oberflächlichen Wünschen. Diese Defizite sind das Fundament für (materielle) Verwöhnung. Liebe hat ebenso nichts mit Konsum zu tun. Es ist z.B. nicht lieblos, wenn sie ihnen keine Gummibärchen kaufen, weil sie zu ungesund sind, oder wenn sie ihr Kind ins Bett bringen, weil sie beobachten, wie müde es ist. Es ist auch nicht lieblos, den Fernseher aus zu schalten oder das kleinere Kind in ein anderes Zimmer zu bringen, wenn das größere fernsieht. Aber es schadet einem Kind nie, wenn man es herumträgt, tröstet oder ihm über seine Ängste hinweg hilft.

Durch diese Erfüllung der primären Bedürfnisse eines Kindes (siehe hierzu Punkt 5.4.) kann man Kinder nicht verwöhnen und durch eine altersentsprechende Abwägung des Prinzips des gegenseitigen Geben und Nehmens erlernt das Kind angemessen mit seinen Bedürfnissen umzugehen und Selbstdisziplin.



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
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            9.2.4.4. Freier emotionaler Ausdruck, Vertrauen ...

            9.2.4.5. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.6. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.7. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen
            9.2.4.8. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen

         9.3. Grenzerfahrungen und der Schutz vor Gefahrensituationen