7. 1. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Tod seines Gründers
Als A.S. Neill 1973 starb, glaubten viele Leute, daß das auch das Ende von Summerhill wäre. Aber das war nicht der Fall. Summerhill überlebte bis heute als selbstverwaltetes soziales Gefüge, unabhängig von dem Mann, dessen Persönlichkeit so wesentlich für die Gestaltung der Schule war. Neill war sich dessen bewußt, daß er als verständnisvoller Vater stärker anerkannt wurde als für seine Einsichten in die Natur der Kinder, die er durch seine Schriften und sein Leben zu vermitteln versuchte.
In seinem Buch "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" schreibt er: "Eine Frage wird mir oft gestellt: `Ist Summerhill nicht ein Ein-Mann-Betrieb? Kann die Schule ohne Sie weiterbestehen?` Summerhill ist keineswegs ein Ein-Mann-Betrieb. ... Es sind die Ideen der Nichteinmischung in das Heranwachsen des Kindes und des Verzichts auf jeglichen Druck, die Summerhill zu dem machen, was es ist."1
Um das zu verstehen, ist es notwendig, die dynamischen Prozesse, aus denen Summerhill zusammengesetzt ist, und die Struktur, die diese Prozesse unterstützt, zu kennen.
Summerhill ist eine Gemeinschaft von 66 Schülern zwischen sieben und siebzehn Jahren, und elf Leuten vom Personal (sieben Lehrer und vier Hauseltern, Stand März 1994). Acht Personen des Hauspersonals, die auf Stundenbasis arbeiten und täglich aus der Stadt kommen, nehmen nicht voll am Gemeinschaftsleben teil. Einige wenige Schüler sind Tagesschüler, die anderen wohnen in verschiedenen Gebäuden und Baracken, die zur Schule gehören. Ein Trimester dauert gewöhnlich elf oder zwölf Wochen. Es wird Unterricht angeboten, aber das ist auf keinen Fall das Wesentliche. Ein großer Teil der Zeit und Energie wird für die tägliche Organisation und für die Aufrechterhaltung des Gemeinschaftslebens verwendet.
Die Stärke der Schule liegt in der Selbstverwaltung, obwohl das oft übersehen und der Person Neills zu große Bedeutung zugemessen wurde. Bruno Bettelheim schrieb über Neill: Er macht "sich nicht klar, daß alles davon abhängt, wie sie (Anm. die Schüler) sich mit ihm identifizieren. Er sieht nicht, daß Summerhill sich keineswegs deshalb bewährt, weil es eben genau die richtige Umgebung für Kindererziehung ist, sondern weil es nichts anderes ist als eine Ausweitung seiner Persönlichkeit. Summerhill ist Neill."2 Bettelheim war davon überzeugt, daß Summerhill ganz und gar von Neill geprägt sei, während Neill überzeugt war, daß Summerhill durch die Gemeinschaft geprägt würde. Das Wesentliche von Neills Einsichten wird vielfach nicht beachtet und der Persönlichkeit Neills eine größere Rolle beigemessen als seiner Nachricht.
Neill behielt recht. Summerhill
ist eine lebendige Gemeinschaft mit ihrer eigenen Ordnung. Was die Gemeinschaft
lebendig hält, ist nicht die Persönlichkeit irgendeines Individuums.
Es sind die Kinder, die diesen Ort mit der Begeisterung für das Leben
füllen und das Personal, das sich nicht ständig einmischt und
organisiert, es sind die Grundsätze nach denen Summerhill "gelebt"
wird und die Struktur der Selbstverwaltung, nach der dort alle zusammenleben.3
7. 2. Selbstverwaltung in Summerhill
"Summerhill ist eine Schule mit demokratischer Selbstregierung. Alles, was irgendwie mit dem Leben der Gemeinschaft zusammenhängt, ... wird von der Schulversammlung durch Abstimmung geregelt."4 Mehr als 25 Jahre, nachdem Neill das geschrieben hat, ist Selbstverwaltung in Summerhill noch immer kein halbherziges Zugeständnis, sondern eine Lebensform. Jeder einzelne übt das Recht aus, auf die Gemeinschaft, in der er lebt, direkt Einfluß zu nehmen. Alles kann in Frage gestellt werden.
Eine Demokratie, in der nur die Stellvertreter von einer bestimmte Anzahl von Menschen gewählt werden und dieses Wahlrecht erst mit der Volljährigkeit ausgeübt werden kann, ist nach Meinung Neills keine richtige Demokratie.
In Summerhill gibt es wöchentlich zwei Treffen der Gemeinschaft. Das "Tribunal" am Freitag nachmittag, eine Art Gerichtssitzung, und das "General Meeting" am Samstag abend. Das Foto Nr. 19 zeigt eines dieser Treffen in der großen Halle im Haupthaus. Als Besucher des Sommerwochenendes 1993 konnte ich ein solches "meeting" miterleben (s. Foto 18). Wichtige Angelegenheiten, die unser dreitägiges Zusammenleben betrafen, wurden diskutiert und beschlossen. Da die kleinen Kinder frei im Schulgelände herumliefen, während die Eltern bei den workshops waren, mußte geregelt werden, wie wir die Öffnung des swimming pools während dieser Zeit handhaben, ohne die Kleinen zu gefährden. Am Abend bestand die Möglichkeit, die Anlage für die Diskothek in der großen Halle zu benützen. Geregelt wurde, wer sie wie lange bedienen dürfe, beziehungsweise ab wann jeder ein Abschalten verlangen konnte. Eine 16jährige Schülerin leitete unser "meeting", und wir kamen in kurzer Zeit zu akzeptablen Übereinkünften.
Foto 18: Meeting beim Sommenwochenende 1993 (100 kB)
ehemalige Schülerin
Albert Lamb Sekretär
der Friends of Summerhill
Vater und Sohn aus der Schweiz
(zukünftiger Schüler) ehemalige Schülerin
Für die Schüler besteht bei diesen Treffen keine Anwesenheitspflicht, aber meist kommt der Großteil der Gemeinschaft. Jeder Teilnehmer hat eine Stimme, von der Leiterin der Schule bis zum jüngsten Kind.
Foto 19: "meeting" in Summerhill (144 kB)
Jede Woche wird für die nächste Woche ein Vorsitzender ("Chairman" oder "Madam Chairman") gewählt, sodaß ständig neues Leben in diese Position kommt. Der Vorsitzende hat keine Stimme, aber er hat bestimmte Machtbefugnisse innerhalb des Meetings. Wenn Leute das Treffen stören ,kann er sie bestrafen oder hinauswerfen. Er kann eine Sitzung auch schließen, wenn es zu unruhig wird. Aufgabe des Vorsitzenden ist es, Anfragen entgegenzunehmen und zu einer Abstimmung zu bringen, zu entscheiden, wer als nächster sprechen darf und jedes Thema abzuschließen.
Eine andere Rolle, die viel Einfluß hat und Verantwortung trägt, ist die des "Beddies Officer" ("Bettenpolizist"). Jedes Semester wird ein Bettenpolizei-Kommitee gewählt, um die Regeln des Zubettgehens, die die Versammlung beschlossen hat, durchzusetzen. Der Beddies Officer kann Strafen austeilen, die zum Beispiel sind: der Bestrafte MUSS zum Frühstück aufstehen und der erste in der Reihe sein, oder er bekommt keinen Pudding zum Mittagessen. Wenn jemand extrem störend ist, wenn das Licht schon aus ist, kann es sein, daß dieser eine Geldstrafe von 25p zahlen muß. Die Schlafenszeiten sind immer ein Thema, das in vielen Sitzungen heiß debattiert wird.
Die Aufgaben und Verantwortungen
innerhalb der Gemeinschaft, werden von der Versammlung übertragen
und können von dieser jederzeit geändert oder aufgelöst
werden. Selbst die Schulordnung kann außer Kraft gesetzt werden.
Gesetzesverstöße und Streitereien werden wöchentlich vor "Gericht" gebracht. Das "Tribunal" tagt jeden Freitag nachmittag um 14 Uhr. Diese Versammlungen haben die Atmosphäre einer Gerichtsversammlung. Die Anwesenden hören sich den vorgetragenen Fall aufmerksam an und bringen Vorschläge, was getan werden kann, um das Problem zu lösen.
Ein Beispiel dazu: Nick hat die Wasserpistole von Roger genommen und weigert sich, sie ihm zurückzugeben. Es gibt die Möglichkeit, daß Nick die Pistole früher oder später doch zurückgibt, aber wenn nicht, bringt Roger den Fall vors "Tribunal". Dort erzählt er der Versammlung seine Seite der Geschichte, dann hat Nick die Gelegenheit, sich zu verteidigen. Wenn noch jemand etwas zu sagen hat, hebt er die Hand, vielleicht um einen Augenzeugenbericht zu geben, um den Vorfall zu erläutern oder einen Vorschlag zu machen. Der Vorsitzende liest dann alle Vorschläge vor, und es wird darüber abgestimmt. Der Vorschlag, der angenommen wird, wird vom Vorsitzenden noch einmal vorgelesen, dann ist die Sache geschlossen, und es wird zum nächsten Fall übergegangen. Meist übt die Gemeinschaft Nachsicht, denn schließlich ist schon fast jeder (Schüler wie Lehrer oder Hauseltern) einmal beim "Tribunal" vorgebracht worden. Auch Lehrer sind von Verurteilungen nicht ausgenommen, wenn sie eine Fehlhandlung gegenüber der Gemeinschaft begehen. Ein Lehrer, der mit solcher Kraft gegen eine Tür klopfte, daß sie auseinanderbrach, mußte sich vor der Gemeinschaft verantworten. Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt und nahm die Strafe wohlwollend an, denn er war stolz über die Fähigkeit der Schüler auch gegen eine Missetat eines Erwachsenen vorzugehen. Er war stolz, in einer Schule wie Summerhill zu arbeiten.5
Manchen Kindern fällt
es schwer, vor der Versammlung zu sprechen, besonders wenn sie neu in Summerhill
sind. Sie bekommen dann vielleicht jemanden zugewiesen, der ihnen hilft,
oder sie bekommen einen sogenannten "Ombudsman", der ihren Fall vertritt.
"Ombudsmänner" werden von der Versammlung gewählt und bestehen
meist aus einer Gruppe älterer Kinder. Jede Woche sind drei "Ombudsmänner"
im Einsatz, deren Namen in der Versammlung des "Tribunal" angekündigt
werden, und die dann während der Woche schiedsrichterlich tätig
sind. Wenn jemand Probleme hat, die nicht bis Freitag warten können,
ruft er den "Ombudsman", der seine Interessen dann vertritt. Normalerweise
werden Fälle der Ombudsmänner sofort geschlichtet. Wenn der Fall
als ernst genug betrachtet wird oder keine sofortige Lösung erreicht
werden kann, ist es möglich, darüber beim "Tribunal" zu verhandeln
und die angeklagte Partei zu bestrafen. "Ombudsmänner" selber können
keine Strafen austeilen. Sie können jedoch alles konfiszieren, was
in bedrohender und gefährlicher Weise verwendet wird. Auch das Personal
macht regelmäßig Gebrauch von den "Ombudsmännern", da es
nicht als Autorität gesehen werden möchte, die die Gesetze überwacht.
Zu Beginn des "General Meeting", der Generalversammlung, am Samstag abend wird immer ein Gerichtsbericht gemacht, ein Rückblick, wer warum vors Tribunal gebracht wurde und wie hoch die Strafe war. Am Ende der Versammlung kann dann jeder gegen die Strafe, die er am Vortag erhalten hat, Berufung einlegen. Das ist auch bei jedem weiteren Tribunal möglich, sofern die Strafe noch nicht abgegolten ist. Oft wird die Strafe verringert oder ganz fallen gelassen. Sehr selten wird gegen eine Strafe Berufung eingelegt, wenn die Person davon überzeugt ist, daß sie ungerecht verhängt wurde oder das Ausmaß zu hoch war. Vielleicht wurde ein Fall zu gefühlserregt behandelt und in der Hitze des Gefechts die Strafe ausgesprochen. Am nächsten Tag hat sich die Situation abgekühlt, und man betrachtet die Dinge dann etwas ruhiger. Die Berufung wird angenommen.
Die meisten Probleme, die im General Meeting geregelt werden, handeln von Diebstählen, Störung der Nachtruhe, Tyrannei durch einzelne Kinder, schlechtes Benehmen außerhalb Summerhills sowie unbefugte Benützung oder Zerstörung von Eigentum anderer.
Die Hauptfunktion der Generalversammlung aber ist es, die Regeln aufzustellen, nach denen die Gemeinschaft zusammenlebt, beziehungsweise Regeln zu berichtigen, um sie besser für die Bedürfnisse der Gemeinschaft geeignet zu machen. Von Zeit zu Zeit kommt es auch vor, daß alle Regeln fallengelassen werden und die Gemeinschaft wieder ganz von vorne anfängt.
Für jede Gerichts- und Generalversammlung wird ein Schriftführer bestellt, der die Anliegen festhält. Wenn man etwas verändern oder etwas Neues vorschlagen will, ist dies vorher dem Schriftführer mitzuteilen. Jedes Anliegen, wie z.B. die Aufhebung eines geltenden Gesetzes und sein Ersatz durch ein angemesseneres, wird diskutiert und schließlich darüber abgestimmt. Der Vorschlag, der die meisten Stimmen erhält, ist dann so lange Gesetz, bis er wieder in Frage gestellt wird. Erwachsene stellen ihre Anträge genauso wie die Kinder. Auch Neill bildete keine Ausnahme, als er die Schule noch leitete. Seine Anträge wurden genauso kritisch behandelt wie alle anderen. Zoe Readhead, die heutige Leiterin, hält es wie ihr Vater, mit dem Unterschied, daß sie ihre Anliegen mit mehr Engagement und Willen zur Überzeugung der Gemeinschaft vorträgt. Neill stellte oft recht unsinnige Anträge, die dann niedergestimmt wurden. Er wollte auf diese Weise zeigen, daß er keinen Wert darauf lege, als Autorität aufzutreten.6
Das Wesen von Summerhill
liegt darin, daß nicht die Erwachsenen über die Regelung des
Gemeinschaftslebens bestimmen, sondern daß sich die breite Mehrheit
der Kinder und Jugendlichen damit identifizieren kann. Die Schüler
werden nicht "von oben" diszipliniert und können so einen Sinn für
Gerechtigkeit entwickeln. Auch die Kompromißbereitschaft ist sehr
groß. Die Demokratie ist unverfälscht, weil die Kinder ihre
Gesetze selbst machen und nicht über Vertreter, deren Handeln sie
nicht mehr kontrollieren können. Die Schulgesetze befinden sich in
einem ständigen Wandel, der die Gefühle und Einstellungen der
Gemeinschaft zum jeweiligen Zeitpunkt wiederspiegelt.
7. 2. 3. Was unterliegt nicht der Selbstverwaltung?
Alle Gesetze werden in der Versammlung behandelt, außer diejenige, die die Sicherheit und Gesundheit betreffen. Das sind die sogenannten "safety rules", die Neill und Ena vor langer Zeit formuliert haben und die von der Gemeinschaft akzeptiert werden. Dazu gehört zum Beispiel, daß es verboten ist auf das Dach zu klettern oder ohne Aufsicht zu schwimmen. Ebenso sind die staatlichen Gesetze verbindlich.
Entscheidungen darüber, wer in welchem Zimmer schläft, werden vom Personal getroffen. Dadurch wird vermeiden, daß sich Cliquen von beliebten und Ghettos von unbeliebten Kindern bilden. Das Personal entscheidet auch, wer in die Schule aufgenommen wird und wer die Schule verlassen muß. Für derartige Entscheidungen kann es wichtig sein, über Hintergrundinformationen der Familien- und Lebensverhältnisse der Schüler zu verfügen,die jedoch nicht für die ganze Gemeinschaft bestimmt sind.
Bei der Einstellung von Personal werden Meinungen der Schüler eingeholt, entschieden wird aber von den Erwachsenen. Personal zu entlassen obliegt ganz alleine der Schuldirektorin.
Viele Probleme, die die Gemeinschaft
belasten würden, kommen erst gar nicht auf, weil alltägliche
Notwendigkeiten vom Personal erledigt werden. Es wird das Essen gekocht,
es wird geputzt, und die Wäsche wird gewaschen. Das erledigen acht
Personen, die täglich stundenweise aus der Stadt zum Arbeiten kommen,
beziehungsweise die Hauseltern (Wäsche, Frühstück,...)
7. 2. 4. Zusammenfassung
"Self-government does work; otherwise, why would we carry on a self-government meeting for sixty-one years? But, depending on the group of children you have, it sometimes works more efficiently than at others."7
Selbstverwaltung in Summerhill funktioniert. Seit nunmehr 75 Jahren findet einmal wöchentlich das "General Meeting" statt. Je nachdem, welche Gruppe von Kindern dort ist, funktioniert es manchmal besser, manchmal weniger gut. Das ist zum Beispiel davon abhängig, ob gerade viele neue Schüler dazugekommen sind, die sich erst einleben müssen, oder ob genügend ältere Schüler da sind, die dann das Leben in Summerhill wesentlich bestimmen. Kleinere Kinder haben nur "wenig Interesse an der Selbstregierung".8 1971 erklärte Neill einem Reporter: "Wir machen eine schlechte Zeit durch; die Kinder sind zu jung."9 Das Durchschnittsalter der damals 62 Kinder lag bei 9 1/2 Jahren.
"Die Selbstverwaltung einer Schule kann nur dann gut sein, wenn einige ältere Schüler da sind, die ihre Ruhe haben wollen und gegen die Gleichgültigkeit oder den Widerstand der Jungen im Rabaukenalter ankämpfen ... Kinder unter zwölf dagegen können sie (Anm.: die Selbstverwaltung) allein nicht organisieren, weil sie noch zu jung sind, als daß sie gemeinschaftsfähig wären."10
So gesehen macht die Schule beziehungsweise die Gemeinschaft ein ständiges Auf und Ab durch. Aber wie auch immer, die Schule wird nicht von Erwachsenen bestimmt. Die Kinder schauen nicht auf zu den Erwachsenen, sie sind ihnen ebenbürtig. Sie sind in der Lage, sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
Matthew Appleton, ein Hausvater in Summerhill, formuliert es so: "Durch die Selbstverwaltung lernen wir ständig, anderen zuzuhören und unsere Bedürfnisse in einer Art und Weise auszudrücken, die für andere nicht schädlich ist. Das gilt in der Gemeinschaft hier für die Erwachsenen und die Kinder."11
Würde man Summerhill
auf die Persönlichkeit von Neill beschränken, so würde man
das Wesentliche übersehen. Summerhill bleibt weiterhin durch sein
eingebautes System der Selbstverwaltung und nicht im Schatten seines Begründers
bestehen. Dieses System gestattet es den Erwachsenen nicht, Macht über
die Kinder auszuüben, sondern gibt allen die Freiheit, neben- und
miteinander zu leben und voneinander zu lernen.
7. 3. Exkurs: Das englische
Schulsystem
Für die schulische Erziehung in Summerhill gelten die englischen Schulgesetze. Die Schüler müssen zwar nicht in den Unterricht gehen, wenn sie aber kommen, werden sie nach dem allgemeinen englischen Lehrplan unterrichtet. Die Abschlußprüfungen in Summerhill entsprechen denen der öffentlichen Pflichtschulen und sind auch anerkannt. Es erscheint mir daher wichtig, das englische Schulsystem und seinen Aufbau an dieser Stelle kurz zu beschreiben.
Die schulische Erziehung in Großbritannien ist durch das Erziehungsgesetz (Education Act) von 1944 festgelegt, das 1988 reformiert wurde. Dieses Gesetz beinhaltet die schulische Erziehung in England und Wales, sowie "higher education" in England, Wales und Schottland.12
Etwa 9 Mio Kinder besuchen 30.500 staatliche Schulen in Großbritannien. Weitere 600.000 gehen auf 2.500 Privatschulen (Stand Dezember 1991).13
Die folgenden Ausführungen werden ausschließlich das Schulwesen in England behandeln, ohne auf spezielle Regelungen der einzelnen Schulbehörden einzugehen. (vgl. dazu die Grafik auf Seite ).
Öffentliche Erziehung
beginnt in England bei den Dreijährigen mit dem Kindergarten. Mit
fünf Jahren beginnt die Pflichtschulzeit, die 11 Jahre dauert. Im
Alter von 16 kann man dann verschiedene Colleges besuchen und sich auf
die Aufnahme in die Universität vorbereiten oder eine Berufsausbildung
oder -fortbildung machen.
7. 3. 1. Pre-school education (Vorschulerziehung)
Etwa 50 % aller 3-4jährigen
Kinder besuchen eine "nursery school" (=Kindergarten). Viele gehen in "pre-school
playgroups", das sind von den Eltern privat organisierte Spielgruppen.14
7. 3. 2. Compulsory education (Plichtschule)
Der Pflichtschulbereich umfaßt
das Alter von 5 - 16 Jahren und unterteilt sich in primary education (5
- 11jährige) und secondary education (11 - 16 bzw. 18jährige).
7.3.2.1. Primary schools
Mit 5 Jahren beginnt in England die Schulpflicht. Die Kinder gehen in die "infants` schools" und wechseln mit 7 Jahren in die "junior schools". Das übliche Alter für einen Wechsel von "primary schools" zu "secondary schools" liegt bei 11 Jahren.
Alle primary schools sind
koedukativ geführt.
7.3.2.2. Secondary schools
Etwa 90 % der staatlichen Secondary-School-Schüler besuchen die "comprehensive schools" (=Gesamtschule), eine Verbindung von "secondary modern school" (ähnlich unserer Hauptschule) und "grammar school" (ähnlich unserer AHS). Die "comprehensive schools"15 nehmen Kinder aller Fähigkeiten und vermitteln einen breiten Bereich der secondary Erziehung für die meisten Kinder zwischen 11 und 18 Jahren.
Neben diesen drei Schultypen gibt es in der Secondary Education noch die "sixth-form colleges" und die "tertiary colleges", in denen man sich ab 16 Jahren auf die GCE-A level Prüfungen vorbereiten kann.
Der Aufbau des Sekundarschulwesens
ändert sich ständig und läßt keine starre Einteilung
zu. Außerdem haben die örtlichen Schulbehörden die Möglichkeit,
neue Arten von Sekundarschulen einzurichten, die ihren örtlichen Gegebenheiten
mehr entsprechen als die herkömmlichen Schultypen. So gibt es u.a.
die sogenannten Zweitypenschulen = "bilateral school" oder Mehrtypenschulen
= "multilateral school", die in sich mehrere Richtungen gymnasialer oder
technischer Bildung vereinen.16
7.3.2.3. Independent Schools
Etwa 7 -8 % der Schüler
besuchen "independent schools" oder "private schools".17
Diese Schulen verlangen pro Trimester etwa L 300,- Schulgeld für Kindergartenkinder
und bis zu L 3.500,- pro Trimester für Internatsschüler (im Durchschnitt
L 2.000,-). Summerhill ist hier mit durchschnittlich L 1.700,- pro Trimester
für Internatsschüler billiger als die meisten englischen Internate.
Privatschulen müssen registriert sein und werden von Schulinspektoren
inspiziert.
7.3.2.4. Lehrplan 18
Es gibt in England 3 Hauptgegenstände = "core" subjects (Englisch, Mathematik, Naturwissenschaften) und 7 weitere fundamentale Gegenstände = "foundation" subjects (technische Erziehung = Werkerziehung, Geschichte, Geographie, Musik, Bildnerische Erziehung, Leibeserziehung und eine lebende Fremdsprache.. Religionsunterricht ist verpflichtend für alle Schüler, die Eltern haben aber das Recht, ihr Kind davon abzumelden.
Alle Kinder zwischen 5 und 11 müssen die oben genannten Gegenstände ausgenommen die Fremdsprache besuchen. Von 11 bis 14 kommt der Fremdsprachenunterricht dazu.
Schüler zwischen 14 und 16 müssen die drei Hauptgegenstände sowie technische Erziehung, eine Fremdsprache, Leibeserziehung, Geschichte oder Geographie oder Kurzkurse in beiden Gegenständen wählen.
Je nach Alter werden die Kinder einer Schlüsselbezeichnung zugeordnet.
Key Stage 1 - infants: bis zum Alter von 7 Jahren
Key Stage 2 - juniors: von 7 - 11 Jahren
Key Stage 3 - pre-GCSE: von 11 - 14 Jahre
Key Stage 4 - praparation for GCSE
Für jeden Lehrplangegenstand gibt es bestimmte Lernziele ("attainment targets").In Englisch zum Beispiel gibt es 5 Hauptziele (basic targets): speaking and listening, reading, writing, spelling, hand-writing. Für jedes Ziel wiederum gibt es 10 Wissensniveaus (levels of attainment).
Am Ende jedes der ersten
drei key stages, also im Alter von 7, 11 und 14 Jahren, werden die Schüler
beurteilt, ob sie diese Lernziele erreicht haben.. Diese Beurteilung setzt
sich aus der Lehrerbeurteilung und der Beantwortung von standardisierten
Aufgaben ("standard assessment tasks") zusammen. Bei den Tests muß
man eine bestimmte Punktezahl erreichen, um erfolgreich abschließen
zu können. Am Ende von key stage 4 hat man die Möglichkeit, GCSE
Prüfungen abzulegen.
7.3.2.5. Qualifikationen
Die Hauptqualifikation der secondary Schüler ist im Alter von 16 Jahren das "General Certificate of Secondary Education" (GCSE). Nach zwei weiteren Jahren kann das "General Certificate of Education (GCE) Advanced (A) level" erworben werden.
Advanced Supplementary (AS)
levels befähigen "sixth-form" Schüler, ihren Studienbereich zu
erweitern. Ein AS level zählt als ein halbes A level, was bei den
Aufnahmevoraussetzungen an die Universität wichtig ist.
7. 3. 3. Post-school education
Schulische Erziehung nach
der Pflichtschule unterscheidet "Higher Education" und "Further Education".
"Higher Education" erhält man an folgenden Einrichtungen:
7.3.3.1. Universitäten
Jede Universität hat autonome Entscheidungsbefugnisse, was die Zulassung zum Studium betrifft. Normalerweise braucht man zwei bis drei A-levels, um aufgenommen zu werden. An manchen Universitäten gibt es noch eine schriftliche Aufnahmeprüfungen und/oder ein Interview.
Jede Universität hat ihren eigenen Lehrplan (Vorlesungsverzeichnis), und auch die Abschlüsse (Titel) sind nicht einheitlich, wie folgende Auflistung zeigt:19
Nach 4 - 6 Jahren Studium
schreibt man eine wissenschaftliche Arbeit (vergleichbar unserer Diplomarbeit)
und schließt mit einer mündlichen Prüfung ab.
7.3.3.2. Polytechnics
Polytechnics wurden 1967
eingeführt und waren den Universitäten ähnlich, aber mehr
berufsorientiert. Im Oktober 1993 wurden die Polytechnics zu Universitäten
umbenannt.
7.3.3.3. Colleges of education
Diese sind für die Lehrerausbildung
zuständig und mit unseren Pädagogischen Akademien vergleichbar.
Nach einem 4jährigen Studium erwirbt man den Grad eines "Bachelor
of Education (BEd). Spezielle 2jährige BEd-Kurse gibt es in Gegenständen,
wo zuwenig Lehrer für die secondary schools vorhanden sind.
7.3.3.4. Open Universities
Durch Fernstudien in Form
von schriftlichen Unterlagen, durch das Radio oder Fernsehen erwirbt man
einen Universitätsabschluß.
7.3.3.5. Institutions of further and higher education
Further Education wird an Colleges unterrichtet und ist für Leute ab 16 Jahren gedacht, die Kurse bis zum GCE A level Standard machen wollen. Diese Colleges bieten Berufsfortbildung und Berufsausbildung an. Viele bieten aber auch Higher Education Kurse an.
In Summerhill ist es möglich,
GCSE-Prüfungen zu machen. Der Unterschied besteht darin, daß
sich die Schüler im staatlichen Schulsystem 2 Jahre auf die GCSE-Prüfungen
vorbereiten, während ein Schüler in Summerhill 2 bis 6 Monate
intensiv für diese Prüfung arbeitet. Für eine weitere Ausbildung
muß man ins staatliche Schulsystem überwechseln. Die meisten
Schüler besuchen nach Summerhill ein Collage und machen dort weitere
GCSE Prüfungen oder GCE-A levels.
7. 3. 4. Übersichtsdiagramm
- Das englische Schulsystem
7. 4. Die Schule Summerhill
Es besteht in Summerhill keine Schulpflicht. Unterrichtspflicht gibt es nur für die Lehrer, die manchmal vergeblich auf Schüler warten, wenn diese etwas Besseres zu tun wissen oder wenn die Unterrichtsgestaltung den Schülern nicht gefällt.
Kinder, die ohne vorherige Regelschulerfahrungen nach Summerhill kommen, besuchen den Unterricht im allgemeinen kontinuierlich. Im Alter von 10 bis 12 Jahren lehnen viele Summerhill Schüler jeglichen Unterricht ab. Später haben sie ihre Interessen entdeckt und bereiten sich auf ihren zukünftigen Beruf vor. Schüler, die eine Aufnahmeprüfung für eine höhere Schule oder die Universität bestehen wollen, kommen gerne und regelmäßig zum Unterricht und lernen sehr fleißig. Ca. 80 % der Schüler bestehen das GCSE-Examen ("General Certificate of Secondary Education"), welches im Alter von 16 bis 18 Jahren abgelegt wird.20 Das GCSE bildet die Basis zur Erlangung des A-level, welches unserer Matura entspricht. [DfEE-Reports]
Zoe Readhead ist, wie ihr
Vater, der Meinung, daß man den ganzen Schulstoff von zehn Jahren
auch in zwei Jahren bewältigen kann, vorausgesetzt, daß man
nicht zum Lernen gezwungen wird und die Spielphase ausleben kann. Es ist
wichtig, daß die emotionelle Bildung in der Kindheit erfolgt, die
intellektuelle ist auch später möglich.21
7. 4. 1. Schüler
Im Sommersemester 1992, als ich während des Schuljahres in Summerhill war, lebten dort 62 Schüler, 30 Buben und 32 Mädchen im Alter zwischen sieben und siebzehn Jahren. Derzeit werden Kinder unter sieben Jahren nicht aufgenommen, weil es der Leitung zu früh erscheint, sie in diesem Alter von den Eltern wegzugeben. "They need their mum."22 Auch Kinder, die schon älter als zwölf Jahre sind und nach Summerhill wollen, werden nicht mehr genommen, da sie schon zu viele negativen Erfahrungen im herkömmlichen Schulbetrieb haben und eine zu große Belastung für die Gemeinschaft wären.
Von den 62 Schülern waren 58 Internatsschüler und vier Tagesschüler, die nur von 9 - 18 Uhr in der Schule waren. 1977 gab es noch 18 Tagesschüler und 64 Internatsschüler.23 Es hat sich aber nicht bewährt, Tagesschüler zu nehmen, da diese schnell eine Gruppe für sich gebildet und auch sonst am Gemeinschaftsleben zu wenig Anteil hatten. Einer dieser Tagesschüler im Sommersemester 1992 war zum Beispiel der achtjährige Alexander aus Deutschland, dem der Einstieg damit erleichtert werden sollte, daß seine Eltern eine Zeit in Leiston wohnten, und er jeden Tag von der Schule wieder "heim" zu ihnen kommen konnte. Später trat er als Internatsschüler ein.
Ein kleines Problem ist die große Anzahl der japanischen Kinder und Jugendlichen, die mehr als ein Drittel der Gesamtschüler ausmachen. Sie grenzen sich vielfach innerhalb ihrer Kulturgruppe ab. Lucia, eine Schülerin in Summerhill, beschreibt das folgendermaßen: "Es ist nichts Falsches an Japanern, aber die meisten von ihnen können nicht Englisch sprechen. Sie bleiben in ihren eigenen Gruppen und mögen es nicht, wenn du versuchst, mit ihnen zu sprechen."24
Foto 20: Mittagessen in Summerhill
bei Schönwetter (nn kB)
Die Auswahl der Schüler erfolgt durch die Leiterin und die Lehrer gemeinsam, wobei Ena Neill 1982 betonte: "Wir haben seit 25 Jahren keine Kinder mit schweren Problemen genommen."25 Allerdings waren 1992 drei der anwesenden Schüler von der Schulbehörde nach Summerhill geschickt worden, weil sie im öffentlichen Schulsystem versagt hatten bzw. nicht mehr tragbar waren. Auch ein Teil der anderen Schüler waren Schulverweigerer oder hatten große Schwierigkeiten mit der konventionellen Erziehung. Die meisten Kinder kommen aus Familien der Mittelschicht. Eltern der Unterschicht können sich Schulgeld und Fluggebühren nicht leisten.
Im Sommersemester 1992 waren
mehr als die Hälfte der Schüler Ausländer, nur 28 kamen
aus Großbritannien (15 Buben/13 Mädchen. Der Rest aus: Japan
(11 Buben/ 13 Mädchen), Deutschland ( 1 Bub / 3 Mädchen), Amerika
( 1 Bub / 2 Mädchen), Frankreich ( 1 Bub / 1 Mädchen) und Spanien
( 1 Bub / - ). (vgl. Diagramm 1)
Diagramm 1: Zahl
der Schüler, Stand 1992
Seit dem Wintersemester 1993/94 lebt auch ein Kind aus Österreich in Summerhill, ein siebenjähriger Bub aus Wien.
Neuankömmlinge werden
ihrem Alter gemäß, und nach Beurteilung ihrer Bedürfnisse
durch die Lehrer, einer von drei Gruppen ("Klassen") zugeteilt. In der
ersten Klasse sind Kinder zwischen 7 und 10 Jahren, in der zweiten Klasse
zwischen 9- und 13jährige. Die dritte Gruppe besteht aus den älteren
Schülern, die aus verschiedenen Kursangeboten auswählen.
7. 4. 2. Erfüllung des Lehrplans
Dieses Kapitel bezieht sich
auf den Bericht der Schulinspektoren von 1991 und 1994, wo u.a. das Wissen
und die Entwicklung der Schüler in den einzelnen Klassen beurteilt
werden.
7. 4. 2. 1. Klasse 1: 7 - 10jährige
Laut Bericht der Schulinspektoren "unterstützen die Arbeiten in dieser Klasse automatisch die Sprachentwicklung". Beim Unterricht wird außerdem besonderer Augenmerk auf die vier Grundrechungsarten gelegt. In vielen Bereichen der Spielaktivitäten der Schüler taucht Mathematik auf. Die Schüler verwenden die Sprache der Mathematik, "die sich auf Form, Gewicht, Länge und Volumen bezieht".26 Englisch als Fremdsprache hat einen wichtigen Platz im Lehrplan und wird ergänzend zu den anderen Gegenständen angeboten. Nachhilfestunden, die die Lehrer mit den Schülern vereinbaren, oder Hilfen durch ältere Schüler führen dazu, daß vor allem ältere und fähigere ausländische Schüler fließend Englisch sprechen und auch sehr gut schreiben können.
In der ersten Klasse wird "Naturwissenschaft" angeboten, aber nur dann weiterentwickelt, wenn sich die Schüler dafür interessieren. Ebenso werden geographische und historische Grundbegriffe eingeführt und entwickelt, "indem sich die Lehrerin effektiv in Schüleraktivitäten einschaltet".
Es wird mit Textilien und
anderen Materialien gearbeitet, um eine Ahnung von Kunst- und Werkerziehung
zu vermitteln. Musikerziehung und Religionsunterricht gibt es an der Schule
nicht.
7. 4. 2. 2. Klasse 2: 10 - 13jährige
In der 2. Klasse wird besonders
viel Zeit für Englisch und Mathematik aufgewendet. Auf Geschichte,
Geographie oder Physik wird, so vermerkt der Inspektorenbericht 1991, zu
wenig Wert gelegt. Auch sei das Klassenzimmer für diese Gruppe sehr
unattraktiv, da es zu wenig Unterrichtsmittel für Experimente gibt
(keine Lupen, keine Mikroskope,...) und die Ausstattung für Mathematik
unzureichend ist. Das alles ist - laut Bericht - mit ein Grund dafür,daß
nur wenige Schüler diese Klasse besuchen. Die Schüler tollen
lieber im Freien herum, klettern auf Bäume, schwimmen, oder suchen
sich andere Aktivitäten wie zum Beispiel Musikinstrumente- spielen.
Manche besuchen auch Kurse wie Textilverarbeitung oder Naturwissenschaften,
weil sie das eben gerade mehr interessiert als der Besuch ihrer Stammklasse.
Zwei Jahre später, im Sommer 1993, berichtete einer der Lehrer von
einem interessanten Wandel. Während bisher immer die 10 bis 12-jährigen
dem Unterricht fernblieben und sich anderweitig beschäftigten, kamen
sie jetzt verstärkt in den Unterricht, während die Jüngeren
andere Interessen entwickelten.27
7. 3. 2. 3. Ältere Schüler (ab 13 Jahren)
Die älteren Schüler können am Beginn des Trimesters aus einem Angebot von 16 Kursen wählen. Diese umfassen: Mathematik, EDV, Englisch, Französisch, Deutsch, Latein, Biologie, Physik, Chemie, Naturwissenschaft, Ökologie, Landwirtschaft, Basteln, Astronomie, Geographie und Geschichte.28 Die Schüler schreiben sich für die Kurse, die sie interessieren ein, und die Lehrer versuchen, einen Stundenplan zu erstellen, sodaß sie in Kleingruppen bis zu zehn Personen arbeiten können. Manchmal kommt es auch vor, daß nur ein Schüler einen Kurs besucht. Foto 21 zeigt ein Mädchen beim Geschichtsunterricht, Foto 22 die Mathematikklasse, die ihren Unterricht bei schönem Wetter ins Freie verlegte.
Foto 21: Individueller Geschichtsunterricht
Foto 22: Mathematikunterricht
bei Schönwetter im Freien (80 kB)
Die Inspektoren berichtet,
daß sich in einem Trimester alle Schüler mindestens für
einen Kurs einschreiben, etwa die Hälfte für 5-10 Kurse. Sehr
beliebt sind Englisch, Mathematik, Deutsch, Französich und Naturwissenschaft
sowie alle kreativen Gegenstände, die auch außerhalb dieser
Kurse stattfinden. Die 15 - 16-jährigen machen auf dieser Basis GCSE-Prüfungskurse
in den beliebteren Gegenständen (Mathematik, Englisch, Chemie, Physik,
Biologie, Werkerziehung, Landwirtschaft und Kunst). Solche Prüfungskurse
können zwei Jahre lang besucht werden, aber oft sind die Schüler
schneller und legen die Prüfung früher ab.
7. 4. 3. Freizeitaktivitäten
Zoe, die Leiterin der Schule, ist geprüfte Reitlehrerin und bietet Reiten als Freifach an. Dazu gibt es eine Koppel im Freien. Der seit einigen Jahren bestehende Stall für Kleintiere (einige Ponies, Hasen, Ziegen...) mit einem integrierten Spielzimmer ist ein beliebter Aufenthaltsort, vor allem für die kleineren Kinder. Die größeren findet man schon eher in einer Werkstatt, wo sie kaputte Mopeds reparieren. Damit rattern sie dann durchs Gelände oder über eine BMX-Bahn im Wald (siehe Foto 23, 24, 25).
Foto 23
Foto 24
Foto 25
Den mehr kreativ Interessierten stehen ein Künstleratelier, eine Töpferei, eine Holzwerkstatt und ein Photostudio zur Verfügung.
Im Stockwerk über der Holzwerkstatt haben sich die Kinder das sogenannte "Orange Peel Cafe" eingerichtet. Heute nennen sie es "Jazz Cafe". Bei vielen Gelegenheiten wird in Summerhill zu Jazz-Musik getanzt. Einige Schüler sind ausgezeichnete Musiker.
Leidenschaftlich gerne spielen manche Schüler Theater. Nicht Klassiker führen sie auf, sondern am liebsten selbst geschriebene Komödien. Auch die Requisiten und Kostüme stellen sie selbst her. Die älteren Schüler interessieren sich für Bühnentechnik und führen Regie.
Die Schule besitzt auch einen Tennisplatz und ein Fußballfeld. Fußballspielen allerdings ist für die Schüler nicht sehr attraktiv. Die Kinder können in Summerhill ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Sie spielen kaum nach Regeln. Wettbewerbe sind nicht besonders beliebt. Bevorzugt sind Bandenspiele und Verkleidungsspiele.
Wenn es heiß ist, findet man die meisten Schüler im Swimmingpool hinter dem Haupthaus (Foto 26).
Foto 26: Swimmingpool hinter dem Haupthaus (184 kB)
Daß Schüler wie Lehrer hier nackt baden oder in der Sonne liegen, fällt höchstens den Besuchern auf. Für Summerhillianer ist das selbstverständlich.
Manche Erzieher bieten ihr
Können und ihre Fähigkeiten zusätzlich in Freifächern
an. So gibt es für die älteren Schüler z.B. einen Massagekurs.
7. 4. 4. Personal
Zoe Readhead, die die Tochter des Gründers, leitet derzeit die Schule. Elf weitere Erwachsene unterstützen sie als Lehrer oder Hauseltern. Zehn davon haben die Uni absolviert, fünf sind als Lehrer ausgebildet, und ein Hausvater kommt aus der Sozialarbeit mit schwer erziehbaren Jugendlichen. Die Hauseltern sind mit familiären Aufgaben betraut, wie: Wäsche waschen, am Wochenende kochen, den kleineren Kindern Haare waschen und Gute Nacht Geschichten zu erzählen, und für die Größeren einfach da sein, wenn sie jemanden brauchen. Eine Sekretärin arbeitet halbtags, acht Frauen kommen stundenweise zum Putzen und Kochen aus der Stadt.
Viele Lehrer und Hauseltern bleiben nur kurz in Summerhill. Ein Kunstlehrer, der seit 1988 in Summerhill arbeitet, erklärt die Gründe dafür: "Es ist problematisch, hier zu bleiben. Der Verdienst ist gering, und du hast kein Zuhause. Es bleibt uns Lehrern fast nichts anderes übrig als hier zu wohnen, sonst könnte die Schule nicht funktionieren. Während des Schuljahres gehst du auf für Summerhill; du hast keine Außenkontakte. Während der Ferien, dreimal im Jahr ist niemand in Summerhill und du eilst von einem Ort zum anderen und bist nirgends daheim."29
Einer der Hausväter
hat seine Frau in Summerhill kennengelernt. Sie war Lehrerin und lebt nun
mit dem gemeinsamen Baby in einem Haus in Leiston, während er für
die Dauer der Schulzeit in Summerhill wohnt. Ein weiterer Lehrer hat sich
ein Haus in Leiston gebaut. Die Hausmutter der Kleinsten lebt mit einem
der Lehrer zusammen, ihr gemeinsames 5-jähriges Kind wächst in
Summerhill auf. Die Leiterin lebt mit ihrer Familie in der Nähe auf
einer Farm. Alle anderen Lehrer oder Hauseltern sind Singles.
7. 5. Schulgeld und Unterstützungen
7. 5. 1. Schulgeld
Summerhill ist eine private Internatsschule und bekommt von staatlicher Seite keinerlei Untersützung. Deshalb wird für die Kinder Schulgeld eingehoben. Ausgenommen sind drei Kinder, die im Auftrag der Schulbehörde in Summerhill untergebracht sind. Für sie zahlt der Staat.
1992 betrug das Schulgeld für
Wenn jemand mehr Kinder
in Summerhill hat, wird für das jüngere Kind ein Nachlaß
von 5 % gewährt. Kinder von ehemaligen Schülern zahlen 10% weniger.
Werden besondere Kurse besucht (Reiten, Karate, Schwimmen,...) müssen die Eltern extra bezahlen.
Neill mußte immer wieder privates Geld in die Schule investieren, weil manche Eltern nicht zahlen wollten. Schließlich gründeten 1950 einige Eltern ein Komitee, das die Finanzen der Schule verwaltete und dafür sorgte, daß das Schulgeld rechtzeitig bezahlt wurde. Dadurch konnte sich Summerhill finanziell halten.31 Eine neue finanzielle Krise führte 1957 zur Gründung der "Summerhill Society", einer Elterninitiative, die sich an das bestehende Finanzverwaltungskomitee angliederte.
Zwei größere Spendenbeträge vom amerikanischen Schriftsteller Henry Miller hatte Summerhill in den folgenden Jahren bitter nötig. Neill mußte sieben Lehrer beschäftigen, um den Anforderungen des Erziehungs-ministeriums zu genügen. Aber nur 45 Kinder besuchten 1957 die Schule.32
1960 waren es nur noch 24,
und Neill befürchtete, daß er Summerhill bald schließen
müßte. Zu dieser Zeit interessierte sich der amerikanische Verleger
Harold Hart dafür, einige von Neills Büchern in einem Sammelband
zu veröffentlichen, der schließlich 1960 unter dem Titel "Summerhill.
A Radical Approach to Child Rearing", in Amerika erschien. Bereits 1964
gab es eine lange Warteliste von amerikanischen Schülern.
7. 5. 2. Friends of Summerhill Trust
Da die Schule keine öffentlichen Subventionen erhält und die Elternbeiträge nicht ausreichen, die Schule baulich zu erhalten, ist sie auf andere Förderungen angewiesen. Unterstützung erhält die Schule von den "Friends of Summerhill Trust", einer Vereinigung von ehemaligen Schülern, Lehrern und an der Schule interessierten Leuten. 1987 wurde "Friends of Summerhill Trust" mit dem Wohltätigkeitsstatus ausgezeichnet, was bedeutet, daß sie auch aus öffentlichen Geldern Unterstützung erhalten und so der Schule effektiver helfen können.
Der Verein, dem Mitglieder aus aller Welt angehören, ist eine unabhängige Gruppe mit dem alleinigen Zweck, die Schule zu unterstützen und die Ideen von A.S. Neill zu verbreiten.
Zweimal jährlich wird ein "Trust Journal" mit neuesten Informationen, Briefen von Ehemaligen und theoretischen Aufsätzen herausgegeben. Außerdem wird jährlich eine Woche nach Beginn der Sommerferien ein "Friends Weekend" in Summerhill veranstaltet, wo sich Ehemalige und Freunde der Schule treffen und wo zu bestimmten Themen Workshops und Referate angeboten werden.
Mit allen Einnahmen und Spenden
an den Verein werden die zwei Hauptanliegen finanziert. Einmal der Schule
bei Renovierungsarbeiten, bei der Erhaltung der alten Gebäude, beim
Bau neuer Räume oder bei der Ausstattung mit Lehrmitteln zu helfen.
Das zweite große Anliegen des Trust ist es, die Verbreitung der Ideen
von A.S. Neill zu fördern und Geld für Forschungsarbeiten, Stipendien
oder ähnliche Schulen zur Verfügung zu stellen.33
7. 6. Öffentlichkeitsarbeit und Publikationen
Summerhill ist weltbekannt, und doch wissen viele Leute in Leiston nichts von dieser Schule. "Auch wir wußten drei Jahre nichts darüber". Das sagte mir meine Zimmervermieterin in Leiston, und ich habe ihr zunächst nicht geglaubt. Daß in London die Leute Summerhill nicht kennen, habe ich selber durch verschiedene Gespräche erfahren, aber daß es in dieser relativ kleinen Stadt mit ca. 5000 Einwohnern Leute gibt, denen Summerhill kein Begriff ist, konnte ich nicht glauben, bekam aber bald die Bestätigung dafür. Etwa vier Monate vor meinem Besuch lief im Fernsehen ein sehr umstrittener einstündiger Film über Summerhill. Noch Wochen später wurde in den Medien berichtet. Als ich in der Videothek in Leiston fragte, ob sie den Film zufällig hätten oder mir evt. kopieren könnten, war die Verkäuferin völlig überrascht und wußte mit dem Namen "Summerhill" nichts anzufangen.
Auf meine Frage, welche Aktivitäten die Gemeinschaft außerhalb der Schule setzt, antwortete Zoe: "Keine". Manche Kinder hätten wohl Freunde in der Stadt, stoßen aber eher auf wenig Verständnis. Außerdem meinte Zoe, daß Kontakte nach außen auch fördern würde, daß Leute in die Schule hineinkommen. Das aber würde das Zusammenleben komplizierter und schwieriger machen.34
Summerhill selbst betreibt keine gezielte Öffentlichkeitsarbeit. Wenn Zoe oder die Lehrer, Hauseltern oder Schüler Artikel schreiben, dann sind diese für Freunde und Interessenten bestimmt und werden im "Trust Journal" veröffentlicht. Dieses bekommt aber nur eine relativ kleine Gruppe von Leuten, verstreut über die ganze Welt. Möchte man die neueste Literatur über Summerhill lesen, müßte man japanisch können, denn Japaner interessieren sich derzeit am meisten für die Schule.
1992 haben Zoe Readhead und Albert Lamb (ein ehemaliger Schüler und zur Zeit Sekretär der Friends of Summerhill Trust) eine Neuauflage von "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" unter dem Titel "The new Summerhill" herausgebracht.
Artikel in englischen Tageszeitungen oder Interviews im Fernsehen gibt es sporadisch zu besonderen Anlässen. So war 1990 eine Schulinspektion. Der Inspektionsbericht wurde veröffentlicht, und einige Zeit gab es Zeitungsartikel, Kommentare und Leserbriefe zu Summerhill. Auch nach der Veröffentlichung des Inspektionsberichts 1994 gab es einen Medienspektakel über Englands Grenzen hinaus. Deutsche Zeitungen wußten zu berichten, daß Summerhill kurz vor der Schließung stünde.35
Aus Anlaß des 70jährigen Bestehens 1991 wurde ein 5 Minuten Bericht in der Nachrichtensendung des Fernsehens gezeigt. Ein zweites Fernsehteam drehte einen sehr umstrittenen einstündigen Film, der im März 1992 zu sehen war und der nach Ansicht der Schule eher ein Schaden für sie war. Etwa ein Jahr später aber schrieb Zoe in einem Trust Journal, daß sie aufgrund dieses Filmes nun verstärktes Interesse von englischen Schülern hätten. Dieser Film hat aber sicherlich eher dazu beigetragen, daß sich die Schule noch mehr von der Öffentlichkeit abkapselt beziehungsweise noch vorsichtiger gegenüber Außenstehenden ist die sich für die Schule interessieren und Informationen wünschen. Auch ausländische Fernsehteams kommen immer wieder und drehen Dokumentationen für ihr Land. Von der Schule wird das nicht gefördert, eher geduldet.
[
7. 7. Besucher in Summerhill
Ob Besucher in Summerhill
erlaubt werden oder nicht hat sich im Laufe der Jahre ständig geändert.
Es obliegt der Gemeinschaft, darüber zu entscheiden. A.S. Neill hatte
immer sehr viele Besucher und hat zum Teil auch darunter gelitten. Eine
ehemalige Schülerin, heute über 60 Jahre alt, erinnert sich mit
Freude an viele Besucher, die Abwechslung versprachen und von denen man
viel lernen konnte.36 Ein
Schüler hingegen, der in den 70er Jahren in Summerhill war, fühlte
sich wie die Tiere im Zoo zur Besichtigung freigegeben, und er forderte
in einem Meeting den Verbot von Besuchern. Damals kamen an einzelnen Wochenenden
bis zu 300 unangemeldete Besucher.37
Im Herbst 1971 verhängte die Schule schließlich ein Besucherverbot.
So gab es auch Zeiten, in denen Summerhill für Besucher geschlossen
war. Die neueste Regelung ist, daß es dreimal jährlich einen
Besuchertag gibt, zu dem man sich anmelden muß. Der Tag ist klar
strukturiert. Man bekommt eine Führung durch die Schule und hat am
Nachmittag bei Tee und Keksen etwa zwei Stunden Zeit, mit Zoe und einigen
Lehrern und Schülern zu sprechen.
7. 7. Zusammenfassung
Summerhills Erziehungspraxis kann mit dem Begriff Freiheit zusammengefaßt werden. Ein freies Kind, dessen Bedürfnisse von den Erwachsenen akzeptiert werden, benötigt keine speziellen Erziehungsmaßnahmen.
Die Kinder können die
in Summerhill bereitgestellten Anlagen nach Belieben nützen und je
nach ihren Bedürfnissen spielen oder lernen. Sie erwerben weniger
Bücherwissen als praktisches Wissen. Die Kinder schätzen Regeln
und verschaffen sich auch viele. Das Zusammenleben in der Gemeinschaft
erfordert ihren Einsatz als Gestalter von Demokratie.
<< 2 Bruno Bettelheim in: Summerhill, pro und contra, S. 89
<< 3 vgl. Appleton, 1991
<< 4 Neill 1969, S. 60
<< 5 vgl. ORF Report 1992
<< 6 vgl. Neill 1992, S. XII
<< 7 Ena Neill 1982 in: Summerhill ist still nor run by adults
<< 8 Neill 1969, S. 68
<< 9 Neill 1971 in: Die Zeit, 8.1.71, S. 9
<< 10 Neill 1969, S. 67
<< 11 Appleton Matthew, Interview 1992
<< 12 vgl. Education in Britain, S. 5
<< 13 ebd. S. 19
<< 14 ebd. S. 21
<< 15 vgl. ebd. S. 22
<< 16 vgl. J. Thomas, J. Majault, S. 36ff
<< 17 vgl. Education in Britain, S. 22
<< 18 vgl. ebd. S. 22ff
<< 19 vgl. Plankensteiner, S. 73
<< 20 vgl. Gesprächsprotokoll Summerhill Lehrer, 1993
<< 21 vgl. ORF Report 1992
<< 22 Ena Neill, Interview 1992
<< 23 vgl. "Summerhill - It's still alive, S. 381
<< 24 Lucia in Trust Journal Nr. 6, 1991, S. 23
<< 25 Ena Neill 1982 in: Summerhill is still not run by adults Bericht
<< 26 Bericht der Inspektoren 1991, Pkt 47
<< 27 vgl. Gespräch S'hill Lehrer, 1993
<< 28 vgl. Bericht der Inspektoren 1991
<< 29 vgl. Gespräch Kunstlehrer in Summerhill, 1993
<< 30 vgl. Prospekt Summerhill, Stand 1994
<< 31 vgl. Croall, 1983, S. 342
<< 32 vgl. Kühn, 1995, S. 102
<< 33 vgl. Prospekt Friends of Summerhill Trust
<< 34 vgl. Gesprächsprotokoll Zoe Readhead, 1992
<< 35 vgl. Die Welt: 12.2.94: Summerhill Schule droht Schließung
<< 36 vgl. Gesprächsprotokoll Ehemalige Schülerin, 1993
<< 37 vgl. Kühn, 1995, S. 123