Illustration aus: MATTHIAS, WILLIAM: A Memorable Day at Summerhill, in: Teacher Sept.1980, S.56
Aus dieser Unschärfe heraus war es erforderlich, bei der Beschreibung und Bewertung wissenschaftlicher Aufsätze auch qualitative Kriterien anzulegen. Für die folgenden Ausführungen wurden die Aufsätze und Beiträge besonders berücksichtigt, die eine einigermaßen klare Fragestellung verfolgen und zur Absicht haben, einen bisher wenig oder gar nicht behandelten Aspekt in der Pädagogik Alexander Neills zu analysieren. Andere Aufsätze, die eher allgemeine Beschreibungen Summerhills oder des Werdegangs Neills vermitteln, sollen im folgenden nur kurz oder gar nicht abgehandelt werden.[82]
In England wurde Neill erst 1969 wahrgenommen, als seine Schule in einer Aufstellung über "English Progessive Schools" gleichberechtigt neben Cecil REDDIES Abbotsholme und Kurt HAHNS Gordonstoun beschreiben wurde. Der Autor, Robert SKIDELSKY - später geadelt und Mitglied des House of Lords in London - widmete den drei Schulen und ihren Gründern jeweils ca. 40 Seiten lange Abschnitte in seinem Buch und holte weit aus. So wurde Neills Kindheit und calvinistische Erziehung beschreiben und die Einflüsse Wilhelm Reichs hervorgehoben. SKIDELSKY griff bei dieser Darstellung auf Neills damals noch unveröffentlichte Autobiographie zurück [vgl. SKIDELSKY 1969, S.9].
In einer ähnlichen Veröffentlichung von 1970, "The Origins and Growth of Modern Education" ist der Autor deutlich zurückhaltender als NASH und SKIDELSKY. LAWRENCE leitet die moderne Erziehung aus der griechischen und römischen Antike ab und führt die wichtigsten Erzieherpersönlichkeiten bis Maria MONTESSORI auf. Neills Name fällt erst in einer vorsichtigen Zusammenfassung über die Entwicklung im Zwanzigsten Jahrhundert [LAWRENCE 1970, S.346ff; vgl. auch BARROW 1978]. Ähnliche Bücher entstanden in dieser Zeit z.B. unter dem Titel "Radical School Reform" [ GROSS/GROSS 1971] oder "Progressives and Radicals in English Education" [Stewart 1972] sowie "Progressive Education: An Introduction" [LAWSON/PETERSEN 1972] und "Free the Children. Radical Reform and the Free School Movement" [GRAUBARD 1974]. Stets wurden Neill und Summerhill als Musterbeispiele kompromißloser Radikalität angeführt oder es werden Einzelaspekte aus Neills Erziehungsphilosophie herausgegriffen und als Impuls für die Weiterentwicklung der Schulrealität vorgestellt [vgl. z.B. Spring 1975].
In einem Buch mit dem Titel "Learning from our Mistakes" beschreibt der amerikanische Autor Henry J. uppercase'>PERKINSON Summerhill 1984 rückblickend deshalb als Fehlentwicklung, weil akademisches Lernen von Neill nicht gefördert worden sei. Für die Staatsschule könne Summerhill kein Modell sein, aber jede Lehrkraft könnte unter dem Einfluß Neills ihr Klassenzimmer freier, verantwortlicher und anregender gestalten, als es bisher der Fall gewesen sei [PERKINSON 1984, S.141].
In einer Phase konservativer Rückbesinnung übte Diane RAVITCH 1986 in ihrem viel beachteten Buch "The Schools we Deserve" heftige Kritik an der anfänglichen amerikanischen Begeisterung für Neill und seine Erziehungsidee. Er habe die Botschaft der Freiheit und der ungezwungenen Sexualität verbreitet und Autoren wie Paul GOODMAN, Edgar Z. FRIEDENBERG, John HOLT, Jonathan KOZOL, George DENNISON, Herbert KOHL, Ivan ILLICH und James HERNDON hätten sie bereitwillig aufgegriffen. Die Folgen seien "anti-intellectualism, lack of respect for authority, and contempt for the work ethic" gewesen [RAVITCH 1985, S.84f].
Eher historische Interessen verfolgte der australische Autor R.J.W. SELLEK, als er 1972 sein Werk über "English Primary Education and the Progressives, 1914-1939" veröffentlichte. In ihm weist er Neill einen enormen Einfluß auf die englische Erziehungsbewegung seit den zwanziger Jahren zu.
In Deutschland beschäftigte man sich erst sein Anfang der 70er Jahre in Folge des Erfolgs von "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" intensiv mit Neill. Kleinere Veröffentlichungen wie "Experiment Erziehung. Antiautoritäre Erziehung - was nun?" beschrieben Summerhill in Zusammenhang mit den Kinderläden und "Freien privaten Grundschulen", die in Deutschland entstanden waren [vgl. BÖNNIGHAUSEN/DREISBACH-OLSEN 1973]. Besonders der Begriff "antiautoritär" wurde in diesen Jahren heftig diskutiert und vielfach wurde Neills Schulkonzept als Musterbeispiel für diese Bewegung dargestellt und aber auch vernichtend kritisiert [vgl PAFFRATH 1972; ENGELMAYER (Hg.) 1973; BÖNNIGHAUSEN/DREISBACH 1973[83] und SIELSKI 1977]. Lutz VAN DICK korrigierte dieses Bild etwas, als er 1979 sein Buch "Alternativschulen. Informationen, Probleme, Erfahrungen" veröffentlichte und Summerhill als ein Beispiel unter mehreren auflistete [VAN DICK 1979]. KNAUER u.a. heben in einer ähnlichen Zusammenstellung hervor, daß Kinder in Summerhill keine gesellschaftlichen Realitätserfahrung machen könnten: "Damit stellt Summerhill u.E. keine Alternative zum öffentlichen Schulsystem dar, denn Summerhill steht außerhalb der Gesellschaft und befähigt die Kinder nicht dazu, sich aktiv mit den gesellschaftlichen Lebensformen auseinanderzusetzen" [KNAUER u.a. (Hg.) 1982, S.116].
Erich WEBER legte ein grundlegendes Werk über "Autorität im Wandel" vor, in dem Neills Idee ebenfalls als Beispiel antiautoritärer Erziehung "liberaler Prägung" den Radikalsozialisten gegenübergestellt wurde [WEBER 1974]. Ähnliches schrieb Regine MASTHOFF in ihrem Buch "Antiautoritäre Erziehung", das erst 1981 erschien. Sie berichtigt einleitend das Mißverständnis, das Neill fortdauernd mit dem Begriff "antiautoritär" in Verbindung bringt und analysiert ihn anschließend trotzdem unter der Fragestellung, inwieweit sein Konzept ein antiautoritäres sei. Sie schließt: "Neill bleibt bei der bloßen Destruktion von Autorität, im Gegenbild etablierter Erziehung stehen. Der geräumte Platz bleibt weitgehend ein Vakuum." [MASTHOFF 1981, S.66]
Rainer WINKEL proklamierte 1974 bereits "Das Ende der Schule" und stellte Summerhill als "Alternativprogramm im Spätkapitalismus" vor [WINKEL 1974] und in einem von Gerd KADELBACH herausgegebenern Band über "Bildungsfragen der Gegenwart" schrieb Ralf VOSS einen Artikel über "Neill und die Folgen", in dem er hervorhebt, daß die Selbstbestimmung der Kinder, die Neill zum Thema gemacht habe, auch und gerade in der deutschen Kinderladenbewegung junge Menschen hervorbrächte, die Konflikte ohne die Hilfe von Erwachsenen in der Gruppe zu lösen gelernt hätten [VOSS, in: KADELBACH (Hg.) 1974].
In seinem Grundlagenwerk "Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa" beschreibt Hermann RÖHRS Summerhill als "ein Exempel progressiver Erziehung" [RÖHRS 1980, S.108]. Die Idee Neills sei verbal nur bedingt zu erfassen, sie sei aus der Praxis erwachsen [ders., S.327]. In seinem Buch "Die Reformpädagogik des Auslands" ordnet RÖHRS Neills Summerhill unter "Sozialpädagogische Impulse" ein [RÖHRS 1982, S.6]. Er gibt einen Text Neills darin wieder, der sich mit Selbstverwaltung befaßt [vgl. ders. S. 317ff]. In sein Buch "Die Schulen der Reformpädagogik heute" aus dem Jahr 1986 nimmt RÖHRS Summerhill nicht mit auf, als habe die Schule ihren Betrieb längst eingestellt. Neills Schule wird nur an wenigen Stellen - u.a. als Beispiel für ein ländliches Eliteinternat - angeführt [RÖHRS 1986, S.247]. Und auch in seinem 1991 in dritter Auflage erschienen Buch "Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt" ist die Rede vom "anmutigen Rahmen", in dem Neill "den Versuch unternommen hat, überkommene erzieherische Konventionen nicht nur in Frage zu stellen, sondern auch unter dem Motto einer angstfreien Erziehung auch neue Wege zu beschreiten" [RÖHRS 31991, S.112].
Andreas FLITNER würdigt Neill 1992 als Autor eines Kultbuchs der "modernen" Erziehung [FLITNER 1992, S.200]. Diesem Kultbuch widmet auch Hermann Giesecke seine Aufmerksamkeit, der Neill als Protagonisten einer Kritik des pädagogischen Zeitgeistes für Deutschland ähnlich bedeutsam wie Horst Eberhard RICHTER oder Alice Miller einordnet. Dabei hebt er hervor, daß das Mißverständnis von Neills Erziehungsidee darin begründet sei, daß seine Ideen erst Jahre nach deren Entstehung und losgelöst von deren historischen Entstehungsbedingungen rezipiert worden sei en[Giesecke 1996, S.148].
In seiner Dissertation "Kinderrepubliken" hat Johannes-Martin KAMP 1995 Neill und Summerhill einen fast 200 Seiten langen Abschnitt gewidmet, in dem er hoch detailliert vor allem die deutsche Gründungsgeschichte der Schule schildert. Er schreibt: "Neill beeinflußte weniger die Institutionen als vor allem Personen, änderte die Vorstellungen der einzelnen Erzieher, nicht die institutionellen Strukturen. Er wirkte dabei eher auf Eltern als auf Lehrer" [KAMP 1995, S.443].
[82] Die Darstellung orientiert sich überwiegend am chronologischen Ablauf. Dieser wird aber gelegentlich zugunsten einer landesspezifischen Darstellung oder aufgrund thematischer Nähe einzelner Schriften durchbrochen. Anders als bei den weiter vorne beschriebenen Monographien setzt diese Darstellung noch zu Lebzeiten Neills ein.
[83]
Inge von Bönninghausen und Jutta
Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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