Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Fortsetzung (Hirschfeld)



Akademisches

In diesem Abschnitt soll die Präsentation von Monographien über Neill und Summerhill, wie sie parallel zur Biographie Neills bereits stattgefunden hat, erneut aufgegriffen werden. Sie werden von nun an in chronologischer Abfolge bis in die Gegenwart kurz beschrieben.

Mit einzelnen der Autoren, die Bücher oder Dissertationen über Neill und Summerhill veröffentlicht haben, konnte Kontakt aufgenommen werden. Sie waren bereit, sich einer kleinen standardisierten Befragung zu stellen, deren Ergebnisse im Anschluß präsentiert werden.

Abschließend werden Aufsätze in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften jeweils chronologisch, beginnend mit den ersten zugänglichen Aufsätzen und wo dies möglich war oder sich anbot auch nach Ländern sortiert, dargestellt und bewertet. Zwischen den jeweiligen Abschnitten wird kurz resümiert, welche Entwicklung die Behandlung des Themas in den unterschiedlichen Medien genommen hat.

Die Überschrift "Akademisches" deutet bereits an, daß es in den folgenden Veröffentlichungen vorwiegend um eine zumeist wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Neill und Summerhill geht. Daß diese Auseinandersetzung von unterschiedlichen Wissenschaftskulturen geprägt ist, verwundert bei einer international bedeutsamen Persönlichkeit wie Alexander Neill nicht. Gleichwohl erweist sich - wie zu zeigen sein wird - der Gegenstand "Neill und Summerhill" vielfach als sperrig und auf der Grundlage falscher Vorannahmen als wenig geeignet für eine akademische Behandlung. Praktische Nachahmerinnen und Nachahmer dagegen dokumentieren ihre Schulversuche vielfach nicht. Über derartige Bestrebungen liegen kaum Quellen vor, die sich unmittelbar auf Neill und Summerhill beziehen. Allenfalls die Berichterstattung über Neills Schule in der Zeit nach dessen Tod könnte in diese Kategorie eingeordnet werden.

Neben der akademischen Literatur werden auch einige erzählerische Werke behandelt, die sich Neill und Summerhill zum Thema genommen haben. Ihre Beschäftigung mit diesem Thema kreist um ähnliche und z.T. gleiche Aspekte wie die eher wissenschaftliche Auseinandersetzung. Insofern ist ihre Einordnung in diesen abschnitt der Arbeit gerechtfertigt und es erübrigt sich ein Exkurs wie der über die künstlerische Beschäftigung mit Neill.

Monografien über Summerhill und Neill nach dessen Tod

Zunächst geht es um die Bücher und wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, die nach Neills Tod über ihn und seine Schule erschienen sind. Es handelt sich dabei fast zu gleichen Teilen um Buchveröffentlichungen und umfangreichere wissenschaftliche Arbeiten, die der Öffentlichkeit nicht unmittelbar zugänglich sind. Besonders diese wissenschaftlichen Arbeiten sind als Zufallsauswahl anzusehen. Ich habe mich bemüht, so viele Arbeiten wie möglich zu Neill und Summerhill zusammenzutragen. Einige Autorinnen und Autoren wandten sich während der Entstehung ihrer Arbeit mit Fragen oder Hinweisen an mich, so daß ich sie bitten konnte, mir nach Abschluß ihrer Arbeit ein Exemplar zuzusenden. In einer späteren Phase der Recherche war mir das expandierende Internet eine große Unterstützung. Gleichwohl bleiben sicher vor allem viele Diplom- und Magisterarbeiten unberücksichtigt, die möglicherweise in ihrer Qualität und Originalität den hier vorgestellten entsprechen oder sie sogar übertreffen.

Die Veröffentlichungen werden zunächst beschrieben und in einer anschließenden Zusammenfassung wird dargestellt, welche Entwicklung die Themenschwerpunkte dieser Arbeiten genommen haben und wie in diesem Prozeß jeweils die Wirkung von Neills Erziehungsidee von den Autorinnen und Autoren eingeschätzt wurde.

& KARG 1983

Mit seiner 1983 fertiggestellten Doktorarbeit mit dem Titel "Erziehungsnormen und ihre Begründung in der Pädagogik von Alexander Sutherland Neill" legte Hans Hartmut KARG pünktlich zum 100. Jahrestag der Geburt Neills und zehn Jahre nach dessen Tod eine Analyse von expliziten und verborgenen Erziehungsnormen in der Pädagogik Neills vor.

Nach einer historischen und biographischen Einleitung, über deren Mängel bereits Martin KAMP [1995, S.307] hinlänglich viel gesagt hat, richtet KARG den Fokus auf unterschiedliche Begründungsansätze für Erziehungsnormen, denen er Neills Position gegenüber stellt. Neill sei in der Begründung der Erziehungsnormen in Summerhill "konventionalistisch" vorgegangen, indem er auf Normen verwiesen habe, die sich bereits bewährt haben. Er habe sich so zeitraubende und sich permanent wiederholende Rechtfertigungsvorgänge erspart [S.144]. KARG hebt hervor, daß so gebildeten Normen kein statisches Kostrukt darstellen, sondern in einem kommunikativen Prozeß gebildet, ergänzt und erweitert werden. "Neills Normenbegründung kann also als konventionskommunikative bezeichnet werden." [S.147] Anschließend führt KARG seinen so entwickelten konventionskommunikativen Theorieansatz weiter aus und exemplifiziert ihn am Beispiel Neills.

In einer abschließenden Bewertung des Ertrags dieser Betrachtungsweise für die Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis beschreibt KARG die Bedeutung einer Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Normenbildung und die grundsätzliche Notwendigkeit, Normen zu entwickeln, die über den Erziehungsprozeß hinaus "lebenslange Reichweite" [S.252] haben. In einfachen Worten geht es Hans Hartmut KARG darum, demokratische Strukturen in Schulen zu etablieren [S.265] und Bürokratie und Administration von ihnen fernzuhalten [S.266]. Sein Abschlußsatz lautet: "Trotz aller Schaffung von Bedingungen für die Pädagogik durch die Bildungspolitik muß es vorrangige Leistung unserer Demokratie bleiben, Innovationsschritte nicht auf einer Verwaltungsebene zu planen, sondern auf und in der Schule selbst. Dazu will Neills Normengebung ein Beispiel sein" [S.267].

KARGS Arbeit versteht sich als philosophische Abhandlung und erschließt sich philosophisch wenig vorgebildeten Leserinnen und Lesern nur schwer. Die Frage bleibt offen, ob Menschen mit mehr Fachkenntnissen einen größeren Ertrag aus dieser Arbeit ziehen können.

& SAFFANGE 1985

Jean-François SAFFANGE, der offenbar auch Neills frühere Werke im Original studiert hat, hat 1987 in Frankreich eine Doktorarbeit veröffentlicht, die mit "Libres regards sur Summerhill" betitelt ist.

Ausgehend von einer historischen und biographischen Herleitung (La vie et lŒoeuvre) stellt SAFFANGE der Kritik an der traditionellen Schule die Kritik der zeitgenössischen École nouvelle gegenüber, wie sie Neill betrieben hat. SAFFANGE zieht aus beiden Herangehensweisen ein optimistisches Resümee, das er mit "Vers l'impossibilité d'éduquer" betitelt. Hieran anschließend beschreibt er detailliert die Pädagogik Neills am Beispiel der Schule in Summerhill. Dabei gilt sein Hauptinteresse dem Self-government der Schule. Weiterhin beschäftigt er sich intensiv mit dem Menschenbild Neills, das er dem Homer Lanes gegenüberstellt. Abschließend widmet SAFFANGE ein umfangreiches Kapitel der Kritik an Neill und seinem Erziehungskonzept. Er teilt diese Kritik in eine pädagogische, eine psychologische und eine politisch motivierte Kritik auf.

Er kommt zu dem Schluß, daß es Neills Verdienst sei, die bisherige Erziehungspraxis bloßgestellt zu haben. Neill habe dazu beigetragen, daß die Natur des Kindes und der Wert der Kindheit einen höheren Stellenwert beigemessen bekämen. Seine Ideen seien in die allgemeine pädagogische Praxis eingeflossen. Dabei müsse festgestellt werden, daß Neill es versäumt habe, eine entwicklungsfähige Theorie zu formulieren. Summerhill habe zwar die Pädagogik bereichert, könne aber auf Dauer nicht ohne Neill weiterbestehen und habe - bis auf die Lewis-Wadham-School Herb Snitzers [74] - keine Nachahmer gefunden. Die anfängliche Begeisterung für Neills Erziehungsidee sei schnell abgeflaut und werde heute - da Neill überwiegend auf den Begriff "Freiheitspädagogik" reduziert werde - vielfach als Irrweg in der Pädagogik betrachtet. Neill sei als "träumerischer Theoretiker" gleichzusetzen mit pädagogischen Herausforderern wie Pestalozzi und Makarenko [S.204].

Die Arbeit von SAFFANGE nimmt einige Feststellungen späterer Arbeiten kongenial vorweg. Sie wird in ihnen nicht wieder aufgegriffen. Auch in der pädagogischen Diskussion Frankreichs scheint sie keinen nennenswerten Einfluß gehabt zu haben. Gleichwohl ist es sicher ein Verdienst, in einem Land, daß für seinen recht rigiden Erziehungsstil bekannt ist, eine Würdigung Alexander Neills zu verfassen.

* Wells 1985 (unveröffentlicht)

John Wells untersucht in seiner 1985 fertiggestellten Examensarbeit zum "Master of Education" an der Universität Edinburgh die schottischen Einflüsse auf Alexander Neill. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß es drei Hauptströme waren, die in Neills Erziehungsidee mündeten:

  1. Das Aufwachsen in seinem calvinistisch geprägten schottischen Elternhaus und die Rolle des Vaters als Schulmeister. Neill habe sich erst beim Tod der Eltern von der Dominanz dieses Elternhauses lösen können, an das er in starker Loyalität gebunden war.

  2. Neills Erziehungsidee entwickelte sich in einem Zeitraum, in dem in Schottland ein rapider industrieller Wandel stattfand, der gesteigerte Ansprüche an das Erziehungssystem stellte. In Folge dessen war das schottische Schulwesen in dieser Zeit einem Entwicklungsprozeß ausgesetzt, der sich auf vielen Ebenen bemerkbar machte und erst gegen Anfang der 80er Jahre - mit Abschaffung der Prügelstrafe [Wells 1985, S.79f] - als beendet angesehen werden kann.

  3. Als dritten Einflußfaktor sieht Wells die schottische Literatur an, der sich Neill Zeit seines Lebens stark verbunden fühlte. Anfangs faszinierten Neill die idyllischen Schilderungen Barries und später wandte er sich dem Realisten G.D.Brown zu, dessen Buch "The House With the Green Shutters" Neills Position in seiner Kindheit widerspiegelte.

Diese Aspekte betrachtet Wells in Zusammenhang mit dem Zeitgeschehen (z.B. dem Ersten Weltkrieg, der den Entwicklungsprozeß von Neills pädagogischen Ideen unterbricht) und Strukturelementen der britischen Kultur (Viktorianischer Moralismus), gegen die sich eine ganze Generation britischer Intellektueller auflehnte.

Wells kommt zu dem Schluß, daß Neill sich stets der schottischen Tradition und Kultur verpflichtet sah und sich mit ihr zeitlebens auseinandersetzte ("did Neill ever leave Scotland - mentally and culturally?" [Wells 1985, S.2]). Neill habe großen Einfluß auf die Schule im allgemeinen und die schottischen Schulen im besonderen gehabt und seine Botschaft böte fortwährend Anregungen zur Verbesserung der Schulwirklichkeit.

& Gravel 1985

Aus dem Jahr 1985 stammt ein französischsprachiger kanadischer Erziehungsroman, der die Situation eines Heranwachsenden beschreibt, dessen Vater in Summerhill erzogen worden ist und der in der Erziehung seines Sohnes, Jacques, nun die entgegengesetzten Ziele verfolgt. (Teil I des Buches:) Der Vater betätigt sich als Hauslehrer seines Sohnes und vermittelt ihm ausschließlich Faktenwissen. Dabei schreckt er nicht davor zurück, den Jungen mit Elektroschocks zu "stimulieren". Als der Junge sein Schulexamen mit Auszeichnung bestanden hat, stirbt der Vater und der Junge beginnt sich mit dem Tabu-Thema Summerhill zu beschäftigen. Teil II des Buches beschreibt das Pädagogik-Studium des Jungen an einer "freien Universität". Er beschäftigt sich mit Neills Büchern und verliebt sich in Hélène, die Tochter seines Professors. Er ist verblüfft über die mangelnde Bildung seiner Kommilitonen und deren Lebensstil und setzt für sich eine Studienverkürzung durch. (Teil III:) Anschließend nimmt er eine Stelle als Lateinlehrer in einer traditionellen Schule an. Seine Pädagogik orientiert sich am autoritären Stil seines Vaters, der - wie er inzwischen ermittelt hat - in Summerhill durch sein Bildungsinteresse aufgefallen war und als Problemkind gegolten hatte. Seine Eltern hatten ihn nach einer gewissen Zeit von der Schule genommen und eine autoritäre Konkurrenzschule gegründet. In der Schule, an der Jacques nun unterrichtet, wird sein autoritärer pädagogischer Stil nicht gebilligt und es kommt nach einem Jahr zur Kündigung. Hélène ist schwanger und er nimmt eine Stelle an einem strengen Internat an. (Teil IV:) Im vierten Teil des Buches wird schließlich geschildert, wie Jacques und Hélène ihr Kind bekommen und er sich vornimmt, an diesem Kind keine Erziehungsexperimente vorzunehmen.

Es werden im Verlauf des Buches noch weitere Einzelheiten über Neill bekannt. So z.B. Aspekte, die von Neills Biographie nicht bestätigt werden wie daß er im späteren Leben gute Schüler bevorzugt und unordentliche Kinder getadelt habe. Oder auch Begebenheiten, die tatsächlich stattgefunden haben wie z.B. Besuche in den USA, bei denen er Wilhelm Reichs Orgonakkumulator benutzt. Neill habe Jacques' Vater besuchen wollen um zu erfahren, warum dieser seine Pädagogik abgelehnt hatte, sei aber nur noch bei dessen Beerdigung erschienen.

Der Roman von François Gravel ist in weiten Teilen grob konstruiert. Die Informationen über die Erfahrungen des Vaters in Summerhill kommen erst im Verlauf des Buches zu Tage und ein Bezug zu den geschilderten aktuellen Geschehnissen um den Sohn kann nicht immer hergestellt werden. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erziehungsstilen als Thema des Romans macht ihn für die pädagogische Forschung zu einem interessanten Gegenstand. Als Beitrag zur Rezeption Neills (und auch als Bettlektüre) scheint der Roman eher ungeeignet.



Fußnoten:

[74] Saffange zitiert Herb Snitzer mehrfach als "M. Snitzer" [S.203] und listet dessen Buch über Summerhill in der Literaturliste in allen drei Ausgaben, der englischen, amerikanischen und französischen, - unabhängig voneinander auf. Mindestens zwei dieser Bücher kann er nicht gelesen haben, sonst wäre ihm die Übereinstimmung aufgefallen.



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