Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
      8. Das Leben und Werk Reichs - Eine biographische Kurzdarstellung / Zeittafel

      9. Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich
         9.1. Vorwort
         9.2. Familiäre Erziehung
            9.2.1. Über den Einfluss pränataler Erfahrungen
            9.2.2. Die Geburt

          9.2.3. Das Neugeborene und das erste Lebensjahr



9.Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich

9.1. Vorwort

"Kindheit hat ihre eigene Art des Sehens, Denkens und Fühlens"

Rousseau

Nachvollziehbare Konsequenzen, statt Strafen

Kinder stärken und Ermutigen - Körperkontakt, Sexualpädagogik, Sauberkeitserziehung

Die Aufgabe eine konkrete und detaillierte Beschreibung der Umsetzung des Prinzips der Selbstregulation zu formulieren, bringt mich in ein gewisses Dilemma: Einerseits möchte ich mich nicht in eine der zahlreichen Gebrauchsanweisungen für Erziehungsfragen einordnen, die für jedes Problem bereits eine standardisierte Antwort parat hat, dies ist auch besonderst bei dieser Erziehungstheorie nicht sinnvoll und auch nahezu unmöglich. Andererseits möchte ich mich aber auch darum bemühen, diese Theorie in ihrem praktischen Kontext möglichst lebensnahe und umsetzbar darstellen, da man die Qualität einer Theorie nur an deren sinnvollen und praktische Anwendung bemessen kann.

Erziehung ist ein sehr individueller Prozess, welcher viel Verantwortung, Bewusstsein und Engagement fordert, bei dem sowohl Eltern, als auch Pädagogen permanent mit den eigenen Gefühlen und Grenzen konfrontiert werden. Es geht primär darum jedes Kind in seiner Individualität wahrzunehmen und es in seiner Persönlichkeit zu fördern; dabei ist es von Bedeutung, dass der Erwachsene authentisch bleibt. Aus diesem Grund möchte ich auch nicht instruktiv interagieren, sondern ehr Anreize geben zur kritischen Reflexion persönlicher pädagogischer Leitbilder und Bewusstseinsbildung bezüglich der eigenen Verhaltensmuster. Oftmals ist es nicht die Situation, die verändert werden muss, sondern die eigene Sichtweise.

Wenn man die Intuition (aus dem Bauch raus handeln), als die einzig pädagogische Richtlinie nimmt, läuft man schnell Gefahr seine Launen in den jeweiligen extreme Verhaltensweisen auszudrücken (man ist zudem in erster Linie auf die eigenen Gefühle fixiert, anstatt sich auch empathisch auf das Kind einzulassen). Andererseits ist es natürlich ebenso wenig ratsam einen pädagogischen Erziehungsstil dogmatisch und rein kognitiv zu übernehmen, damit kann man keine emphatische und authentische Beziehung zu seinen Kindern aufbauen.

Aus diesem Grund konzentriere ich mich primär auf die zentralen Aspekten des Prinzips der Selbstregulation und werde detaillierte praktische Anweisungen bzw. Fallbeispiele soweit als möglichst vermeiden. (Ein konkretes Fallbeispiel, quasi als Beweis für das "funktionieren" dieses Erziehungsstils ist zudem unrealistisch. Das exemplarische selbstregulierte Kind gibt es in unserer Gesellschaft nicht. In unserem Sozialisationsprozess fließen so viele verschiedene gesellschaftliche, traditionelle, religiöse Faktoren mit ein, die ein Kind mitprägen, dass es in dieser Gesellschaft sehr schwierig ist, einem Kind die Chance zu geben sich wirklich völlig frei aus seinem inneren Kern heraus zu entfalten. Selbst wenn eine Familie es schafft ihrem Kind diese Plattform in den ersten Lebensjahren zu bieten, drängt das Kind, als soziales Wesen mit wachsendem Nachdruck nach außen. Es wird spätestens in der Schule oder in Peer-groups mit den gesellschaftlichen Normen und Wertemaßstäben konfrontiert werden, und sich durch den damit verbundenen Druck früher oder später anpassen müssen)

Meiner Meinung nach sind zu viele und zu konkrete Beispiele auch deswegen nicht sinnvoll, da sie sich oftmals exemplarisch als fertiges Verhaltensmuster einprägen. Kinder sind in ihrer Persönlichkeit und Entwicklung aber sehr unterschiedlich und haben daher ein Recht, dass man den pädagogischen Leitfaden persönlich auf ihre Bedürfnisse ausrichtet, zudem sollte Authentizität als Voraussetzung für eine gesunde Beziehung angesehen werden. Deswegen möchte ich anhand ausgesuchter Aspekte der Selbstregulation eine Anregung oder Diskussion in Bewegung setzen, welche als Resultat haben könnte, dass Eltern durch diese Denkanstöße ihren eigenen Familienstil entwickeln und prägen können.

Das Vorhaben, die Linie vom Säugling bis zum erwachsenen Menschen psychologisch nachzuzeichnen ist zudem unmöglich, da der Sozialisationsprozess, wie bereits erwähnt, von unglaublich vielen verschiedenen Faktoren abhängig ist; es gibt - Gott sei Dank - keine "gesetzmäßige" Erziehung. Aus diesem Grund werde ich die frühen pränatalen Erfahrungen eines Fötus bis hin zu der frühen Kindheit in altersgemäße Entwicklungsstufen zu beschreiben und mich in folgendem auf die zentralen Aspekte der Selbstregulation konzentrieren.

Das Prinzip der Selbstregulation versteht sich folglich als pädagogische Orientierungshilfe, welche Eltern Mut machen möchte an ihre Kinder zu glauben, sie in der Reifung ihrer individuellen Persönlichkeit zu unterstützen und ganz hinter ihnen zu stehen - aber auch die eigenen Grenzen wahr zu nehmen und nicht zu übergehen.

Ziel ist es Kinder gemäß ihrer natürlichen und individuellen Prägung nach wachsen zu lassen, so dass sie als selbstbewusste und lebensfrohe junge Erwachsene ihr Leben eigenverantwortlich meistern können.

Der grundlegende Unterschied dieses Erziehungsmodells gegenüber anderen nicht-repressiven Erziehungskonzepten besteht in der orgonomischen Basistheorie. Die Maxime dieses Wissens betont die wichtige Bedeutung des freien, emotionalen Ausdrucks von Kinder und Jugendlichen, um sie dadurch vor einer Verpanzerung und Entfremdung ihrer Gefühlwelt zu bewahren.

Das Prinzip der Selbstregulation ist ein Erziehungsmodell, welches primär als Präventionsmaßnahme zum Zuge kommt. Kinder und Jugendlichen mit schweren Erziehungsdefiziten oder Verhaltensauffälligkeiten sind zumeist schon emotional so stark gepanzert, dass diese Form der sanften und liebevollen Erziehung sie oftmals gar nicht mehr erreicht; sie reagieren zumeist primär auf Druck von außen und benötigen daher eher Struktur.

9.2. Familiäre Erziehung

9.2.1. Über den Einfluss pränataler Erfahrungen

Reich stieß im Rahmen seiner Forschungen über die Entstehung von emotionalen, psychosomatischen und bio-energetischen Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern, auch auf die Bedeutung der pränatalen (lat. der Geburt vorausgehend) Erfahrungen.

Er sah den Embryo zunächst als einen Teil des mütterlichen Organismus und später zunehmend als eigenständiges Individuum. Durch diese Verschmelzung der beiden Systeme und Organismen entsteht ein energetischer Austausch, der sich unter günstigen Bedingungen schon während der Schwangerschaft zu einem energetischen Kontakt zwischen Mutter und Fötus entwickelt (d.h. wenn die Mutter die energetischen Abläufe bei sich selbst, bei dem Fötus, sowie die resultierende Wechselwirkung beider Organismen wahrnehmen kann).

Embryos reagieren auf ungünstige Bedingungen wie z.B. auf dauerhafte negative Gefühle mit Kontraktionen. Dabei kann es bereits im Uterus zu energetischen Störungen kommen, was wiederum prägend für die psychophysikalische Konstitution des Kindes sein kann (sowohl für den Fötus, als auch nach der Geburt). Zudem wird durch eine starke Panzerung des mütterlichen Organismus, der energetische Kontakt zu dem Fötus eingeschränkt. (vergl. D. Fuckert 1995 : 74)

Diese frühen Erkenntnisse Reichs wurden im wesentlichen von der modernen Säuglingsforschung (Stern, Lichtenberg ect.) in späteren Jahren wissenschaftlich bestätigt. Es gilt heute als erwiesen, dass Ungeborene sämtliche Gefühle der Mutter miterleben, diese verinnerlichen und von diesen dann selbst psychisch und physisch beeinflusst werden. 1980 wurde beispielsweise von dem Säuglingsforscher Graves wissenschaftliche Untersuchungen geliefert, dass bei Kindern bereits im Mutterleib integrative Mechanismen funktionieren, sowohl auf der biologischen, physiologischen, als auch im verhaltensbezogenen Bereich. (vergl. J.D. Lichtenberg 1991 : 142) Diese pränatalen Faktoren wirken sich dann unmittelbar auf die spätere Entwicklung des Kindes aus. (vergl. Schenk - Danzinger 1996 : 53, 56 - 60)

Die Grundvoraussetzung zur Umsetzung des Prinzips der Selbstregulation ist deshalb, das primäre Recht der Kinder grundsätzlich gewollt zu sein.

Eine selbstbestimmte Schwangerschaft und Geburt sollte zu den natürlichen Rechten der Frauen gehören (konsequenter Weise schließt dieses Recht auch das Recht auf Abtreibung mit ein).

Wünschenswert wäre daher, wenn werdende Eltern die innere Bereitschaft schaffen können, ihren Neuankömmling anzunehmen und ihm, in ihrem Leben, Raum und einen Platz einzuräumen. Schwangere sollten sich demnach in ihrer Schwangerschaft, falls möglich, Ruhe und Entspannung gönnen, um sich innerlich auf ihr Kind und die nachfolgende Geburt einstimmen zu können (z.B. um durch intensive Körperpflege ein sinnliches, harmonisches Körpergefühl aufbauen), sie sollten sich so wenig wie möglich unter Erwartungsdruck setzen und auch ihre hormonellen und emotionalen Schwankungen akzeptieren.

9.2.2. Die Geburt

Die Geburt wird in den sogenannten zivilisierten Industrieländern häufig als einen rein mechanisch-anatomischen Begriff beschrieben; als ein medizinischer Vorgang, bei dem Mutter und Kind ehr passive Teilnehmer sind. Durch die Tatsache, dass Schwangeren von Ärzten zumeist impliziert wird, dass eine "moderne" und sichere Geburt ausschließlich im Krankenhaus stattfinden kann, laufen wir Gefahr den natürlichen Geburtsvorgang mit einer Art Krankheit gleichzusetzen, welche wir mithilfe medizinischen Möglichkeiten bezwingen müssen. Frauen werden so sich selbst entfremdet (teilweise auch entmündigt) und bekommen aber auch so die Möglichkeit einen großen Teil der Verantwortung für die kommende Geburt abzugeben (so sind viele heutige Geburten geprägt von Angst, einer gewisse Abscheu und Unsicherheit bezüglich den eigenen natürlichen Körperfunktionen). Ohne nun jedoch detaillierter auf die aktuellen Missstände der modernen Entbindungsstationen eingehen zu wollen, kann man jedoch das Resümee ziehen, dass in dieser medizinischen Disziplin der Grundstein gelegt wird für eine frühe Distanzierung und Entfremdung zwischen Mutter und Kind.

In Hinblick auf die praktische Umsetzung des Prinzips der Selbstregulation, wäre es deshalb für Mutter und Kind von Bedeutung, dass die werdende Mutter die Möglichkeit bekommt, sich frei und ohne gezielte Manipulation und/oder (un-)bewusst suggerierten Ängsten, sich für eine individuell zugeschnittene und selbst gewählte Form der Geburt entscheiden zu können.

Die Geburt ist für Mutter und Kind ein sehr prägendes und einschneidendes Erlebnis, bei dem man weder den Geburtsschmerz, noch die extremen physischen und psychischen Schwankungen verharmlosen sollte. In dieser höchst sensiblen Phase des beidseitigen Löslösungsprozesses und den häufig damit verbundenen ambivalenten Gefühlen von Mutter und Kind, sollte sich eine werdende Mutter nicht noch zusätzlich äußeren angstauslösende oder verunsichernde Reizen aussetzen (denn dadurch wird eine Panzerung verstärkt, der Körper verspannt sich und die Gebärende wird unsicher und nervös, was wiederum negative Auswirkungen auf den weiteren Geburtsverlauf haben kann).

Eine Geburt sollte einen geschützten Rahmen für Mutter und Kind, sowie einen liebevollen Empfang des neuen Erdenbewohners beinhalten, daher wäre es wünschenswert, wenn dies in einer harmonischen, sicheren und geborgenen Atmosphäre geschehen könnte (z.B. als Hausgeburt, falls keine medizinischen Komplikationen zu erwarten sind, oder in außerklinischen Geburtshäusern). Die gebärende Mutter sollte sich ihre Geburtsstellung aussuchen und falls gewünscht auch jederzeit ändern können. Es sollte ein emphatischer und kontinuierlicher Kontakt zwischen Geburtshelfer und Gebärenden herrschen, der gegebenenfalls auch Freiraum lässt für Berührungen, Massagen, Entspannungstechniken, Bestärkung, Ermutigung, Humor und auch sonst noch allen lustvollen Aktivitäten, die den natürlichen Prozess der Geburt unterstützen können. Auf diese Weise kann sowohl das Geburtsrisiko verringert, als auch die Geburtsdauer verkürzt werden. Auch Anpassungsprobleme Neugeborener kann so entgegengewirkt werden. Das Kind sollte (falls keine medizinisch relevanten Gründe dagegen sprechen), selbst den Zeitpunkt der Geburt bestimmen. Falls möglich, sollte die werdende Mutter bei vollem Bewusstsein und unnarkotisiert ihr Kind in dieser Welt willkommen heißen. Auch das Neugeborene sollte sich keiner überflüssigen und unfreundlichen Klinikroutine unterziehen müssen (sofortige Säuberung und Schleim absaugen des Neugeborenen oder grundsätzliche Verordnung von ätzender Silbernitratlösung in dessen Augen), sondern ohne die Nabelschnur zu durchtrennen sofort auf den Bauch der Mutter gelegt werden. Der Prozess der Trennung beider Energiesysteme sollte sehr schonend und bedächtig erfolgen. Das Doppelsystem der Sauerstoffaufnahme ist ein sehr sensibler Prozess, der sich erst nach fünf Minuten auflöst. (vergl. hierzu auch F. Leboyer, Der sanfte Weg ins Leben - Geburt ohne Gewalt 1974)

Die junge Familie sollte sich die Möglichkeit und den Freiraum schaffen, sich zunächst einmal in aller Ruhe begrüßen und anschauen zu können (der erste Blickkontakt ist für die spätere Mutter- Kind- Bindung von erheblicher Bedeutung). Zu dem absoluten Grundbedürfnissen eines Neugeborenen gehört ein liebevolles Gehalten werden, sowie ein dauerhafter Körperkontakt (Neugeborenenstationen sind, nicht nur deswegen, kategorisch abzulehnen; Rooming-In- Zimmer sind diesbezüglich ein vager Ansatz in die richtige Richtung).



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
      8. Das Leben und Werk Reichs - Eine biographische Kurzdarstellung / Zeittafel

      9. Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich
         9.1. Vorwort
         9.2. Familiäre Erziehung
            9.2.1. Über den Einfluss pränataler Erfahrungen
            9.2.2. Die Geburt

          9.2.3. Das Neugeborene und das erste Lebensjahr