Zurück zum Inhaltsverzeichnis     Margit Zellinger: "Summerhill heute" - Diplomarbeit 1996


5. Antiautoritäre Erziehung - ein Schlagwort der 68er Bewegung

Der Begriff "antiautoritär" wird immer wieder mit A.S. Neill und Summerhill in Verbindung gebracht . Das hängt hauptsächlich damit zusammen, daß 1969 im Rohwolt Verlag das Buch "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" erschienen ist. Innerhalb von 6 Monaten hatte es eine Auflage von 325.000 erreicht. Im Jänner 1991 waren es bereits 1.089.000 Exemplare. Die deutsche Erstausgabe unter dem Titel "Erziehung in Summerhill" fand dagegen kaum Interesse.

In diesem Kapitel möchte ich versuchen, die Herkunft und Bedeutung des Begriffs "antiautoritär" zu erläutern und zwei Richtungen gegeneinander abzugrenzen.
 

5.1. Herkunft und Bedeutung der Bezeichnung"antiautoritäre Erziehung"

Es ist nicht leicht, antiautoritäre Erziehung zu definieren, da verschiedene Einflüsse und Tendenzen zusammenkommen. "Da ist die von der Reformpädagogik beeinflußte Praxis A. S. Neills, ferner der von der Psychoanalyse ausgehende Versuch einer neuen Erziehungspraxis und nicht zuletzt die gesellschaftspolitische Bestrebung einer sozialistischen Erziehung."1

Der Begriff "antiautoritär" ist vor 1967 nicht nachweisbar, obwohl in einem Aufsatz von F. Engels (1873) das Wort "Antiautoritarier" auftauchte.2 Ab 1967 findet sich der Begriff "antiautoritär" bei politisch engagierten Studenten, wobei die Vorsilbe "anti" ein rein rhetorisches Mittel darstellte, um eine politische Abweichung oder Gegenposition zu kennzeichnen. Anfang 1967 bildeten sich in Berlin Wohnkommunen innerhalb der radikalen sozialistischen Studentenbewegung, die sich als "antiautoritäres Lager" bezeichneten. Ihre Anliegen waren politisch bestimmt. Sie wollten die "praktische Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse".3 "Verhaltensweisen, die als ein äußerer Zwang, als geheime oder offene Machtausübung erscheinen, werden als `autoritär` begriffen, und die Rebellion zielt dann auf die Befreiung von diesen ... einschränkenden Zwängen".4

Pädagogische Interessen kamen erst später dazu, als es darum ging, in den Kommunen auch Kinder zu erziehen, beziehungsweise als ab September 1967 in vielen Universitätsstädten Deutschlands (z.B. Frankfurt, Berlin, München, Bochum) "Kinderläden" gegründet wurden. Politisch engagierte Studentenmütter suchten nach einer Lösung für ihr Kinderproblem. In den herkömmlichen Kindergärten gab es zu wenig Plätze, und außerdem entsprachen die dort praktizierten Methoden nicht ihren Vorstellungen.5

"Das Wort `Kinderladen` ist eine Wortprägung der `antiautoritären Protestbewegung`, die zunächst in Berlin leerstehende Einzelhandelsgeschäfte = Läden mietete, um sie als Unterkünfte für ihre `antiautoritäre Erziehungspraxis` zu benützen.6 Die "Kinderläden" waren zunächst "Bewahranstalten und Inseln einer repressionsfreien Erziehung".7 Als ein Modell antiautoritärer Erziehung wurde in Flugblättern und Dokumenten der Studenten immer wieder auch die Schule in Summerhill von A.S. Neill genannt.8

Das 1965 erschienene Buch A.S. Neill: "Erziehung in Summerhill, das revolutionäre Beispiel einer freien Schule"9, das, wie bereits erwähnt, keine große Leserschaft fand, erreichte unter dem neuen, etwas frei übersetzten, dafür aber modischen Titel: "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" (1969) schon nach einem halben Jahr eine Auflage von 325.000. An der Verbreitung des Wortes "antiautoritär" dürfte dieses Taschenbuch maßgeblich beteiligt gewesen sein.10 Sein Inhalt hat allerdings wenig mit dem politischen Kampf und der revolutionierenden Rhetorik der sozialistischen Studenten und Schüler zu tun. Neill bemerkte dazu: "Es ist der Titel des Verlags, nicht der meine. Verschiedene junge Deutsche versuchen, das Buch in ihrem Kampf für Kommunismus oder Sozialdemokratie oder was auch immer zu verwenden. Ich sage Ihnen, daß das Buch nichts mit Politik zu tun hat."11

Es ist also wichtig zwischen der "revolutionierenden Richtung" der sozialistischen Studenten und der "individualistischen Richtung", zu der A.S. Neill gerechnet werden kann, zu unterscheiden.
 

5. 2. Die revolutionierende Richtung

Statt Autoritätshörigkeit, Anpassung und Unterdrückung wollte man die Freiheit und das Glück des Kindes. Erziehungsprinzip war die "Selbstregulation". Die Kinder sollten ihre Bedürfnisse in allen Bereichen (Essen, Schlafen, Sexualität, Spielen, Lernen,...) frei äußern und selbst regulieren können. Verbunden mit der repressionsfreien Erziehung waren Ziele des Klassenkampfes. Famililäre Strukturen und die öffentliche Erziehung werden als repressive Mittel der bürgerlichen Gesellschaft gesehen, die dazu dienen, das herrschende Gesellschaftssystem zu reproduzieren. Antiautoritäre Erziehung war "Teil eines politischen Kampfes und ihr Ziel der künftige sozialistische Revolutionär".12 Indem der Mensch in den Dienst revolutionärer Ziele genommen wird, pervertiert die an der bürgerlichen Gesellschaft geübte Kritik. "Antiautoritäre Erziehung als sozialistische Erziehung zum Klassenkampf verneint den Menschen als selbständiges Subjekt und macht ihn äußerst autoritär zum Objekt der Revolution, obwohl behauptet wird, der Mensch solle autonom und frei werden. ... Die implizite in der `antiautoritären Erziehung` enthaltene Autoritätsauffassung entpuppt sich damit als äußerst autoritäre Manipulation..."13 Autorität wurde hier im doppelten Sinn gebraucht. Einerseits als "die zu bekämpfende des herrschenden Systems" und andererseits als "die zu bejahende der eigenen Ideologie".14
 

5. 3. Individualistische Richtung

Das "Anti" richtete sich hier nicht gegen eine äußerliche, sondern gegen eine verinnerlichte Autorität. Nicht die Gesellschaft sollte durch die Auflehnung gegen die herrschende Autorität verändert werden, sondern die Bildung autoritätshöriger Charakterstrukturen sollte verhindert werden. "Ich sehe meine Aufgabe nicht in erster Linie in der Änderung der Gesellschaft, sondern darin, wenigstens einige Kinder glücklich zu machen".15

"... freisetzende Erziehung, wie Neill sie versteht, definiert sich nicht durch ihr `Anti` sondern durch ihr `Pro` , nicht durch ... Rebellentum, sondern durch unbedingte Bejahung des kindlichen Lebens".16

Neill glaubte an das Gute im Kind und an das Prinzip der Selbstregulierung und Selbstbestimmung. Alle autoritären Strukturen, die das Kind daran hindern, frei und glücklich zu sein, sollten aufgehoben werden. Das heißt unter anderen: keine Disziplinierungsmaßnahmen, keine suggestive Beeinflussung, keine religiöse Unterweisung, keine Repression des sexuellen Bereichs, Gleichberechtigung und Partnerschaftlichkeit, freiwillige Teilnahme am Unterricht, Kreativität statt Anleitung, Entfaltung der Gefühle statt Betonung des Intellekts, Selbstregulierung der auftretenden Konflikte.

Neill unterscheidet aber sehr klar zwischen Freiheit und Zügellosigkeit. Die Freiheit des anderen muß geachtet werden. "Antiautorität, wie ich sie verstehe, hat nichts mit Politik zu tun. Summerhill ist dann antiautoritär, wenn unter "autoritär" die Herrschaft der Erwachsenen über die Kinder verstanden wird. In der Praxis haben wir unsere eigene Autorität: die Schulversammlung."17 (s. dazu Kap. 7.2.) Einerseits existiert Summerhill "ohne jede Autorität", andererseits "gibt es natürliche Autorität. ... Diese Art von Autorität kann man vielleicht Schutz, Fürsorge, Verantwortung der Erwachsenen nennen. Eine solche Autorität verlangt manchmal Gehorsam, doch bei anderer Gelegenheit gehorcht sie auch."18

In Neills "antiautoritärer Erziehung" findet man sehr wohl "Autorität". Vielleicht ist das auch der Grund, daß seine "antiautoritäre" Schule bereits 75 Jahre existiert, während die "antiautoritäre" Erziehungsbewegung der sozialistischen Studenten bereits nach drei Jahren scheiterte. Für die sozialistischen Studenten war "Autorität" absolut schlecht und "Autonomie" absolut gut. Das heißt jedoch, daß sie von einem "abstrakt gedachten Gegensatz von Autorität und Freiheit"19 ausgingen, während Neill Freiheit und Autorität zu vereinen versuchte.



<< 1   Claßen, 1971, S.3

<< 2  Dieser Aufsatz richtete sich gegen "anarchistische Tendenzen in der sozialistischen Bewegung"
(vgl. Claßen, 1978, S. 657)
 

<< 3  Claßen, 1978, S. 657

<< 4  Höltershinken, 1971, S. 139

<< 5  Die Kinderlädengründungen standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Vietnamdemonstrationen im Jänner 1968

<< 6  Claßen, 1978, S. 660

<< 7  Paffrath, 1971, S. 300

<< 8  Daneben wurden auch das Moskauer Kinderheim-Laboratorium von W. SCHMIDT (vgl. Höltershinken, 1971, S. 146ff) und das Kinderheim "Baumgarten" von S.BERNFELD angeführt.
Alle drei sind der pädagogischen Reformbewegung zuzuordnen. BERNFELD gründete1919 in Wien das Kinderheim "Baumgarten", wo er seine Erziehungsideen zu verwirklichen suchte
 

<< 9  9 Originaltitel: Summerhill, a redical approach to child rearing

<< 10  Unter dem ebenfalls modischen Titel "Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse" wurden die Schriften von SIEGFRIED BERNFELD in Auszügen zusammengestellt und veröffentlicht

<< 11  Neill, 1972,  S. 246

<< 12  Krieger Hans, Das Beispiel Summerhill, 1970, S. 15

<< 13  Claßen, 1978, S. 664

<< 14  Krieger, 1970, S. 15

<< 15  Neill, 1969, S. 40

<< 16  Krieger, 1970, S. 15

<< 17  Neill, Antiautorität, in Die Zeit, 1970, S. 25

<< 18  Neill, 1969, S. 158

<< 19  Höltershinken, 1971, S. 139