Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         6.3. Die psychiatrische Orgontherapie

      7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten
      8. Das Leben und Werk Reichs - Eine biographische Kurzdarstellung / Zeittafel

      9. Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich



7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten

"Als wir im Jahre 1947 und 1948 gemeinsam in den Wäldern von Maine spazieren gingen, kam es vor, dass er (Reich) plötzlich stehen blieb und mir die Frage entgegenschleuderte: "Glaubst du, dass ich verrückt bin, Neill?" Meine Antwort war immer dieselbe: "So verrückt wie ein Wasserhuhn!""(zit. aus Laska 1981 : 138)

Die Existenz der Orgonenergie, die Reich (wieder-)entdeckte und in physikalischen Experimenten nachwies, ist bis heute sehr umstritten und wird von der orthodoxen Naturwissenschaft nicht anerkannt. Da jedoch diese Lebensenergie die Basis darstellt, auf der sämtliche Thesen Reichs aufbauen (einschließlich des Erziehungsmodells der Selbstregulation und die Orgontherapie), werden seine Arbeiten grundsätzlich als spekulativ eingruppiert, d.h. sie stehen im Widerspruch zu den Vorstellungen der meisten anderen Naturwissenschaftlern.

Während sich die psychoanalytische Pädagogik mit der Kritik auseinandersetzen musste, es mangele ihr an wissenschaftlicher Genauigkeit und empirischer Forschungsarbeit, so muss sich das Prinzip der Selbstregulation den Vorwurf gefallen lassen, es mangele ihr grundsätzlich an wissenschaftlicher Forschungsarbeit. Erschwerend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sowohl Reichs Menschenbild, die körperliche Panzerung, die orgastische Potenz, als auch die Orgonenergie zu den unorthodoxen und wissenschaftlich nicht anerkannten (und daher auch zu den orthodox-wissenschaftlich unerforschten) Bereichen zählen. Es werden bezüglich dieses Erziehungsmodells viele Behauptungen aufgestellt, jedoch existieren zu wenige aufgeschlossene wissenschaftliche Studien (wobei hier auch kritisch anzumerken ist, dass wissenschaftliche Studien bzw. deren Auftraggeber immer einen gewissen Sinn und Zweck verfolgen, der wiederum in den seltensten Fällen "reiner" Forschungsgeist ist...) Es gibt lediglich subjektive Erfahrungsberichte einzelner Familien, welche das Erziehungsmodell in ihrer Realität versuchten umzusetzen. Zudem lastet diesem Erziehungsmodell die Kritik an, dass den biologisch-genetischen Einflüssen zu wenig Beachtung beigemessen werde. Das Prinzip der Selbstregulation wirft in seiner praktischen Umsetzung noch einige Schwierigkeiten auf, mit denen ich mich jedoch zu einem späteren Zeitpunkt befassen werde.

Auch die Orgontherapie besitzt keine ausgefeilte, differenzierte Forschungskultur. Die Quellen der einzelnen Forschungsberichte sind subjektive Erfahrungen der einzelnen Therapeuten bzw. Patienten. Wohl aus diesem Grund, verbunden mit dem allgemeinen Mangel an Informationen über diese Therapieform, bestehen einige Missverständnisse und Fehlinformationen (z.B. dass sich Patienten in den Therapiestunden nackt ausziehen müssen, verbunden mit der Angst, dass Therapeuten ihre Patienten zuweilen grenzverletzend berühren).

Als nachteilig wird der Orgontherapie auch oft angelastet, dass sie den Körpe als unbestreitbare Realität zum einzigen Ziel und Kriterium macht und dadurch andere z.B. psychosoziale Aspekte vernachlässigt werden. Dem ist entgegen zu halten, dass die Orgontherapie nicht ohne Grund auf zwei Füssen steht (der psychoanalytischen Gesprächstherapie und der Körperarbeit) und dass an die Ausbildung zum Orgontherapeuten außergewöhnlich hohe qualitative Anforderungen gestellt werden (vergl. Punkt 6.3.). Aber letztendlich liegt es, wie bei jeder Therapieform in der Hand jedes einzelnen Therapeuten, wie verantwortungsbewusst, reflektierend und systematisch er arbeitet bzw. wie er den Behandlungsprozess und deren Ergebnisse analysiert und mitgestaltet.

Auch Reichs radikale gesellschaftskritischen und sexualökonomischen Theorien ernteten mindestens so viel Kritik, wie seine praktischen Umsetzungen. Er bezahlte dafür auch mit beruflicher Ächtung, Arbeitsverbot und dem Tod im Gefängnis.

Ein permanent wiederkehrender Kritikpunkt an Reichs Thesen, ist die scheinbare Reduzierung seines Weltbildes allein auf die sexuelle Komponente; die Überschätzung der Genitalität. Ihm wurde vorgeworfen er beurteile und reduziere Menschen lediglich in Orgasmusfähige und Impotente.

Manche Kritiker reagierten auch mit großer Skepsis auf Reichs "Naturphilosophie". Ihm wurde unterstellt, er operiere mit der sentimentalen Vorstellung von rein natürlichen Trieben und ewigen Werten, die er undialektisch gegen das Bestehende setzen würde und zudem die Sexualität mit einer solchen Macht ausgestattet habe, dass er der Illusion verfiel, durch ihre Entfesselung die Gesellschaft stürzen zu können. "Diese Orientierung am Modell einer harmonischen Menschennatur und die Methode der Heilung als Weg "zurück zur Natur""(Kentler 1984 : 212) gehören zu den zentralen Kritikpunkten, da sie als überschätzend, unrealistisch und einseitig eingestuft wurden.(vergl. Kentler 1984 : 212)

Als sich Reich zudem noch politisch engagierte, kam zum ersten Mal das Gerücht auf, er sei verrückt. Dieses Gerücht verfestigte sich, als er 1933 aus der Kommunistischen Partei, und 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde. Andere wiederum sahen Reichs Schritt in die Verrücktheit, als er seine wissenschaftlichen Forschungen und Beobachtungen bezüglich der Existenz der Lebensenergie veröffentlichte (bzw. seine späteren Thesen u.a. über die Beeinflussbarkeit des Wetters bekannt wurden).

Jedoch erklärten ihn zwei Gerichtsmediziner, nahe Verwandte, Freunde und therapeutische Kollegen noch kurz vor seinem Tod für geistig gesund. (vergl. Hoppe 1997 : 15 - 21)

Reich wurde reduziert auf ein Zerrbild (als Sexualrevolutionär, Kommunist, Regenmacher ect.). Die Komplexität und Ganzheitlichkeit seines Denkens geriet außer Acht, indem Teilaspekte herausgerissen und oft fehlinterpretiert wurden. Einige seiner Teilaspekte wurden dabei, wie selbstverständlich in anderen psychoanalytischen Studien (z.B. u.a. von Anna Freud) übernommen. "Dass mit dem Herausgreifen "angenehmer" Aspekte dem Gesamtwerk Reichs Unrecht getan wird, ist deshalb so bedauerlich, weil Reich zeit seines Lebens darunter gelitten hat, dass ein großer Bereich seiner Theorien zwar von vielen Psychoanalytikern abgelehnt, "brauchbare" Teile daraus aber entnommen wurden, ohne ihn als Urheber zu würdigen" (Kriz 1989 : 77)

Zu weitern Missverständnissen kam es, als die 68er Bewegung einzelne Thesen Reichs fehlinterpretierte z.B. die Thesen der Sexualökonomie, als "freie" Sexualität im Sinne von Bindungs-, Moral- und Zügellosigkeit darstellte (vergl. hierzu Punkt 6.1.). Zudem benutzte die Bewegung Reich als eine Art Vorkämpfer zur politischen und sexuellen Befreiung (noch in seinem Spätwerk "Christusmord" warnte Reich jedoch entschieden vor der Mystifizierung der Führerrolle).

Auch nach der 68er Bewegung rissen die Fehlinterpretationen nicht ab. "Manche Kreise der Esoterik und der "Freien-Energie-Szene begegnen Reichs Arbeiten mit einer mystischen Allheil- und Allmachbarkeits-Vorstellung, und es wird Scharlatanerie und Geschäftemacherei damit betrieben. Aber auch bioenergetischen Therapieschulen verzerren die zentralen, wirklich bedeutsamen Erkenntnisse, indem sie Einzelaspekte aus Reichs Gesamtkonzeption des Menschen und seiner biopsychischen Lebensfunktion herauslösen." (D. Fuckert 1999 : 133)

Wünschenswert wäre, wenn Reich nicht mehr von den orthodoxen psychiatrischen und psychoanatytischen Lehrwissenschaftlern länger ausgegrenzt, lächerlich gemacht oder als bedrohlich dargestellt werden würde, sondern wenn ein kritischer Prozess der Neubewertung in Gange käme, welcher Reich in seiner Gesamtheit neu diskutieren könnte.

8. Das Leben und Werk Reichs - Eine biographische Kurzdarstellung / Zeittafel

1897 : Reich wird als erstes Kind von Cecilia und Leon Reich in Dobrzanica/Galizien geboren. Kurz nach der Geburt zieht die Familie nach Jurinetz/ Bukowina, wo der Vater Ländereien besitzt und Viehzucht betreibt.

1910 : Selbstmord der Mutter

1914 : Tod des Vaters, Reich übernimmt die Leitung des Gutes

1915 : Abitur und Einberufung zum Kriegsdienst

1918 : Beginn des Medizinstudiums in Wien

1919 : Reich organisiert privat ein "Studentenseminar für Sexologie";

Teilnahme am "Sexologischen Seminar" von Otto Fenichel

1920 : Eintritt in die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft (WPG)

1921 :Vortrag "Zur Triebenergie" vor der WPG;

Heirat mit Anni Pink, einer Medizinstudentin

1922 : Abschluss des Medizinstudiums;

Mitarbeit am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittelose, sowie am Wiener Seminar für Psychoanalytische Therapie

1924 : Reich wird Direktor des Seminars (bis 1930);

Beginn der Beschäftigung mit den sozialen Ursachen psychischer Erkrankung;

Geburt von Tochter Eva

1926 : Reichs Bruder stirbt an Tuberkulose

1927 : Erkrankung an Tuberkulose, einige Monate Kuraufenthalt in Davos;

Sein Buch "Die Funktion des Orgasmus" erscheint;

Unter dem Eindruck des niedergeschlagenen spontanen Aufstandes vom 15. Juli tritt Reich in die kommunistische Partei ein.

1928 : Geburt der zweiten Tochter Lore

1929: Gründung der "Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung", Eröffnung von Sexualberatungsstellen in Wien;

Reise in die Sowjet-Union;

Gründung des "Komitee revolutionärer sozialdemokratischer Arbeiter"

1930 : Umzug nach Berlin

1931 : Gründung des Sexpol-Verlages in Berlin

1932 : Gründung des Deutschen Reichsverbandes für Proletarische Sexualpolitik als Unterorganisation der KPD, der von der Parteiführung etwa ein Jahr später liquidiert wird;

Eintragung in Freuds kürzester Chronik: "Schritt gegen Reich";

Reich lernt seine zweite Frau, die Balletttänzerin Elsa Lindenberg kennen

1933 : Flucht Anfang März nach Wien;

sein Buch "Charakteranalyse" erscheint im Eigenverlag, nachdem sich der Internationale Psychoanalytische Verlag geweigert hat, das Buch zu publizieren;

Am 1. Mai emigriert Reich nach Kopenhagen;

Am 10. Mai fallen u.a. Reichs Bücher der Verbrennung in der Reichskristallnacht zum Opfer;

Im September erscheint "Massenpsychologie des Faschismus";

Nach öffentlichen Protesten muss Reich Kopenhagen verlassen, emigriert nach Malmö/Schweden;

Beginn der Entwicklung der Charakteranalyse zur Vegetotherapie (Entdeckung des Muskelpanzers);

Im Oktober nimmt Reich Kontakt zu Leo Trotzki auf;

Im November - Ausschluss aus der KPD;

Treffen und Beginn der Freundschaft mit dem Anthropologen Bronislaw Malinowski

1934 : Reich wurde (ohne seine Anwesenheit) auf dem 13. Internationalen Kongress der Psychoanalytiker Ende August in Luzern aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen;

Umsiedlung nach Oslo

1935 : Beginn der Versuche zur Elektrophysiologie von Sexualität und Angst

1936 : Errichtung des Institutes für "Sexualökonomische Lebensforschung";

Beginn der Bionversuche (Energiebläschen, die Übergangsstufen von lebloser und lebender Substanz darstellen sollen);

"Die Sexualität im Kulturkampf" erschien, worin Reich Kritik an der Entwicklung der Sowjet-Union übte.

1937 : Beginn der Freundschaft mit A.S. Neill, der bei Reich eine Vegetotherapie macht; journalistische Angriffe gegen Reichs Bion-Versuche;

Reichs Krebsforschung beginnt als Zweig der Bionenforschung

1939 : Emigration nach New York; Lehrauftrag an der New School for Social Research

1940 : Entdeckung der Orgonenergie in der Atmosphäre;

Beginn der Versuche mit dem Orgon-Akkumulator;

Heirat mit seiner dritten Frau Ilse Ollendorf

1941 : Begegnung mit Albert Einstein

1942 : Das "Interantional Journal of Sex-Economy and Orgon Research" wird gegründet

1944 : Geburt seines Sohnes Peter

1946 : Reich erhält die US-Staatsbürgerschaft;

Umsiedlung von New York in ein Anwesen in der Nähe von Rangeley/ Maine

1947 : Ein diffamierender Artikel von M. Brady erscheint in "The New Republic", Beginn der Angriffe gegen Reich;

Erste Ermittlungen der Food and Drug Administration (FDA) gegen Reich wegen seinen Orgon-Akkumulatoren

1948 : Notarielle Beglaubigung eines Motors, der mittels der motorischen Kraft der Orgonenergie in Bewegung gesetzt werden kann (dieser wurde samt allen diesbezüglichen Informationen später von der FDA zerstört)

1949 : Reich gründete das Orgonomic Infant Research Center, welches sich mit pädagogischen Fragestellungen beschäftigt

1950 : ORANUR - Experiment zur Erforschung der Beziehung zwischen Orgon- und Nuklearstrahlung

1952 : Versuche mit dem "Cloud Buster", einem Gerät zur Wetterbeeinflussung

1954 : Reich bleibt der Gerichtsverhandlung fern, in der die FDA eine Anklage wegen Vertrieb von Orgon-Akkumulatoren vorbringt. Folge: Gerichtliche Verfügung, die eine Vernichtung aller Orgon-Akkumulatoren, sowie aller Bücher und Unterlagen Reichs und seiner Mitarbeiter anordnet.

1956 : Prozess gegen Reich wegen Missachtung des Gerichts (weil er 1954 der Verhandlung ferngeblieben war), Urteil: zwei Jahre Freiheitsentzug, 10 000 Dollar Geldstrafe;

Bücher, Unterlagen und sämtliche Apparaturen Reichs werden unter FDA-Aufsicht zerstört und verbrannt (zum zweiten Mal in seinem Leben)

1957 : Ablehnung von Reichs Berufung;

Einlieferung in das Bundesgefängnis von Danbury;

nach achtmonatiger Inhaftierung stirbt Reich in der Bundesstrafanstalt von Lewisbury/Pennsylvania an Herzversagen. (teilweise entnommen bzw. zusammengefasst aus: Fallend u. Nitzsche 1997 : 348 - 351, Boadella 1988, Laska 1981 : 134 f.)



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
         6.3. Die psychiatrische Orgontherapie

      7. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kritik bezüglich Reichs Arbeiten
      8. Das Leben und Werk Reichs - Eine biographische Kurzdarstellung / Zeittafel

      9. Praktische Umsetzung der Selbstregulation nach W. Reich