Die vermeintliche Insel Summerhill ist im Gegensatz zu den bürokratisch reglementierten Großsystemen des staatlichen Bildungswesens weit besser in der Lage, sich diesen geänderten gesellschaftlichen Anforderungen flexibel anzupassen und - unter Beibehaltung ihrer Grundmaximen, ja nur unter deren Voraussetzung - junge Menschen zu befähigen, sich den Anforderungen der naturwissenschaftlichen, technischen und auch sozialen Entwicklung zu stellen und - auch das ist wichtig - Fehlentwicklungen die Stirn zu bieten. Kinder, die in Summerhill zur Schule gegangen sind, haben gelernt, sich in einem System zu bewegen, in dem themenzentriertes Lernen stattfindet, in dem Examen und der Erwerb von Zertifikaten lediglich eine Unterbrechung, aber keinen Abschluß des Lernprozesses bilden.
Daß sich durch diese Möglichkeiten nicht ein Zustand der Beliebigkeit entwickeln kann wird dadurch gewährleistet, daß Summerhill dezidiert als "Schule" gilt und damit schulisches Lernen und der Erwerb von Schulabschlüssen zentraler Aspekt des Aufenthalts in dieser Institution bleiben. Der Rahmen der Schule ist so gestaltet, daß Kinder und Jugendliche sich gegenseitig unterstützen und die Erwachsenen an der Schule die alleinige Funktion haben, diese Struktur aufrecht zu erhalten. Zoë READHEAD, die gegenwärtige Leiterin, drückt dies so aus: "Children who are allowed to make decisions and take responsibility for their own lives, in a secure community among caring adults develop naturally into very impressive individuals indeed." [READHEAD 1999]
Das Schulsetting in Summerhill erlaubt eine individuelle Entwicklung unter Berücksichtigung der sozialen Bedingungen und Notwendigkeiten. Der viel zitierte Slogan "Freedom not License" beinhaltet, daß innerhalb des sozialen Systems der größtmögliche individuelle Entwicklungsfreiraum besteht und gleichzeitig die Gemeinschaft der Kinder und Erwachsenen eine zentrale Rolle für den pädagogischen Alltag spielt.
Nicht zuletzt deshalb setzen sich Petra GERSTER und Christian NÜRNBERGER in ihrem jüngst in Deutschland erschienenen und auf breiter Ebene diskutierten Buch "Der Erziehungsnotstand" für den Erhalt Summerhills ein. Dies verwundert zunächst, da das Autorenpaar der Forderung, Kinder und Jugendliche zielgerichtet für die Bedürfnisse der Wirtschaft auszubilden, einen eher konventionell bürgerlichen Bildungsbegriff entgegensetzt. Sie schreiben: "Summerhill ist nötig als Gegengewicht zur Turboschule. Die Turboschule, die ihre Schüler möglichst stromlinienförmig an die jeweiligen Marktbedürfnisse anpasst, darf nicht zum vorherrschenden Schulmodell werden". [98] [GERSTER/NÜRNBERGER 2001, S.181]
Kindlichem Spiel wird in der Pädagogik Alexander Neills eine wichtige und eigenständige Rolle zugestanden. Es wird nicht didaktisch instrumentalisiert, sondern hat eine eigene Bedeutung, die sich ausschließlich von den Interessen der Kinder her erschließt. Kinder, die spielen wollen, können dies tun so viel und so lange sie wollen. Ihre Möglichkeiten, ihr Spiel zu entwickeln sind nahezu grenzenlos. In der Schule finden sich Spielkameradinnen und -kameraden und gleichzeitig werden Kinder, die sich auf ihre eigenen Interessen zurückziehen toleriert, solange sie damit nicht die Interessen anderer beeinträchtigen. [99] Ähnliches gilt für sexuelle Interessen von Kindern und Heranwachsenden. Diese Interessen werden als bedeutsam und wichtig anerkannt und sexuelle Themen werden nicht tabuisiert. Diese Toleranz gegenüber z.B. sexuellen Spielen führt dazu, daß in den wenigen vorliegenden Wirkungsanalysen die unverkrampfte Einstellung ehemaliger Schülerinnen und Schüler gegenüber sexuellen Fragen hervorgehoben wurde. Der Umstand daß die Frage der kindlichen Sexualität in der Rezeption von Neills Erziehungsidee besonders viele Emotionen geweckt hat und zu zahlreichen Diffamierungen der Schule führte darf nicht dazu verleiten, dieses Thema in der Analyse von Neills Pädagogik schamhaft zu verschweigen. Es mag der Sexualität von Kindern zeitweilig in der Diskussion und auch in Neills Schriften ein übertrieben großer Stellenwert eingeräumt worden sein. [100] Daß sie überhaupt in der Pädagogik wahrnehmbar wurde ist ein unbestreitbarer Verdienst Alexander Neills. Wahrscheinlich hat Neill nicht wenig dazu beigetragen, daß Eltern seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend dazu bereit waren, ihren Kindern den lustvollen Umgang mit ihren Genitalien zuzugestehen, damit die Kinder ein weniger neurotisches Verhältnis zu ihrem Körper und seinen natürlichen Funktionen entwickeln konnten als dies vielen Generationen vor ihnen möglich war. Die lange Geschichte Summerhills hat unter Beweis gestellt, daß Kinder und Jugendliche, die ihre Sexualität in einem solchen Setting frühzeitig ausleben können, nicht zu enthemmten triebhaften Charakteren werden. Die Vermutung bestätigt sich zunehmend, daß solche Charakterzüge eher das Produkt "moralbetonter" und vielfach auch religiöser Erziehung sind wenn diese sexuelle Handlungen von Kindern und Jugendlichen tabuisiert oder sogar rigoros verbietet.
Neills Lieblingsbeispiel für den Unterschied zwischen Kindern aus herkömmlichen Schulen und Summerhill-Kindern war William GOLDINGS Buch "The Lord of the Flies". Er behauptete, daß Kinder aus Summerhill - anders als die Internatskinder in GOLDINGS Roman, die sich gegenseitig bekämpfen - Schulversammlungen abgehalten und ihre Gemeinschaft demokratisch organisiert hätten. Angesichts der Berichte, die von unabhängigen Beobachtern Summerhills vorliegen, erscheint diese Behauptung plausibel.
Demokratisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche kann sich - wenn man es mit ihr ernst meint - diese Erfahrung zunutze machen. Zoe-Jane PLAYDON [101] hat im Jahr 2000 eine Dissertation vorgelegt [102], in der sie beschreibt, wie die demokratischen Strukturen Summerhills auf eine Polyklinik in einem sozial benachteiligten Stadtteil Londons (Charlton) in einem mehrstufigen Prozeß erfolgreich übertragen werden konnten. [103] Das Fairfield-Centre ist eine Polyklinik wie viele andere in England, in der die Erstversorgung der Gesundheitsbeschwerden der Menschen erfolgt. Es unterscheidet sich von anderen Einrichtungen mit der gleichen Aufgabe ausschließlich durch seine demokratische Organisationsstruktur. Darin, daß Zoe-Jane PLAYDON für ihre Demonstration eine traditionell hoch hierarchische Institution wie ein Krankenhaus wählte, liegt ein hoher Symbolwert. Auch Schulen sind in der Regel von klaren Hierarchiestufen durchsetzt, an deren unterster Ebene stets die Kinder und Jugendlichen angeordnet sind (unter denen wiederum vielfach eine informelle Hierarchie herrscht). Summerhill hat bewiesen, daß eine Schule mit anderen oder keinen Hierarchiegefügen realisierbar ist und im Fairfield-Centre ist es Zoe-Jane PLAYDON zufolge gelungen, nach dem Konzept der "Lernenden Organisation" demokratische Strukturen zu etablieren, die deshalb Bestand haben, weil im Prozeß der Etablierung ein Lernbegriff angewendet wurde, der zwischen Training und Erziehung unterscheidet. Sie spitzt dies folgendermaßen zu: "the crucial distinction that I made was between education and training, first of all, and then between radical education and liberal education, in the second place. Most of the writing on organisational intelligence, understand learning as training, that is, as a set of mechanistic behaviours - ’learning objectivesŒ - which people are compelled to acquire. Education, which is concerned with the transformation of individuals, rather than the transmission of information, and in particular radical education, which is concerned to change society rather than to adjust people into conformity with it, takes rather a different view. If industry genuinely wants creativity, change, innovation, newness, then it needs to work to radical educational principles, I argue." [PLAYDON - * vom 05.10.2001]
Diese Argumentationslinie aufgreifend könnte gesagt werden: Wenn die Gesellschaft wirklich demokratische Strukturen in weiten Bereichen haben und Kinder zu mündigen Bürgern erziehen will, muß sie die Verwirklichung eines Erziehungskonzepts wie Neills auf breiter Basis unterstützen und sich von den hierarchischen Strukturen des herkömmlichen Bildungssystems mit seiner mangelnden Flexibilität verabschieden.
Mit den in diesem Abschnitt aufgenommenen neuesten Veröffentlichungen über Neill und Summerhill konnte deutlich gemacht werden, daß die Diskussion über Neills Erziehungskonzept noch längst nicht abgeschlossen ist. In vielen Zusammenhängen läßt sie sich erneut aufgreifen, denn die Möglichkeiten, die in diesem freiheitlich "vom Kinde aus" orientierten, demokratischen und fortwährend revolutionärem Erziehungskonzept liegen, sind noch längst nicht hinreichend ausgelotet. Es kann erwartet werden, daß sich die Rezeption Neills und Summerhills noch weiter entwickelt und gerade in der Zukunft fruchtbare Wirkungen auf die pädagogische Praxis und im besten Fall auch auf unsere gesellschaftliche Realität haben wird.
[97] "Eine der größten Quellen der Angst ist die Befürchtung, etwas nicht zu wissen, und doch ist diese einer der Grundpfeiler unseres Bildungssystems. Wenn du etwas nicht weißt, so liegt das daran, daß du dumm oder faul bist! Motiviert durch die Angst vor der eigenen Unwissenheit werden Kinder so kontinuierlich in ein Bezugssystem gesteckt, das kurz darauf überholt sein wird. In einer Zeit, in der die Menschheit riesige Sprünge ins Unbekannte macht (besonders in denWissenschaften), ist es nun sicherlich an der Zeit, das Bildungssystem auf dem Wunsch zu lernen aufzubauen anstatt auf der Angst, unwissend zu sein" schreibt der ehemalige Summerhill Lehrer Matthew Appleton[1997, S. 332]
[98] Im Anschluß an diese Feststellung fordern sie die Etablierung von Eliteschulen [a.a.O., S.182ff]. Daß sie diese Forderung mit wesentlich detaillierteren Umsetzungsvorschlägen anreichern kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden, da eine ähnlich elaborierte Forderung nach Gründung von Schulen nach dem Summerhill-Modell bildungspolitisch kaum ernstgenommen würde.
[99] Gelegentlich wurde die Schule dafür kritisiert, daß sie zu wenig Rückzugsmöglichkeiten für Kinder bereithält. Inwieweit diese Kritik zu Konsequenzen geführt hat, geht nicht aus der Berichterstattung hervor.
[100] Dies gilt vor allem für die amerikanische Rezeption in den 60er Jahren, in deren Rahmen Neill in starkem Maße mit psychoanalytischen Themen in Verbindung gebracht wurde.
[101] Zoe-Jane Playdon ist Absolventin des Henley Management College und war als Lehrerin und Managementberaterin über 25 Jahre tätig. Sie ist mit Dan/euml; Goodsman befreundet, die ebenfalls eine Dissertation zu Summerhill vorgelegt hat [siehe S.116], und hat Summerhill lediglich bei Besuchen kennengelernt. Im Rechtsstreit der Schule mit den Schulbehörden hat sie sich sehr für den Bestand der Schule eingesetzt.
[102] Ihre Dissertation wurde 2001 in England in Buchform veröffentlicht:. Diese Veröffentlichung liegt mir jedoch nicht vor: Playdon,Zoe-Jane: Democratic Management in Primary Healthcare: Implementing the Learning Organisation, London 2001
[103] Diese Beschreibung ist der Kern der Abhandlung von Zoe-Jane Playdon. Ihre Schrift holt zum Zweck dieser Beschreibung allerdings aus bis in die vorgeschichtliche Urzeit - 15.000 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung - und nimmt Plato und Aristoteles als Wendepunkt, deren Schriften das Ende der "golden age, the period before fear entered history" darstellen, als hätten vorgeschichtliche Kulturen keine rigiden Führungsstrukturen gehabt.