Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, den Verlauf, die Inhalte und Wirkungen dieser vielfältigen publizistischen Tätigkeit zu beschreiben und zu analysieren. Dabei geht es in gleichen Maßen um Neills eigene Veröffentlichungen und um die Rezeption seiner Schriften, wie sie sich in Publikationen europäischer und amerikanischer [1] Autorinnen und Autoren abbildet [2]. Noch während seines Lebens reagierte er auf die Veröffentlichungen über ihn und seine Schule und versuchte die Diskussion zu lenken. Dieser öffentliche "Dialog" wird ebenfalls dargestellt und interpretiert.
Bemerkenswert an der Rezeption Neills ist, daß sie in weiten Teilen in Medien stattgefunden hat, die nicht üblicherweise pädagogische Themen behandeln. Neill war sich noch in hohem Alter nicht zu schade dazu, in "Talk-Shows" aufzutreten, um seine pädagogische Utopie zu präsentieren und für den Fortbestand seiner Schule zu werben. Seine Schule wurde in Illustrierten und Tageszeitungen vorgestellt und diskutiert, Rundfunkbeiträge und Fernsehfilme wurden über sie produziert.
Diese Form der Berichterstattung wird oftmals in der pädagogischen Diskussion wenig ernst genommen, weil sie als unseriös eingestuft wird. Bezogen auf Neill und Summerhill soll und darf sie jedoch nicht vernachlässigt werden, weil Neill trotz und auch wegen seiner enormen Popularität in der akademischen Welt zeitweilig wenig wahrgenommen wurde. Auch dieser Umstand und die Gründe hierfür werden in dieser Arbeit betrachtet.
Pointiert kann behauptet werden, daß Alexander Neill der letzte internationale pädagogische "Superstar" war. Seit seinem Tod (und auch lange Zeit davor) gab es keinen bedeutenden Pädagogen (und schon gar keine Pädagogin, die oder) der die öffentliche Diskussion über Erziehung in dem Maß beeinflußt hat, wie Neill es tat.
Die Analyse aller zugänglichen Publikationen über den 1883 geborenen Neill und seine 1921 gegründete Schule Summerhill ermöglicht es, die Entwicklung einer weitestgehend "pädagogischen" Diskussion über einen Zeitraum von nahezu 100 Jahren nachzuzeichnen. Die Analyse setzt ein mit den Rahmenbedingungen der Lehrerausbildung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Schottland und fährt fort mit Neills ersten Veröffentlichungen aus dem Jahr 1908. Sie reicht hin bis zu aktuellen Presseartikeln über Summerhill. Sie erfaßt darüber hinaus - gewissermaßen in die Zukunft gerichtet - ein Film- und Fernsehserienprojekt, das in Etappen 2001 und 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
In Ansätzen soll diese Arbeit diese pädagogische Diskussion auch in Beziehung zu den zeitgeschichtlichen Bedingungen, unter denen sie stattfand, darstellen. So ist Neills Pädagogik von ihren Ursprüngen her sicherlich in die Reformpädagogik (in ihrer Bedeutung als Epoche gleichermaßen wie in ihrer strukturellen Dimension) einzuordnen. So hatten seine frühen Werke ab 1915 bis in die zwanziger Jahre hinein in England bereits Bestsellerstatus. Anschließend wurde Neill vielfach mit der Psychoanalyse in Verbindung gebracht, der er zwar bereits früh viel Interesse entgegengebracht hatte, die aber seine Pädagogik eher wenig beeinflußt hat. Gleichwohl neigte Neill dazu, viele Elemente seiner Erziehungsidee mit einem psychoanalytischen Mäntelchen zu umkleiden. Später gelangte er in Zusammenhang mit der Studentenrevolte und der aus ihr erwachsenden "antiautoritären" Bewegung erneut zu hoher - diesmal internationaler - Popularität. In ihrem Zusammenhang wurde sein Erziehungskonzept lange diskutiert - er wurde vor allem in Deutschland von dieser Bewegung abgegrenzt, aber auch immer wieder an ihren Zielen gemessen. Neuerdings löst sich die pädagogische Diskussion über Alexander Neill von diesen historischen Kategorisierungen. In der gegenwärtigen Diskussion wird Neills Schulmodell in Verbindung mit neuen Lernformen, Curriculumentwicklung, Vernetzung und Demokratisierung diskutiert. Dabei kann festgestellt werden, daß zentrale Elemente des Schulkonzepts Summerhills in Zusammenhang mit aktuellen pädagogischen Herausforderungen Modellcharakter haben.
In der Betrachtung der Entwicklung der Rezeption Neills zeichnet sich ab, daß das "pädagogische Urviech" Neill [Thiersch in einem Gespräch im Nov. 2001] gewissermaßen "domestiziert" worden ist. Die einstmals bestehende Brisanz ist aus dem Schlagwort "Summerhill" herausgewichen und damit hat sich ein Spielraum für eine neuerliche Betrachtung des pädagogischen Konzepts [3] ohne ideologische Verknüpfungen mit zeitgeschichtlichen Strömungen gebildet. Dieser gedankliche Spielraum war erfordelich, um zu erkennen, daß Neills pädagogische Idee originell und eigenständig ist und daß sie Bestand in einer sich rasant ändernden Welt hat, weil sie unter Beweis gestellt hat, daß sie eher in der Lage ist, gesellschaftliche Änderungsprozesse zu integrieren und absorbieren als konventionelle Schulen.
[1] Die beachtenswerte japansiche Rezeption entzieht sich aus sprachlichen Gründen einer detaillierten Analyse. Dort wurden bereits frühzeitig Werke Neills veröffentlicht und noch heute stellen Schülerinnen und Schüler aus Japan einen großen Anteil der Kinder in Summerhill [vgl. hierzu Croall 1983b, S.397]. In einem Exkurs im Anschluß an die Literaturliste werden Angaben über die japanische und asiatische Rezeption skizziert [ab S.191].
[2] Mit "Publikationen" sind in diesem Zusammenhang nicht nur gedruckte Texte gemeint, der Begriff beinhaltet darüber hinaus auch Beiträge in anderen Medien (Rundfunk, Film und neuerdings auch Internet). Ebenso bedeutsam sind auch Adaptionen der Schriften Neills. Die im Jahr 2001 fertiggestellte Filmversion von Neills Kinderbuch "Last Man Alive" (1938) sichert Neill und seiner Schule erneute Aufmerksamkeit. Gleiches gilt für die monatelange Pressediskussion um die Schließung der Schule aus dem Jahr 1999, die mit einem spektakulären Gerichtsverfahren vor dem britischen High Court einherging, der sich in einem Urteil im April 2000 für den Fortbestand der Schule aussprach.
[3] Das Konzept bzw. die Theorie Neills wird durch die Konzentration auf die publizistische Tätigkeit Neills und seine Rezeption gewissermaßen in den Hintergrund gedrängt. Sie werden in dem Maße in dieser Arbeit dargestellt, wie dies zum Verständnis der beschriebenen Publikationen notwendig ist.