Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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& Carroty Broon 1921

Zeichnung Neills: Kind auf einem Fahrrad mit Pedalen am Lenker und einem Propeller am Heck (aus Carroty Broon 1921)Im Alter von 38 Jahren schrieb Neill den Roman Carroty Broon, eine "fictional autobiography of my boyhood." [NEILL in: CROALL 1983a, S.171; vgl. auch S.153, 167; sowie NEILL 1972, S.213] Der Roman erzählt die Kindheit des rothaarigen Peter Brown (daher "Carroty"; Alexander Neill wurde in seiner Kindheit aufgrund seiner roten Haare auch "Sandy" genannt [vgl. NEILL 1915, S.176; vgl. auch CROALL 1983b, S.50]). Kindliche Verliebtheit, die Auseinandersetzung mit der Religion, das strenge Schulwesen und die Armut der schottischen Landbevölkerung werden geschildert. Insbesondere die Darstellung der Erfahrungen, die der kleine Peter während der Kartoffelernte macht, stimmen mit Neills früheren und späteren Schilderungen dieser "Schufterei" überein. Als Peter sich entschließt, Erfinder zu werden, experimentiert er mit Fahrrädern[vgl. NEILL 1921a, S.221 (vgl. hierzu auch CROALL 1983b, S.7)], wie Neill es im Alter von dreizehn Jahren tat [vgl. NEILL 1972, S.40f].

Zeichnung Neills aus "Carroty Broon" [S.221]

Die Wanderprediger, die vorübergehend die kleine Gemeinde Peter Browns missionieren, bis sie nach deren Abschied wieder in Sünde verfällt [vgl. NEILL 1921a, S.38ff], waren auch in Neills Heimatort [vgl. NEILL 1972, S.60f, 213].

Neill widmete das Buch, das 1921 erschien, seiner Schwester, die auch in der Figur der Bets in dem Roman abgebildet wird. Die Hauptfigur, der rothaarige ("Carroty") Peter Brown (schottisch "Broon") und sein Geschick sind ein Abbild von Neills eigener Kindheit. Aktuelle Geschehnisse, die Neills Leben bewegten, wurden in die Kindheitsschilderung zurückversetzt. So stirbt beispielsweise die Schwester, Bets und die Schilderung ihres Todes und die ihn begleitenden Umstände stimmen weitgehend mit Neills späteren Schilderungen von Clunies Tod überein [vgl. NEILL 1921a, S.141ff; vgl. auch NEILL 1972, S.142; sowie NEILL 1921b, S. 330].

In der Londoner Zeit intensivierte Neill seine Kontakte zu Homer Lane. Er war nun ein häufiger Gast in Lanes Haus und verfolgte dessen Vorträge über Psychoanalyse. "Ich wußte damals noch nichts über Psychoanalyse und hatte kaum von Freud gehört: ich hatte niemals daran gedacht, mich analysieren zu lassen, bis Lane eines Tages zu mir sagte, seiner Meinung nach sollte eigentlich jeder Lehrer eine Analyse durchmachen. Er bot mir an, mich unentgeltlich anzunehmen." [NEILL 1972, S.168] Lane, der acht Jahre älter war als Neill, verdiente damals als Analytiker in London recht gut [vgl. Wills 1964, S.202f]. Neill nahm das verlockende Angebot an und unterzog sich "private lessons", wie Lane seine analytischen Sitzungen nannte [vgl. CROALL 1983b, S.90f]. Die Traumdeutungen, die Lane bei seinen "Schülern", wie er seine Patienten zu nennen pflegte, anstellte, waren höchst willkürlich [vgl. NEILL 1972, S.169], und trotzdem nahmen seine Jünger, wie Neill sie - sich selbst einschließend - bezeichnete, Lanes Ansichten und Behauptungen für bare Münze [vgl. NEILL 1972, S.171; vgl. auch NEILL in: Anarchy 4(1964), H.39, S.144; sowie NEILL in: Lane 1928, S.11].

Neill hatte in einem Vortrag Lanes Ideen referiert und Lane fühlte sich fehlinterpretiert. So kam es, daß sich die beiden zerstritten und Neill eine Analyse bei Maurice Nicoll, einem Jungianer, aufnahm [vgl. NEILL 1972, S.171; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.97]. Die sonntagabendlichen Besuche in Lanes Haus und die gemeinsamen Mahlzeiten an den Wochenenden wurden dadurch aber nicht unterbrochen [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.97]. Schließlich kehrte er zu Lanes kostenloser Analyse [vgl. NEILL in: CROALL 1983a, S.100] zurück und begann kurze Zeit darauf - von Lane dazu aufgefordert - selbst, eine junge Lehrerin zu analysieren [vgl. NEILL 1921b, S.369; vgl. auch CROALL 1983b, S.94]. Angeregt durch die Gespräche mit Homer Lane schrieb Neill damals auch einen Artikel in "The New Age" mit dem Titel Psycho-Analysis in Industry. Der Inhalt bestand aus einem Schnelldurchgang durch die Theorien Freuds, Jungs und Adlers auf einer halben Seite und resultierte - nachdem auch der Name Nietzsche gefallen war - in einer ebenso langen Anpreisung des von Homer Lane eingeführten self-government als Lösungsformel für alle gesellschaftlichen Probleme [vgl. NEILL in: The New Age 04.12.1919, S.69].

& A Dominie in Doubt 1921

In dieser Zeit entstand A Dominie in Doubt, das Fortsetzungsbuch zu A Dominie Dismissed. Neill widmet das 1921 erschiene Buch Homer Lane: "To Homer Lane, whose first lecture convinced me that I knew nothing about education. I owe much to him, but I hasten to warn educationists that they must not hold him responsible for the views given in these pages. I never understood him fully enough to expound his wonderful educational theories." [NEILL 1921b, S.224]

Das Buch erzählt die weitere Geschichte des entlassenen Dominie in Form von Dialogen mit seinem Nachfolger, der ein konventioneller Lehrer ist. Die Ratschläge, die der Nachfolger von der Hauptfigur bekommt, muten wie eine Quintessenz aus Neills neu gesammelten Erfahrungen an der King Alfred School und den häufigen Unterhaltungen mit Lane an. So philosophiert der Dominie über Self-government [vgl. NEILL 1921b, S.254, S.278] und Koedukation [vgl. NEILL 1921b, S.290ff]. Des weiteren gibt er Ratschläge über die Lektüre von Büchern zur neuesten Psychologie. Dabei werden Autoren wie Sigmund Freud, Carl G. Jung, Alfred Adler, Sandor Ferenczi, Oskar Pfister und Maurice Nicoll genannt [vgl. NEILL 1921b, S.341f]. Im Laufe der Geschichte entschließt sich der Dominie, eine eigene Schule in London zu gründen, findet aber kein geeignetes Gebäude und fährt stattdessen nach Holland, um dort österreichische Waisenkinder für den Aufenthalt in England abzuholen.

Diese Vorgänge sind (mit Ausnahme des Vorkommens eines Schülers namens Carroty Broon [vgl. NEILL 1921b, S.307]) autobiographische Skizzen des tatsächlichen Geschehens. In der Tat suchte Neill in jener Zeit ein geeignetes Gebäude, in dem er eine eigene Schule gründen wollte. Die Mieten in Londons näherer Umgebung machten diesen Plan jedoch unausführbar [vgl. CROALL 1983b, S.97; vgl. auch NEILL 1921b, S.410, 415]. Er reiste tatsächlich nach Holland. Diese Reise hing mit seiner neuen Beschäftigung zusammen. Neill hatte sich erneut dem Journalismus zugewandt. Diesmal jedoch beschäftigte er sich als Journalist mit der neuen Erziehungsbewegung: im Frühjahr 1920 erschienen die ersten Ausgaben der Zeitschrift "Education for the New Era". Die Herausgeberin Beatrice ENSOR kam aus der theosophischen Bewegung, die bereits 1875 in New York begründet worden war [vgl. hierzu SKIDELSKY 1969, S.118f: vgl. zu B.E. auch: BOYD/RAWSON 1965, S.67ff; vgl. auch Kruip 1992, S.90], und ursprünglich galt die Zeitschrift als das Organ des englischen Zweigs dieser Bewegung, der "Theosophical Fraternity in Education", deren Sprecherin Beatrice ENSOR war [vgl. CROALL 1983b, S.101; vgl. auch SELLECK 1972, S.34, 45].

Beatrice ENSOR forderte Neill im Frühjahr 1920 auf, als Mitherausgeber der New Era mit ihr zusammenzuarbeiten. Neill, der den Posten an der King Alfred School aufgegeben hatte, nahm das Angebot an, und bereits in der dritten Ausgabe der Zeitschrift im Juli 1920 schrieb er das Editorial [vgl. hierzu auch: SKIDELSKY 1969, S.129f]. Beatrice ENSOR fügte diesem Vorwort lediglich einige erklärende Worte hinzu: "Owing to the fact that I have had much to do in my capacity of Secretary to the Children's Famine Area Comitee the editing of this number has been left entirely to my co-editor Mr. A. S. Neill. As his interest is in the psychological side of education the main portion of this issue is devoted to the new psychology." [ENSOR in: New Era 1(1920), S.67] Tatsächlich befindet sich nur ein einziger Artikel über Psychoanalyse in dem Heft. Weitere Artikel beschäftigen sich mit Schulbesuchen, und ein Schultheaterstück, das Neill für die Schülerinnen und Schüler der King Alfred School geschrieben hatte, ist abgedruckt.

Die Schilderungen von Schulbesuchen enthalten einen Bericht Neills über seinen Besuch holländischer Schulen. Beatrice ENSOR hatte hatte für das Children's Famine Area Comitee daran mitgewirkt, daß 458 österreichische Kinder in England Unterkunft fanden. Die Kinder wurden nun von ihr in Rotterdam abgeholt und Neill nahm an dieser Mission teil [vgl. NEILL in: New Era 1(1920), S.67]. Neill, der nie vorher eine Auslandsreise unternommen hatte, war bereits einige Tage vorher nach Holland gefahren, um dort Ausschau nach einer Institution zu halten, in deren Rahmen er seine Schulutopie verwirklichen konnte [vgl. NEILL in: New Era 1(1920), S.74; vgl. auch NEILL in: CROALL 1983a, S.58]. Er besuchte die unterschiedlichsten pädagogischen Einrichtungen in Orten wie Rotterdam, Den Haag, Amersfoort, Laren, Amsterdam und Leiden [vgl. NEILL 1921b, S.417ff; vgl. auch CROALL 1983b, S.113f; NEILL 1972, S.144f] und resümierte schließlich enttäuscht: "Hier gab es keine neuen Dinge in der Erziehung: alles, was ich sehen konnte, war die Wissenseintrichterung, die wir an unseren englischen Internatsschulen Erziehung nennen." [NEILL in: New Era 1(1920), S.73]

Die achte Ausgabe der "New Era", das Herbstheft 1921, wurde ausschließlich von Neill betreut und behandelte das Thema der Selbstregierung. "It may serve a useful purpose if occasionally a whole issue of the magazine is devoted to some particular phase of the new ideals in education. Thus this number deals with Self-Government in Schools" [ENSOR in: New Era 2(1921), S.156], schrieb Beatrice ENSOR im Vorwort dieser Ausgabe. In dem Heft waren diverse Artikel zum Thema self-government abgedruckt, die nicht immer mit Neills Sicht der Dinge übereinstimmten. Dies machte er bereits in seinem Vorwort deutlich: "Most of our contributors to this issue have declared against a sudden introduction of self-government. I disagree. I am all for the dramatic moment, the abreaction of the repressed emotions." [NEILL in: New Era 2(1921), S.157] Im Anschluß hieran schildert er seine eigenen Erfolge, aber auch die Mißerfolge bei der Einführung von self-government an Schulen, die er zu diesem Zweck besucht hatte [vgl. hierzu auch à S.25].

Überall in Europa entstanden damals Reformschulen, die ihren Ursprung in der Kritik an den veralteten Erziehungsidealen des etablierten Bildungswesens hatten. Überwiegend handelte es sich hierbei um private Internatsschulen oder Schulen in sozialen Brennpunkten der Städte. In das staatliche Bildungssystem drangen die Reformbestrebungen nicht oder nur sehr allmählich ein. Merkmale dieser neuen Schulen waren beispielsweise die Einführung von Koedukation, Loslösung von festen Stunden- und Fachschemata, Auflösung von Klassen- und Jahrgangsverbänden, Ersetzen von Lehrbüchern durch teilweise selbst erstellte Nachschlagewerke, Schuldruckereien, Schulgärten, ... - also die experimentelle Erprobung unterschiedlichster neuer pädagogischer und auch psychologischer Erkenntnisse. Nur wenige der Schulreformer entwickelten einen festen Systemrahmen für ihr Bildungskonzept. Meist experimentierten sie mit wechselnden Elementen. Wenigen von ihnen gelang es, aus diesen Experimenten heraus eine eigene Reformschulidee zu formulieren und eine anhaltende Schultradition zu begründen.

Neill besuchte die Schulen von Norman MacMunn und Caldwell Cook, die durch ihre jeweiligen Bücher "The Path to Freedom in the School" (1914) und "The Play Way" (1917) in der "progressiven" Erziehungsdiskussion Englands eine bedeutende Rolle spielten. Norman MacMunn, der bereits früh (1925) starb, leitete die Schule in Tiptree Hall, nordöstlich von London, die vor allem von Arbeiterkindern besucht wurde. Besonders imponierte Neill, daß Normann MacMunn während des Unterrichts zu rauchen pflegte. Darüber hinaus war Neill von der Arbeitsatmosphäre an der Schule begeistert. "His boys filled the room with noisy talk as they worked, and never have I seen children do more work with so much joy." [NEILL 1921b, S.363] In seinem Buch "The Path to Freedom in the School" wendet sich MacMunn gegen das klassische Erziehungsideal Rousseaus und übte Kritik an Maria Montessori, deren Methode in jenen Jahren in England starke Popularität erreichte. MacMunns erklärtes Vorbild, so schreibt er selbst, war Homer Lane und die mit ihm in die englische Erziehungsdiskussion eingebrachte neue Psychologie [vgl. MacMunn 1914, S.7f]. Später verdeutlichte Neill seine Beziehung zu MacMunn: "Dear dead Norman MacMunn and I had a great admiration for each other because at conferences we used to sneak off to the nearest pub and swap stories." [NEILL in: New Era 13(1932), S.297] Caldwell Cook, der ebenso wie Norman MacMunn Mitglied der "New Ideals Group" war, erläuterte in seinem Buch "The Play Way" in Anlehnung an Maria Montessori, welche Bedeutung das kindliche Spiel habe. "My criticism of his book is that he uses the play way with an end in view ... learning; but to me play has no ulterior motive barring fun" [NEILL in: CROALL 1983a, S.33; vgl. auch NEILL 1953, S.73], schrieb Neill später in einem Brief über Caldwell Cook. Dies war jedoch der einzige Aspekt an Cooks Methode, den Neill kritisierte. Bei seinem Besuch an Cooks Schule, der Perse School in Cambridge, war Neill von dessen Pädagogik sehr angetan [vgl. CROALL 1983b, S.105; vgl. auch NEILL 1921b, S.331, 341].

Eine weitere Schule, die Neill besuchte, war die Prestolee Village School von E.F. O'Neill [vgl. SELLECK 1972, S.65f]. "I have seen his school and it is a pure delight. He is a great man" [NEILL in: New Era 1(1920), S.95]. O'Neill hatte den Stundenplan abgeschafft, einen Schulgarten angelegt und ermutigte die Kinder zusammenzuarbeiten [vgl. CROALL 1983b, S.103f]. Neill schrieb damals: "I don't think he has any theoretical knowledge, and I believe that anyone could trip him up over Freud or Jung, Montessori or Froebel, Dewey or Homer Lane; but the man seems to know it all by instinct or intuition." [NEILL 1921b, S.454; vgl. auch NEILL 1936, S.26]

Mit der seit der England-Reise ihrer Begründerin 1919 hochaktuellen Montessori-Pädagogik mußte Neill sich während seiner Beschäftigung bei der New Era ebenfalls auseinandersetzen. Er tat dies auf seine ganz persönliche Weise. "Not long ago I entered a Montessori school, and I spoke not one word. In five minutes the insets and long stairs were lying neglected in the middle of the floor, and the kiddies were scrambling over me. I felt very guilty for I feared that if Montessori herself were to walk in she would be indignant. I cannot explain why I affect kiddies in this way." [NEILL 1921b, S.249; vgl. hierzu auch: NEILL 1967, S.74] Neills Einstellung zu Maria Montessoris Erziehungsmodell war geprägt von einer eher gefühlsmäßigen Ablehnung: "No, the Montessori world is too scientific for me; is too orderly, too didactic. The name 'didactic apparatus' frightens me." [NEILL zitiert in: CROALL 1983b, S.105; vgl. auch NEILL 1921b, S.361ff; sowie NEILL 1939, S.123; und NEILL 1967, S.131] Eine gewisse Bewunderung für das System konnte diese Ablehnung nicht überwinden helfen: "The Montessori system, wonderful as it is, is an artificial way of making the child learn by doing. It has nothing creative about it." [NEILL 1926, S.103]

Bei weiteren Schulbesuchen erzielte Neill ähnliche "Erfolge" wie bei seiner Visite in der Montessori-Schule. So wurde an der Wychwood-School in Oxford anläßlich eines Wochenendbesuchs Neills innerhalb einer halben Stunde ein self-government eingeführt, das durchaus Bestand hatte [vgl. CROALL 1983b, S.107; vgl. auch HEMMINGS 1972, S.36; sowie NEILL in: New Era 2(1921), S.157]. Diese Begebenheit wurde zum Anlaß genommen, Neill zu einer weiteren Schule, der St Christopher's School in Letchwood Garden City, einzuladen, damit er auch hier dasselbe tun sollte [vgl. CROALL 1983b, S.107f; vgl. auch NEILL in: New Era 2(1921), S.158]. Die Einrichtung von self-government durch einen angereisten "Missionar" entsprach eigentlich nicht der Grundauffassung Neills. Beatrice ENSOR hatte in dem Themenheft der "New Era" dazu folgendes geschrieben: "Any scheme for self-government must come as a demand from the children themselves and not be imposed upon them by authority." [ENSOR in: New Era 2(1921), S.155] Neill widersprach ihr nicht, war jedoch gleichzeitig - wie schon angeführt wurde - von der Notwendigkeit einer schockartigen Einführung des self-governments überzeugt [vgl. NEILL in: New Era 2(1921), S.157].

Während der Zeit seiner Beschäftigung bei der "New Era" unternahm Neill auch Vortragsreisen innerhalb Englands und Schottlands. Dabei hielt er sich in London, Edinburgh und Dundee sowie in seiner Heimatstadt Forfar auf [vgl. HEMMINGS 1972, S.36]. Themen dieser Vorträge waren Mechanismen des Denkens, Psychoanalyse, das Unterbewußte des Kindes, die Psychologie des Prügelpädagogen, Self-government und Massenpsychologie [vgl. CROALL 1983b, S.106].

Im Sommer 1921 veranstaltete die "New Era" eine Konferenz in Calais. An dieser Konferenz nahmen mehr als hundert Pädagoginnen und Pädagogen aus vierzehn Ländern teil[vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.70], und Neill hielt einen Vortrag mit dem Titel The Abolition of Authority. Eingeleitet wurde der Vortrag, wie so viele Vorträge Neills, mit einer erheiternden Anekdote: "I define authority as the force outside a personality that thwarts the libido of that personality. But then I should define libido, and I don't know if I can. Libido is the life force, the life force that expresses itself as interest. At the present moment part of my libido is directed to the task of making you interested. Last night my libido went into fox-trotting with Miss King down at the Casino. Now you know what libido is." [NEILL Vortragsmanuskript 30.07.-12.08.1921, S.63] Im Verlauf seines Vortrags wies Neill auf die Gefahren des moralisierenden Umgangs mit Kindern hin und schloß mit der Erkenntnis, daß die Kindergruppe ihre Regeln selber aufstellen könne [vgl. NEILL Vortragsmanuskript 30.07.-12.08.1921, S.66; vgl. auch CROALL 1983b, S.114; sowie HEMMINGS 1972, S.37; und BOYD/RAWSON 1965, S.72]. Unvorbereitete Reden hielt Neill außerordentlich ungern[vgl. NEILL 1972, S.220, 339; vgl. auch NEILL 1921b, S.270f], hatte er jedoch seine Notizen bei sich, benutzte er sie nicht. "Ich hatte ein unheimliches Gefühl für das Publikum bei Vorträgen; wenn ich auf das Podium stieg, wußte ich, ob ich bei den Zuhörern Zustimmung finden würde oder nicht. [...] Einer meiner Tricks war, eine lustige Geschichte zu erzählen, sobald die Leute gelangweilte Gesichter machten oder mit Papier raschelten." [NEILL 1972, S.220f]

Die Calais-Konferenz führte zur Gründung der "New Education Fellowship" [vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.72f]. Diese Organisation faßte die internationalen progressiven Erziehungsexperimente zusammen und bildete bald nationale Sektionen, so daß sie sich zu einer Lobby der internationalen Reformpädagogik entwickelte. Die deutsche Sektion dieser Organisation - der "Weltbund für die Erneuerung der Erziehung" - wurde erst 1929 auf der Konferenz in Helsingör gebildet. Seine erste Leiterin war die Schweizerin Elisabeth Rotten. Sie war als einzige deutschsprachige Vertreterin bereits in Calais anwesend, weil Frankreich drei Jahre nach Ende des ersten Weltkriegs Deutschen nach wie vor die Einreise untersagte [vgl. BOYD/RAWSON 1965, S.70]. Auch wenn Neill viel später das Gegenteil behauptete [vgl. NEILL 1972, S.196], so war er seinen Angaben von 1932 zufolge nie Mitglied der New Education Fellowship "because I could not see it going the way I wanted to go." [NEILL in: New Era 13(1932), S.296; vgl. auch CROALL 1983b, S.164; sowie NEILL in: Id-Magazine Okt./1960, H.3, S.4]

Im August 1921 reiste Neill, von der "New Education Fellowship Conference" in Calais kommend, über Brüssel nach Salzburg, wo er an einer weiteren Konferenz teilnahm. Bei dieser Konferenz - organisiert von Beatrice ENSORs "Women's International League for Peace and Freedom" - ging es um Psychologie, Erziehung und Politik [vgl. NEILL in: New Era 2(1921), S.156]. Neill hielt einen Vortrag über Erziehung, dessen Inhalt nicht überliefert ist, nahm an den übrigen Veranstaltungen aber nicht teil, da die Referate überwiegend auf deutsch oder französisch gehalten wurden. Er sah sich stattdessen die Stadt an. Er schreibt darüber wie folgt: "Here every one is Bavarian in costume, and I feel conspicuous in my English clothes. To-day I bought a pair of Bavarian braces - with a green band across the chest - and a velour hat with a wonderful bunch of feathers on it, a glorious velour, grey and soft as silk. I walked forth this afternoon dressed to kill - Bavarian braces, hat feather; London coat and vest; Glasgow boots and Edinburgh leggins." [NEILL 1923, S.17]

Bereits während dieser Reise erkannte er, daß sein englisches Geld auf dem Kontinent einen ungeahnt hohen Wert hatte [vgl. NEILL 1923, S.14]. In seiner Autobiographie gab er zu: "Ich nehme an, daß die Valuta mich blasiert machte, denn ich lebte wie ein Millionär." [NEILL 1972, S.146]



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