Diss: Axel Kühn: Alexander Neill
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Fortsetzung (Zusammenfasung und Fazit)



& KAMP 1997

Bereits in seine 1995 erschiene Dissertation über Kinderrepubliken hat Johannes-Martin KAMP einen umfangreichen und - vor allem für Neills Zeit in Deutschland - detailreichen Bericht über den Pädagogen und dessen Erziehungskonzept eingefügt. Dieser Abschnitt der Dissertation würde - für sich genommen - bereits eine eigene Monographie ausmachen. Wohl auch deshalb hat Martin KAMP, das Material seiner Dissertation weiterentwickelnd, 1997 eine Kurseinheit über Alexander Neill für die Fernuniversität Hagen verfaßt. Themenschwerpunkte dieser Kurseinheit sind nach einer detaillierten Beschreibung der historischen Voraussetzungen und Genese von Neills Erziehungsidee eine Aufzählung ihrer Hauptmerkmale mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Konzept der Selbstregierung. Weiterhin behandelt er als Hauptmerkmale u.a. folgende Aspekte: Vernachlässigung von Unterrichtstechniken, die Bedeutung von Therapie und Psychologie, Kunst und Kreativität in Summerhill, Neills Einstellung gegenüber kindlicher Sexualität und seine politische Haltung.

Martin KAMP gelingt eine Klärung vieler Mißinterpretationen Neills, indem er schreibt: "Man könnte die Neill'sche Pädagogik im Gegensatz zur landläufigen Pädagogik mit gutem Grund antipädagogisch nennen und als antipädagogische Pädagogik unter die anderen unbeholfenen paradoxen Begriffe einreihen: unbürokratische Bürokratie, antipsychiatrische Psychiatrie, entschulte Schule. [...] Der Begriff Antipädagogik konstituiert keine wirklich neue Disziplin, sondern eher ein alternatives Teilgebiet der Pädagogik!" [S. 94f] KAMP führt aus, daß Neill keine Erziehungstheorie vorgelegt hat, sondern daß er statt dessen ein umfassendes anthropologisches Funktionsmodell vom Menschen propagiert habe, das verbunden mit seiner Erziehungspraxis Rückschlüsse auf eine pädagogische Theorie ermögliche [ebd.].

Ein abschließendes Kapitel betitelt Martin KAMP mit "Die magische Wirkung der genialen Erzieherpersönlichkeit". Darin zeichnet er Neills überragendes Vermögen, sich in andere Menschen, vor allem aber Kinder, hineinzudenken und dabei Mechanismen zu erkennen und freizulegen, die anderen Menschen nicht ohne weiteres zugänglich sind, nach. Er widerlegt die Behauptung, Neills Erziehungsidee sei von seiner Persönlichkeit geprägt und die Schule könne nach seinem Tod nicht weiter bestehen.

&>LUDWIG 1997

Peter LUDWIG, Privatdozent an der Universität Augsburg, hat 1997 eine Aufsatzsammlung unter dem Titel "Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute" herausgegeben. Im Untertitel stellt er die Frage: "Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert?" Er verwendet - wie damit deutlich wird - die Begriffe "antiautoritär", "frei" und später auch "libertär" weitestgehend synonym.

Im Beitrag von Ulrich KLEMM wird versucht, wichtige Strukturelemente der Erziehungsidee Neills zusammenzufassen und ihre Diskussion in pädagogischen Kreisen zu beschreiben. Die Summerhill-Mitarbeiter David STEPHENS und Matthew APPLETON schildern ihre Erfahrungen an der Schule. Weitere Autorinnen und Autoren beschreiben Schulen, die sich in Anlehnung an das Vorbild Summerhill entwickelt haben bzw. berichten von Erziehungsexperimenten, die in Zusammenhang mit Neills Ideen standen.

In seinem eigenen sehr umfangreichen Aufsatz geht Peter LUDWIG der Frage nach, wann und unter welchen Umständen von einem Scheitern eines Erziehungsstils geredet werden kann. Er kommt zu dem Schluß, daß es Ausdruck einer verkürzten Betrachtungsweise sei, wenn von einem Scheitern von Neills Erziehungsidee geredet werde. Tatsächlich habe die Diskussion um Neill und Summerhill auf vielen Ebenen Einfluß gehabt, so daß quasi unmerklich Summerhill in die aktuelle Erziehungspraxis diffundiert sei. Peter LUDWIG zeigt es als den Verdienst der durch Neill angeregten Diskussion auf, daß konservative Erziehungsstile nicht länger unhinterfragt akzeptiert werden, während der Beitrag autonomiefördernder Erziehungsstile zur Demokratieentwicklung mittlerweile unbestreitbar ist.

* BOSSELMANN 1999 (unveröffentlicht)

Stefanie BOSSELMANN versucht mit ihrer Examensarbeit zur Prüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen eine grundlegende Bestandsaufnahme der Summerhill-Diskussion vorzulegen. Dabei hält sie sich in der ersten Hälfte ihres Berichts mit einem biographischen Bericht über Neill und der Schulentstehung und -struktur auf. Anschließend geht sie auf unterschiedliche Film- und Medienberichte aus den beginnenden 90er Jahren und die Selbstdarstellung der Schule und des Friends-of-Summerhill-Trusts in dieser Zeit ein. Weiterhin berichtet sie über die Schulinspektionen und erst dann kommt sie zur pädagogischen Bedeutung Summerhills. Dieser dem Untertitel der Arbeit zuzuordnende Themenschwerpunkt wird von ihr folgendermaßen bilanziert: "Es ist schwierig, Neills Philosophie auf das staatliche Bildungswesen zu übertragen. Sein wirklicher Einfluß auf das staatliche Schulsystem ist schwer überprüfbar und es bedarf weiterer Nachforschungen. [...] Seine Idee oder Teile daraus sind sehr schwer in die Praxis übertragbar [...]. Somit ist Summerhill ein Einzelfall in der Geschichte der Schulbildung und wird dieses vermutlich auch immer bleiben." [S.67]

Die Arbeit von Stefanie BOSSELMANN beschränkt sich auf die unmittelbare Medienberichterstattung über die Schule und greift nur randständig die pädagogische Diskussion um die Bedeutung Neills und Summerhills auf. Ihr desillusionierendes Urteil über die Bedeutung Summerhills für die Schulpädagogik mag nicht unbegründet sein. Die Quellen, die sie verwendet, lassen jedoch ihre abschließende Bewertung wenig plausibel erscheinen.

&APPLETON 2000

Der ehemalige Summerhill-Hausvater Matthew Appleton hat seine Erfahrungen in Summerhill in einem umfassenden Bericht dokumentiert, der bislang nur auf deutsch erschienen ist. Das englischsprachige Manuskript dazu liegt bereits seit 1995 vor.

Das Buch beschreibt die Schule in ihrem gegenwärtigen Zustand, ohne in nennenswertem Ausmaß auf die lange Geschichte der Schule und die Biographie ihres Gründers einzugehen. Die Themenschwerpunkte in APPLETONS Bericht sind die Beziehungen der unterschiedlichen Personengruppen an der Schule untereinander, die demokratische Organisation, die Freiwilligkeit des Unterrichtsbesuchs und ihre Folgen sowie der Gebrauch von Schimpfwörtern und der Umgang mit Sexualität.

APPLETONS anekdotenreicher Schreibstil erinnert stark an die Bücher Neills und es fällt schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, daß er parallel zum Schreibprozeß eifrig in Neills Werken blättert, um Anregungen für seine Ausführungen zu finden. Sicher beschreiben beide Autoren die gleiche Schule, die nach nahezu gleichen Grundsätzen arbeitet. Thematisch unterscheiden sich die Ausführungen schon aus diesem Grund nicht. APPLETON gesteht auch einleitend ein, daß er sich in seinem Bericht notgedrungen wenig von Neill unterscheide. Unterschiede werden schließlich an den zeitbezogenen Beispielen aus dem Umfeld der Schule oder der aktuellen Organisation des Schullebens deutlich. So beschreibt APPLETON z.B. die Integration japanischer Kinder, die erst seit Anfang der neunziger Jahre in größerer Anzahl an die Schule kommen.

Das Buch von Matthew APPLETON ist eine leicht lesbare Dokumentation der gegenwärtigen Situation Summerhills. Die pädagogische Idee der Schule wird ohne den Ballast akademischer Quellenangaben und ohne ausgeprägte Heldenverehrung gegenüber Alexander Neill präsentiert.

&SIMS 2000

Der Roman von Hylda SIMS, der im November 2000 veröffentlicht wurde, beschreibt eine Schule namens Coralford, die durch Inspektionen der Schulbehörde von der Schließung bedroht ist. Hylda SIMS war in den 50er Jahren Schülerin in Summerhill und verhehlt nicht, daß sie sich bei der Beschreibung der Schule und auch des Schulleiters, Mr. Muir, an Summerhill und Neill orientiert hat. Erstaunlicherweise nimmt sie in der Handlung des Buches die tatsächlich Ende 2000 kulminierenden Schulschließungsdrohungen vorweg. Hylda SIMS kommentiert dies so: "It really was fact overtaking fiction. Itıs extremely strange" [SIMS zitiert in CHAMBERS 2000]. Sie wolle mit ihrem Buch - ähnlich wie Neill - unter Beweis stellen, daß Kinder, die sich ihre Regeln selbst geben, - anders als in Goldings "Lord of the Flies" - durchaus in der Lage sind, harmonisch zusammenzuleben. Dieses Anliegen verpackt sie in die Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einem Schulinspektor und einer ehemaligen Schülerin der Schule, die an der beabsichtigten Schließung zu zerbrechen droht.

Das Buch vermittelt eine Atmosphäre Summerhills, wie sie in den Schriften Neills bereits deutlich wurde. Damit legt sich die Folgerung nahe, daß Neill seine Schule nicht weit von ihrer beschreibbaren Realität geschildert hat. Auch die Beschreibung der Personen vermittelt einen sehr authentischen Eindruck, etwa wenn Hylda SIMS einen Dialog zwischen Muir und der ehemaligen Schülerin entwickelt. Dieser enthält folgende Replik: "Muir!" Charlotte grinned self-consciously. "Youıre such a sexist - such a naive and old-fashioned guy underneath." [S.86] Mit dieser wenig vorteilhaften, aber in ihrem Kontext wohlwollenden Einschätzung des nahezu 100jährigen Schulleiters Muir beschreibt SIMS den alten Neill, dessen revolutionären Ansichten in bezug auf Kindererziehung und deren radikale Verfechtung paradoxerweise ein recht konservatives Weltbild zugrunde lag.

Die zunehmend dramatische Handlung des Buches kulminiert in der Feier des 100. Geburtstags Muirs, bei der ein "peeping Tom", ein pädophiler Fotograf, der durch seine Aufnahmen die Schulschließungsdiskussion ausgelöst hatte, ums Leben kommt. Der in seiner Dramatik etwas übersteigerte Schluß kann als Schwäche dieses Liebes-, Erziehungs- und Kriminalromans eingeschätzt werden, der in seiner Gesamtheit eine außerordentlich spannende und anschauliche Schilderung der pädagogischen Realität einer Schule wie Summerhill bietet.



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