Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
Inhalt
               9.3.5.5. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule

      10. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule
      11. Abschluß: Resümee und die allgemeine Bedeutung des Erziehungskonzeptes ...

      12. Literaturverzeichnis



10. Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der Selbstregulation

Wenn wir als Eltern und/oder Pädagogen das Prinzip der Selbstregulation umsetzen wollen, müssen wir uns darauf einstellen, dass wir sowohl an unsere persönlichen Grenzen stoßen werden und an die Grenzen der Toleranz unseres unmittelbaren Umfeldes und der Gesellschaft. Diese Schwierigkeiten ergeben sich zum einem aus den differierenden Normen unseres gesellschaftlichen Kontextes, zum anderen aus einer oftmals disgruenten Persönlichkeitsstruktur des Erziehenden gegenüber diesem Erziehungsstils.

Die Familie ist ein Bindeglied zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, sie ist daher als System fest eingebunden und abhängig von dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Diese Abhängigkeit ist wechselseitig d.h. Familienstrukturen prägen gesellschaftliche Normen; gesellschaftliche Normen (wie z.B. Traditionen) üben Druck auf die einzelnen Familien aus.

Da nun das Prinzip der Selbstregulation andere Leitziele verfolgt und andere Wertigkeiten besitzt, als die meisten bestehenden moralischen, traditionellen oder bildungspolitischen Erziehungskonzeptionen, kann man davon ausgehen, dass Eltern, die ihre Kinder freiheitlich und selbstregulatorisch erziehen möchten mit Konformitätszwängen konfrontiert werden. Diesen gesellschaftlichen Druck sollte man nicht unterschätzen, da er eine (oftmals dauerhaft subtile) Belastung darstellt, welche sich häufig durch sämtliche Bereiche des Alltags zieht (z.B. kann eine nicht adäquate Kleidung der Kinder zu ablehnendem Verhalten gegenüber dem Kind und den Eltern im direkten Umfeld führen). Diesem Druck stand zu halten, sich langfristig nicht verunsichern zu lassen, an das Kind zu glauben und Vertrauen zu haben in dessen positive Selbstentfaltungskraft, ist eine Aufgabe, die sowohl Mut, als auch innere Stärke von den Eltern fordert.

Erschwerend kommt hinzu, dass nach wie vor die Kleinfamilie mit ihrer klassischen Rollenverteilung sowohl wirtschaftlich, als auch politisch sehr gestützt wird. Dabei läßt die Anerkennung und Wertschätzung für die Aufgaben der Erziehung der Kinder und die Arbeit zu Hause sehr zu wünschen übrig. Gleichzeitig haben viele Betreuungspersonen in der Institution der Kernfamilie wenig persönliche Ausweichmöglichkeiten, was leicht zu einer Überforderung und zu Streßsituationen führen kann. Die Leidtragenden dabei sind die Kinder, denn keine dauerhaft überforderte Erziehungsperson wird es leisten können, sich lebensbejahend und empathisch auf ihre Kinder einlassen zu können.

Kinder werden zudem nicht nur in der Familie erzogen, sondern auch zu einem großen Teil durch soziale Außenkontakte wie z.B. staatliche Bildungsinstitutionen oder Peer-groups. Diese gesellschaftlichen Normen (z.B. Leistungsorientierung) kollidieren dann leicht mit den Maximen des Elternhauses. In der Regel lernen Kinder mit diesen pluralistischen Lebens- und Denkformen umzugehen und sich ihre eigenen Weg zu suchen; jedoch ist es für die Kinder leichter, wenn Eltern nicht leistungsorientiert erziehen, da es ihnen Druck nimmt und Eltern können eher die Kraft aufbringen, die auftretenden Frustrationen und Aggressionen der Kinder und Jugendlichen abzufangen.

Die andere häufig auftretende Schwierigkeit bei der Umsetzung dieses Erziehungsprinzips nach Reich, ist die grundsätzlich mangelnde Authentizität in der aufrichtigen, demokratischen und wertschätzenden Grundhaltung gegenüber den Kindern. Es ist gar nicht so leicht, die traditionell-hierarchisch orientierten Denkmuster los zu lassen und diese durch den Glauben an die Kinder und in die Kraft der Selbstregulation zu ersetzen. Dieser Prozess wird oftmals von Unsicherheiten und ambivalenten Gefühlen des Erziehenden begleitet, zumal er auch einen Machtverlust bedeutet, der ängstigen kann, solange man noch nicht die Sicherheit des Neuen erfahren hat.

Jeder Mensch ist geprägt durch seine Erziehung und seine Lebensumstände; dementsprechend besitzt auch jeder seine eigene Realität verbunden mit dem entsprechenden Blickwinkel für Situationen und Maxime in der Erziehung. Man kann, wenn man die Authentizität als einen wichtigen Faktor in der Erziehung erachtet, nicht pauschal sagen was für den Einzelnen und die Erziehung seiner Kinder richtig oder falsch ist. Kinder spüren jedoch sehr schnell, wenn Erwachsene etwas sagen, hinter dem sie nicht stehen können bzw. wenn die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kind unaufrichtig oder unecht ist. Durch dieses disgruente Verhalten der Erziehenden werden Kinder stark verunsichert (besonders in der Sexualität wird deutlich, dass die Vermittlung von Normen und Werten primär nicht verbal, sondern emotional und durch vorleben vermittelt werden). Aus diesem Grund hat es wenig Sinn, jemand kognitiv von einem Erziehungsmodell überzeugen zu wollen, wenn dieser nicht in der Lage ist, dies mit dem dementsprechenden Gefühl authentisch leben zu können.

Das Prinzip der Selbstregulation ist folglich kein Erziehungsstil für den man sich "entscheiden" kann, sondern eine wertschätzende Grundeinstellung, welche man verinnerlichen muß, um sie vermitteln und (vor-)leben zu können.

Basis für die Umsetzung dieses Erziehungsprinzips ist die grundsätzliche Fähigkeit zur Empathie bezogen auf die Kinder und deren Lebens- und Gefühlswelt. Jedoch sind auch nicht alle Menschen dazu in der Lage sich in andere einzufühlen, was wiederum bei dieser pädagogischen Richtung zu Schwierigkeiten führen kann, da die Selbstregulation auf Empathie aufbaut.

Für Erwachsene, die durch eigene Kindheitserfahrungen stark verpanzert sind, die autoritäre, hierarchische Strukturen verinnerlicht haben, die massiv unter Ängste leiden oder sich so weit von sich selbst entfremdet haben, dass sie ihre eigenen Grenzen und die ihrer Kinder nicht mehr wahrnehmen können, kann die Umsetzung dieses Erziehungsstils problematisch werden. Die Gefahr ist sehr groß, dass Eltern oder Pädagogen ihre eigenen pathologischen Denk- und Handlungsmuster unbewußt auch auf die Kinder projizieren.

Selbstverständlich gibt es in jeder Familie bzw. Eltern-Kind-Beziehung auch Krisenzeiten. Diese Phasen gehören zum Leben dazu, haben ihren Sinn und ihre Berechtigung und müssen müssen von einem verantwortungsbewußten Beziehungssystem mit getragen werden. Eltern wie auch Kinder können nicht immer kompromißbereit, verständnisvoll, offen, tolerant, einfühlsam oder lebensbejahend sein. Ein allzu perfektionistischer Anspruch in der pädagogischen Arbeit kann unter Umständen leicht zu starren, rigiden und dogmatischen Verhaltensmustern entgleiten.

Es mag sich sehr einfach anhören, aber die konsequente Umsetzung ist in der Realität des Alltages jedoch gar nicht so leicht: als Person authentisch zu sein (was bedeutet, dass man den Kindern gegenüber ehrlich ist, seine eigenen Grenzen kennt und achtet) und seine Kinder in ihrer Individualität anzunehmen, zu achten und voll hinter ihnen zustehen.

11. Abschluß: Resümee und die allgemeine Bedeutung des Erziehungskonzeptes der Selbstregulation für die heutige Sozialarbeit

Viele der pädagogischen Forderungen von Reich und Neill sind bereits fester Bestandteil der aktuellen Sozialarbeit geworden. Vor allem in der modernen Erziehung kleinerer Kinder bewirkte und förderte der Ansatz der Selbstregulation eine grundlegende Einstellungsänderung mit bleibender Wirkung. Es wird z.B. nicht länger in Frage gestellt, dass Kinder ein Recht darauf besitzen, körperlich und seelisch unbeeinträchtigt aufzuwachsen und dass auch bereits kleine Kinder in der Lage sind, ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Diese Einstellungen setzten sich auch auf einer sehr breiten Ebene durch.

Andere Bereiche dieses Erziehungskonzeptes von Reich etablierten sich als Teilaspekte in der heutigen Sozialarbeit (z.B. die grundlegende Bedeutung des freien emotionalen Ausdrucks der Kinder oder die Bedeutung einer freien Entwicklung kindlicher Sexualität).

Und wieder andere Aspekte des selbstbestimmenden Prinzips rücken erst sehr allmählich als zukunftsweisende Alternativen in den Blick wissenschaftlicher Betrachtungen, z.B. die Bedeutung des selbstgesteuerten Lernens, konsequente Partizipation bzw. die Umsetzung demokratischer Strukturen in Kindergärten, Schulen, bei der Errichtung von Kinder- und Jugendparlamenten, etc.

Die Diskussion über das Erziehungskonzept von Reich ist noch nicht abgeschlossen. In vielen Zusammenhängen läßt sie sich erneut aufgreifen, denn die Möglichkeiten, die in diesem freiheitlichen "vom Kinde aus" orientierten, demokratischen und fortwährend revolutionären Erziehungsprinzip liegen, sind noch längst nicht hinreichend ausgelotet.

Auch die heutige Sozialarbeit steht in einer immer komplexer werdenden Welt vor neuen Herausforderungen. Sie muß lernen sich in einer postmodernen Gesellschaft u.a. mit einer veränderten Kindheit, einem pluralistischen Wertewandel und multikulturellen Lebens- und Denkformen auseinander zu setzen. Traditionell vorgegebene Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erweisen sich als zunehmend unzureichend

Vor allem in der institutionellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist der Fokus allzu oft auf deren Problematiken ausgerichtet. Diese Fixierung auf die Problematik (entwicklungsbedingte Schwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsdefizite etc.) dient oftmals nicht konstruktiven Lösungsmodellen, sondern können vielmehr zu einer Problemtrance führen. Kinder werden dann nicht mehr ganzheitlich, in ihrer gesamten Persönlichkeit wahrgenommen, sondern auf ihre Problematiken reduziert. Sowohl präventive Maßnahmen, als auch eine Ressourcenorientierung und die Achtung bzw. Wertschätzung vor der Gesamtpersönlichkeit des Kindes, läßt in der aktuellen Sozialarbeit zu oft zu wünschen übrig.

Unser demokratisches Gesellschaftssystem hat zudem nur dann eine dauerhafte Zukunft, wenn wir es schaffen unseren Kindern demokratische Grundwerte auch glaubhaft zu vermitteln und sie dadurch zu selbstbewußten und mündigen Bürgern zu erziehen. Diese Aufgabe kann in den bestehenden starren Strukturen hierarchisch organisierter Institutionen und traditionellen arbeitender Einrichtungen nur unzureichend gelingen.

Vor allem staatliche Bildungseinrichtungen werden sich zukünftig umorientieren müssen, da die lineare Aufarbeitung von Wissensbeständen in Form von starren Lehr- und Bildungsplänen nicht mehr in der Lage ist, den Paradigmenwechsel in der Präsentation und Aufarbeitung von Wissensbeständen der neuen Medien nachzuvollziehen. Im Gegensatz dazu ist z.B. die Summerhill- Schule mit ihren dynamischen Strukturen wesentlich besser in der Lage, sich diesen geänderten gesellschaftlichen Anforderungen flexibel anzupassen (z.B. das Lernen als einen aktiven, themenzentrierten, lebenslangen Prozess anzusehen, der darüber hinaus von den Lernenden als sehr positiv bewertet wird). Es gibt zwar bereits viele Einflüsse von Teilaspekten des Prinzips der Selbstregulation in den unterschiedlichen bildungspolitischen Konzeptionen und Schulformen (auch die Gründungszahl der sogenannten "Freien Schulen" steigt in den letzten Jahren wieder sprunghaft an), jedoch scheuen sich Institutionen noch immer dieses Erziehungskonzept mit seinen radikalen Forderungen konsequent umzusetzen

Zur Umsetzung einer demokratischen Erziehung bedarf es gewisse Grundvoraussetzungen:

In größeren Einrichtungen wie z.B. Heimen, Internaten erscheint dies, wenn auch mit einem höherem Aufwand und Engagement verbunden, durchaus durchführbar und wünschenswert. Übertragen auf die "normale" Kleinfamilie (Eltern mit einem bis zwei Kinder) bedeutet dies, dass die Eltern demokratische Strukturen vorgeben müßten, gemeinsam mit den Kindern entscheiden müßten und gleichzeitig für die Nichtübertretung der Regeln sorgen müßten. Gerade durch diese Doppelfunktion ist jedoch die Gleichberechtigung von Eltern und Kindern eine Fiktion, die eine Übertragung von Strukturen von Kinderdemokratien auf die Familie verhindern (dies unter der oben genannten Prämisse der Selbstverantwortung und Selbstverwaltung). Es fehlt schlicht an einer demokratischen Gewaltenteilung.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Macht der Erziehenden grundsätzlich notwendig ist, sondern daß alle Normen internalisiert werden müssen, wenn diese akzeptiert werden sollen. Dies betrifft in besonderem Maße die Demokratie, die für Kinder die größtmögliche Freiheit bieten kann. Auch in Summerhill werden Normen übertreten, und dort wird dies auch geahndet (durch die Ablehnung der Übertritte durch die Mehrheit). Das vielbemühte "Grenzen setzen" wird dort praktiziert und ist fester Bestandteil des Prinzips der Selbstregulation, genauso wie auch Eltern in der Erziehung Grenzen setzen müssen (nämlich ihre eigenen wahren und die zum Schutz des Kindes vor Gefahr) - das Kind hat jedoch genauso das Recht seinen Eltern bzw. Erzieher gegenüber Grenzen zu setzen, wenn diese seine persönlichen Rechte verletzen (auch bei ungleicher realer Macht).

Mit dieser Erziehung zur Demokratiefähigkeit nehmen wir unsere Kinder als aktive, gleichrangige Mitglieder unserer Gesellschaft wahr, die ein Recht auf Partizipation haben (soweit es ihren Interessen und Wünschen entgegen kommt). Ihnen diese Mitwirkung an der Gestaltung der Gesellschaft zu verweigern, wird sich in Zukunft als Bumerang erweisen.

Aus diesem Grund besteht nicht nur die Notwendigkeit eines Umdenkprozesses und Wertewandels, sondern auch neuer Handlungsoptionen.

Mit der Vergegenwärtigung der erziehungswissenschaftlichen Fundamente Wilhelm Reichs hoffe ich in diese Richtung einen kleinen Betrag dazu leisten zu können...



Diplomarbeit von Kerstin Liekenbrock: Selbstregulation, FH Mannheim 2002
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      10. Schwierigkeiten und Schattenseiten der Schule
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      12. Literaturverzeichnis