9.2.4. Zentrale Aspekte des Erziehungsmodells der Selbstregulationin der praktischen Umsetzung
9.2.4.1. Das Autonomiebedürfnis
9.2.4.2. Das Bewegungsbedürfnis
9.2.4.3. Sexualerziehung als integrativer Prozess des alltäglichen Lebens
9.2.4.1. Das Autonomiebedürfnis
Das erste Kindheitsjahr ist primär durch das elterliche Behüten, Schützen und Nährens gekennzeichnet. Zwischen dem 18. Lebensmonat und dem 3. Lebensjahr rückt jedoch das wachsende Autonomiebedürfnis des Kindes zusehends in den Vordergrund. Kleinkinder entdecken, dass sie mit ihrer Aktivität die Umgebung verändert können und probieren alles selbstverständlich und neugierig aus. Sie fangen an selbständig zu denken, zu fühlen und zu handeln. Ein Ausdruck dieser beginnenden Autonomie ist oftmals die sogenannte erste Trotzphase, in der Kinder sowohl sich selbst erfahren wollen, gleichzeitig aber auch die Sehnsucht in sich tragen, sich zugehörig zu fühlen. Diese innere Zerrissenheit spiegelt sich dann im kindlichen Verhalten wieder. Für die Eltern ist es oft schwer in dieser Phase das Vertrauen in ihr eigenes Handeln zu bewahren. In dieser Lebensphase hilft es vielleicht ein wenig, wenn sich junge Eltern in Gelassenheit üben und diese Phase als eine natürliche kindliche Phase akzeptieren lernen. Eltern sollten sowohl mehr Vertrauen in sich, als auch in ihre Kinder zu setzen, indem sie versuchen die positiven und gewaltigen Ressourcen zu sehen, welche in einer starken Persönlichkeitsstruktur des Kindes steckt. Es gibt viele Willensäußerungen, die ohne weiteres zugelassen werden können. Was ist z.B. so schlimm daran, wenn Max bei Sonnenschein unbedingt seine neuen Gummistiefel anziehen möchte? Und warum können wir nicht Nele allein die Treppen hoch gehen lassen, wenn sie es möchte, oder sie mal tragen, wenn sie das heute braucht? Es ist kein Drama, wenn wir ein Eis kaufen, obwohl wir das nicht vor hatten, oder das Dreirad mitnehmen, obwohl wir eigentlich zu Fuß gehen wollten. Oftmals haben Eltern dann Angst inkonsequent zu sein oder ihr Kind zu verwöhnen.
Die Erlangung von Autonomie, selbstbestimmtes Handeln und Selbstkontrolle ist ein Entwicklungsprozess, den Kinder nur durch liebevolle Unterstützung bzw. Anleitung, Wertschätzung und Achtung vor der Person meistern können. Eltern können ihre Kinder nicht vor der Realität, vor Enttäuschungen und negativen Gefühlen schützen. Auch wenn Kinder älter werden, ist es nicht sinnvoll ihnen Probleme abzunehmen bzw. ihnen sofort und ungefragt Problemlösungsmodelle anzubieten. Kinder und Jugendliche müssen lernen die Konsequenzen ihres Handelns selbstverantwortlich zu tragen.
Das Prinzip der Selbstregulation geht davon aus, dass seelisch gesunde Kinder und Jugendliche ein positives Bild von sich, von der Welt und von der Zukunft entwickeln und dementsprechend auch mit Selbstmotivation und optimistischer Selbstwirksamkeitserwartungen ausgestattet sind (auch wenn besonderst Jugendliche immer wieder ihren eigenen Lebensstil und ihre persönlichen Grenzen, z.B. in Bezug auf Rebellionen, Rauchen, Alkohol ect. immer wieder ausprobieren müssen). Damit jedoch die Kombination mehrerer Risikoverhaltensweisen nicht zu einem sehr riskanten Lebensstil entartet, sollten Kinder frühzeitig Bewältigungskompetenz erwerben, d.h. sie müssen Grenzerfahrungen und Fehler machen dürfen, damit sie lernen, dass nicht nur die Entstehung eines Risikos beeinflußbar ist, sondern auch das Ausmaß des Schadens, wenn einmal etwas schiefgegangen ist. Selbstverantwortlichkeit können Kinder und Jugendliche nur erlangen, wenn wir als Erwachsene Vertrauen in sie setzen, sie Los-lassen und ihnen die Dosis an Autonomie zugestehen, welche sie benötigen, ohne sie andererseits dadurch zu Überfordern.
Von erheblicher Bedeutung ist, dass Kinder und Jugendliche auch Vertrauen in das soziale Netzwerk haben können; sprich in Eltern die bereit stehen um zu helfen, wenn dies erforderlich werden sollte und die Sicherheit vermitteln können, dass die Kinder mit allen Schwierigkeiten und Problemen einen Ansprechpartner in ihnen haben, der ohne moralische Vorhaltungen oder persönliche Wertung Unterstützung und Halt vermittelt kann.
9.2.4.2. Das Bewegungsbedürfnis
Kinder besitzen grundsätzlich ein natürliches Bewegungsbedürfnis, welches von Kind zu Kind in seiner Intensität variiert. Dieses existentielle Bedürfnis nach Bewegung ist für Kinder so wichtig wie Essen und Schlafen. Vor allem Lebendigkeit und Lebensfreude drücken Kinder in Bewegung aus. Dies bedeutet seinen Körper zu erfahren, das Pulsieren der Energie zu spüren, die beim Laufen, Hüpfen, Tanzen etc. freigesetzt wird. Auch innere Bewegung drückt sich in äußerer Bewegung aus; das Kind erfährt sich so ganzheitlich. Ebenso stellt Bewegung eine Herausforderung dar, Kinder werden mit Hindernisse und Grenzen konfrontiert, sie können Kräfte messen und Lösungsstrategien entwickeln. Dadurch merkt das Kind wie es seiner Kraft vertrauen kann und erwirbt Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein. Wenn wir die körperliche Aktivität eines Kindes beschränken, verkleinern wir seinen Erfahrungsbereich, wir hemmen die Entwicklung seiner Intelligenz und zwingen es dazu, den natürlichen Ausdruck seiner Gefühle zu unterdrücken.
Bewegung ist Ventil für sämtliche Emotionen, explizit auch für Aggressionen. Leider werden laute und bewegungsintensive Rauf- und Tobespiele in unserer wenig kindgerechten Umwelt immer mehr verdrängt. Damit wird auch die spielerische Aggression, die zu diesen Aktivitäten gehört, kategorisch abgelehnt. Andererseits wird oftmals diskutiert, weshalb Kinder heute eine geringere Hemmschwelle haben, und scheinbar gefühllos noch dann zutreten, wenn sich der andere gar nicht mehr wehrt. Kinder bekommen jedoch erst gar nicht die Möglichkeit Aggressionen spielerisch auszuleben und somit die Chance anhand solcher Raufereien ein Gefühl für ihre persönlichen und die Grenzen der Anderen zu entwickeln. Die mit unter recht derben Raufspiele sind Aggressionsrituale, die den Kindern gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeiten zeigen, Aggressionen auszuleben.
9.2.4.3. Sexualerziehung als integrativer Prozess des alltäglichen Leben
Geht man von den Theorien Reichs aus, so kann man Sexualität mit Lebensenergie bzw. dem Leben an sich gleich setzen. Diese ganzheitliche Herangehensweise steht demnach auch in einem gewissen Widerspruch zur Didaktik der orthodoxen kognitiven Sexualaufklärung. Wenn Eltern natürlich und offen mit ihrer eigenen Sexualität umgehen, kindliche Gefühle und Neugierverhalten ernst nehmen ohne deren (und die eigene) Intimsphäre zu verletzen, wird gezielte Sexualerziehung überflüssig.
Kindliche Sexualität ist kein isolierter Lebensbereich, sondern fließt als starke Zuneigung, lustvolle Empfindungen, Nähe, schöne warme Gefühle, Haut- und Körperkontakt, Wohlbefinden oder als angenehm erlebte Körperlichkeit in alle Lebensbereiche mit ein. Diese kindliche Sexualität hat zunächst nichts mit sexueller Begierde zu tun; Kindern geht es darum Zuneigung zu spüren und zu zeigen, Gefühle hautnah zu erleben, sich selbst und andere besser kennen zu lernen und zu vertrauen, sich in seinem eigenen Körper wohl zu fühlen. Für diese Form der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung ist es besonderst wertvoll zusammen zu schmusen, zu lachen, sich zu spüren, sich zu umarmen, miteinander zu raufen, sich zu erforschen und zu verwöhnen - es geht also um lustvolle Erfahrungen mit sich selbst und mit Personen die man besonderst gerne mag und denen man besonders nahe ist.
Zärtlichkeitsmangel verursacht ein Gefühl von Leere, von zwischenmenschlicher Sterilität, läßt Panzerungen und Verhärtungen entstehen. Unsoziales Verhalten, Gewalt und/oder autoaggressives Verhaltensweisen sind oftmals die Folgen.
Zärtlichkeit bringt die lebenszugewandte Energie zum fließen und ebnet den Weg für Weichheit und Offenheit. Diese Gefühle müssen jedoch echt und authentisch sein. Das Zärtlichkeitsvolumen muß dem Kind und der Situation angemessen sein. Körperliche Abwehrreaktionen der Kinder müssen absolut ernst genommen werden. Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung; er allein muß bestimmen dürfen wann, wo und wieviel Körperkontakt von ihm gerade benötigt wird.
Die Privatsphäre der Kinder, wie auch der Eltern sollte dabei einen besonderen Schutz erfahren. Wenn Kinder z.B. gemeinsam mit einem Freund in der Badewanne baden möchten, so sollte diesem Wunsch nach Privat- und Intimsphäre genauso entsprochen werden, wie z.B. dem Bedürfnis der Eltern abends mal alleine sein zu wollen. Auch die Grenzen des anderen müssen mit besonderer Sensibilität behandelt und akzeptiert werden.
Sexualentwicklung ist, wie z.B. auch die Entwicklung des Selbstwertgefühls, ein natürlicher, stetiger, dynamischer Prozeß. Dazu braucht es Sensibilität, Zeit und Raum. Eltern sollten diese Entwicklung weder bewerten, noch versuchen zu lenken oder zu forcieren. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass Eltern die natürlichen sexuellen Empfindungen und Aktivitäten nur stillschweigend dulden sollten. Besonderst bei Mädchen ist es sinnvoll, sie in diesem Prozeß angemessen und altersentsprechend verbal zu unterstützen. Ähnlich wie die wachsenden Autonomie, das Selbstwertgefühl und die Entwicklung von Fähigkeiten verbale Unterstützung brauchen, so bedarf es auch die sexuellen Entwicklung. Jedoch sollten sich hierbei die Eltern zurückhaltender verhalten und besondere Sensibilität und Einfühlungsvermögen entwickeln (grenzüberschreitende, gezielte Fragen über das Intimleben der Kinder sind kategorisch abzulehnen).
Die Familie sollte dem Kind die Sicherheit, Freiheit und Geborgenheit geben, damit Kinder lernen ihren eigenen Gefühlen trauen zu können, Grenzen setzen zu lernen und so spielerisch ihre sexuelle Identität erfahren und entwickeln können. Die Grenzen der anderen (des Umfeldes, der Gesellschaft) haben dabei die gleiche Berechtigung wie die eigenen Grenzen. So steht es wohl ziemlich außer Frage, dass besonders jüngere Kinder sich an dem Nackt- sein sehr erfreuen können. Kollidiert jedoch dieses Bedürfnis, z.B. mit den sittlichen Moralvorstellungen z.B. der unmittelbaren Nachbarin, sollten wir diese Gefühle ebenso ernst nehmen und unseren Kindern zu verstehen geben, dass Nackt-sein nichts moralisch verwerfliches hat bzw. grundsätzlich was sehr schönes und angenehmes ist, aber dass wenn sich andere daran stören, sich Kinder in deren Gegenwart doch bitte Kleider anziehen sollten. Kinder sind auch nicht alle gleich, es gibt auch Kinder die von Natur aus scheuer und gehemmter sind. Auch deren Grenzen und Schamgefühle müssen wertfrei akzeptiert werden.
Wenn Erwachsene mit Vertrauen und Respekt vor den Gefühlen ihrer Kinder an das Thema "Sauberkeitserziehung" herantreten, werden sie wohl recht entspannt und mit Zuversicht den Zeitpunkt der willentlichen Darmentleerung ihren Kindern überlassen können und sie (und sich selbst) dadurch nicht unter Leistungsdruck setzen (im Sinne von: Kinder werden nur geliebt, wenn sie auch etwas leisten, bzw. sich selbst kontrollieren können). Manche Kinder werden mit drei Jahren sauber, manche etwas früher, andere etwas später; diese Entwicklung variiert (wie auch sämtliche anderen Entwicklungsschritte) von Kind zu Kind. Manche Kinder entwickeln sich im kognitiven Bereich schneller als im affektiven oder motorischen Bereich und bei anderen ist es vielleicht umgekehrt. Welcher Entwicklungsbereich nun in welcher Reihenfolge reift, ist sehr individuell und im Endeffekt auch für die Persönlichkeitsstruktur des Erwachsenen nicht relevant (in einem gewissen Zeitrahmen natürlich; bei einem sechsjährigen Kind, das nachts noch regelmäßig einnässt, kann dies wiederum ein Hilferuf bzw. ein Hinweis für Verhaltensauffälligkeiten bedeuten).
Fast alle Kinder spielen im Kindergartenalter mit großem Spaß Doktorspiele, miteinander schlafen und Kinderkriegen. Wenn nicht übermäßig viel Erwachseneninteresse verbucht wird, dauert diese Phase meist nicht sehr lang. Experimentierfreude, sinnlich-zärtliche Bedürfnisbefriedigung (wie der Wunsch nach Nähe und Intimität) und die natürliche Neugier sich selbst und andere zu erkunden, um Ähnlichkeiten oder Unterschiede festzustellen ist die primäre Motivation der Doktorspiele. Zudem macht es Kindern Spaß Erwachsenenrollen im Spiel zu übernehmen und der Wunsch nach Aktivität mit hohem gegenseitigen Vertrauensbonus machen diese Spiele zeitweise besonderst attraktiv. Solche kindlichen sexuellen Spiele gehören, wie auch z.B. kindliche Onanie zur Privatsphäre des Kindes. Wenn Kinder ihre Emotionen bisher frei ausleben durften, werden sie auch im Stande sein ihre persönlichen Grenzen in punkto Nähe und Distanz abzustecken, sie besitzen ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl, welches sie wiederum auch vor Missbrauch besser schützt.
Besonderst relevant wird in der Pubertät dieses Vertrauen in die eigenen Gefühle, verbunden mit der Gewissheit seine Grenzen zu kennen und vertreten zu können. Wenn Kinder und Jugendliche eigene Rechte, Ver- und Zutrauen, viel Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen und Sensibilität in Umgang mit ihren eigenen und den Gefühlen und Grenzen genossen haben, wird es ihnen leicht fallen diesen Umgang auch mit anderen und in ihren ersten Partnerschaften zu pflegen.
9.2.4. Zentrale Aspekte des Erziehungsmodells der Selbstregulationin der praktischen Umsetzung
9.2.4.1. Das Autonomiebedürfnis
9.2.4.2. Das Bewegungsbedürfnis
9.2.4.3. Sexualerziehung als integrativer Prozess des alltäglichen Lebens