Als A.S. Neill 1920 die King
Alfred School verlassen mußte, hatte er für sich schon beschlossen,
eine eigene Schule aufzubauen. Er begann sich in den Londoner Vororten
nach einem geeigneten Platz für seine "self-governing community"1
umzusehen. Eine zeitlang schien es, als könnte er eine bestehende
Schule übernehmen, was aber daran scheiterte, daß sie verkauft
und nicht vermietet wurde. Sein Lehrergehalt und seine Einnahmen aus dem
Verkauf seiner ersten erfolgreichen Bücher reichten nicht aus, seinen
Traum zu verwirklichen.
4. 1. New Era, London,
1920
Im Jänner 1920, als Neill noch Lehrer an der King Alfred School war, erschien die erste Ausgabe des neuen vierteljährlichen Magazins "The New Era". Im Juni trat Neill seinen neuen Arbeitsplatz als "co-editor of Education for the New Era" an2. Hier hatte er ausreichend Gelegenheit, sein schriftstellerisches Talent weiterzuentwickeln und gleichzeitig aus erster Hand zu erfahren, wie andere Männer und Frauen, die wie er gegen traditionelle Methoden und Strukturen rebellierten, ihre Erziehungsexperimente ausführten. In seinen Artikeln in der Zeitschrift "New Era" griff er sehr heftig Lehrer und das Schulsystem an. Für Neill war klar, daß es für die Kinder wichtig wäre, daß sie ihren Vorlieben entsprechend handeln können, ganz egal, wie sinnlos diese Handlungen den Erwachsenen auch erscheinen mögen.
Eine Idee der New Era-Herausgeber,
Beatrix Ensor und A.S. Neill, war: "to establish an `International Fellowship
of Teachers, to meet in annual conference`"3.Das
erste Treffen fand im Juli 1921 in Calais statt und führte zur Gründung
der "New Education Fellowship", einer internationalen reformpädagogischen
Vereinigung4. Neill hielt
bei der Gründungssitzung in Calais einen Vortrag mit dem Titel: "The
Abolition of Authority" ("Die Abschaffung von Autorität"). Einige
Teilnehmer fanden Neills Ideen "dangerous" und "anarchic"5.
Im Anschluß an Calais war Neill im Auftrag von "New Era" in Europa
als Reporter unterwegs. Er sollte über Erfahrungen mit neuen Erziehungsexperimenten
berichten. Gleichzeitig war er auf der Suche nach einem Ort, wo er seine
Ideen über Erziehung verwirklichen könnte. Über Brüssel
reiste er nach Salzburg, wo er an einer weiteren Konferenz teilnahm, die
von einer Organisation namens "Womens International League for Peace and
Freedom", veranstaltet wurde und Themen zu Psychologie, Erziehung und Politik
zum Gegenstand hatte.
4. 2. Die Internationale Schule, Hellerau, 1921 - 1923
Von Salzburg aus sollte Neill im Auftrag von "New Era" Deutschland bereisen und über die Arbeit der unterschiedlichsten Reformschulen berichten. Sein erster Weg führte ihn auf Einladung von Lilian NEUSTÄTTER, nach Dresden. Sie war Australierin, die in Hellerau, einem Vorort von Dresden, mit ihrem Mann, dem Augenarzt Dr. Otto NEUSTÄTTER und dem gemeinsamen Sohn wohnte. Bei Kriegsausbruch hielt sich Lilian NEUSTÄTTER in England auf, wo sie auch bis Kriegsende blieb. Ihren Sohn ließ sie in der King Alfred School unterrichten (1918). Auf diese Weise lernte sie Neill kennen. Neill besuchte sie regelmäßig. In stundenlangen Gesprächen diskutierten sie die Pläne seiner neuen Schule. Lilian war von der Idee so begeistert, daß sie sogar ihren Mann in Deutschland davon zu überzeugen versuchte, nach England zu kommen, um beim Aufbau der neuen Schule mitzuarbeiten. Doch als der Krieg zu Ende war, wollte Otto NEUSTÄTTER, daß seine Frau zurück nach Deutschland kommt. Da die Verwirklichung der Schulpläne in England aus finanziellen Gründen nicht möglich war, gab sie dem Drängen ihres Mannes nach und kehrte nach Hellerau zurück.
Hellerau war in Form einer "Gartenstadt" angelegt. Es war eines der ersten Projekte der Gründerväter des 1907 in München gegründeten deutschen Werkbundes und war ursprünglich als Platz für Künstler und Kunsthandwerker geplant. Zentrales Gebäude dieser Gartenstadt Hellerau war die 1911 fertiggestellte Jacques-Dalcroze-Schule. Der Erbauer, Wolf Dohrn, ein Violinist, wollte damit ein Weltzentrum für "all that is noblest and best in education"6 errichten. Von Beginn an war die Schule einer neuen Art von Tanz und Bewegung, der Eurhythmie, gewidmet. Sie wurde von deren Urheber, Jacques Dalcroze, geleitet.
Neill war Dalcroze schon 1912 begegnet, als dieser in der Queen`s Hall in London seine Eurhythmie demonstrierte. Später, als Lehrer in Gretna Green bekam er einen bebilderten Artikel über die Dalcroze Schule zu lesen und war schon damals von der Schule begeistert. Er vermerkte in seinem Tagebuch: "Die Fotographien waren wunderschöne Studien der Anmut; die Schule ist offenbar voller Pavlovas7. Ich denke, ich sollte ein Eurhythmie-System auf Basis der Photographien einrichten."8
In Dresden angekommen, vernachläßigte Neill bald seinen ursprünglichen Auftrag, was aus mehreren provokanten Berichten an die Herausgeberin der "New Era" hervorgeht. Einer seiner Berichte bestand aus einem Brief, den er an die Herausgeberin Beatrice Ensor schrieb: "Liebe Mrs. Ensor! Ich weiß, Sie stellen sich vor, daß ich meine Zeit damit verbringe herumzurennen, um die Schulen Deutschlands zu besuchen. Die Wahrheit ist, daß ich den Tag damit verbringe, in der Sonne zu liegen. Gegenwärtig interessiere ich mich weit mehr für Sonnenbaden, Bier und Tabak als für all die neuen Erziehungsexperimente."9 Über die Dalcroze-Schule schrieb er in der Fortsetzung des Artikels: "Ich warne sie ernsthaft, daß ich nicht nach London zurückkehre, bevor ich nicht einen vollen Kurs hier besucht habe."10
Damals, 1921, wurde die Eurhythmie-Abteilung
der Dalcroce Schule von der Amerikanerin Christine Baer, einer Schülerin
Emile Jacques- Dalcrozes, geleitet. Etwa 50 Frauen studierten Eurhythmie,
um Tanz- oder Gymnastiklehrerinnen zu werden. Als zweite Abteilung der
Dalcroce Schule entstand über eine Elterninitiative die "Neue deutsche
Schule".
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Neill war zu dieser Zeit
in Deutschland aufgrund des günstigen Wechselkurses ein reicher Engländer
und überlegte, in Wien ein Schloß zu kaufen und dort eine Internationale
Schule einzurichten. Doch Christine Baer bot ihm an, neben ihrer Schule
und der "Neuen deutschen Schule", eine internationale Schule nach seinen
Vorstellungen zu gründen. So entstand die "Neue deutsche Schule GmbH",
deren Leiter Dr. Otto Neustätter wurde. Die nun neu organisierte "Internationale
Schule" bestand aus drei Abteilungen: der "Eurhythmie Abteilung" unter
Christine Baer, der "Neuen deutschen Schule" unter dem vorherigen Leiter
Dr. Theil und der "Ausländer Abteilung", die von A.S. Neill geführt
wurde. Dies ist die "Geburtsstunde" von Summerhill.
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Eurythmie Abteilung | Neue deutsche Schule | Ausländer Abteilung |
(Leiterin: Chr. Baer) | (Leiter: Dr. Theil) | (Leiter: A.S. Neill) |
Die drei Abteilungen waren eng miteinander verbunden. Die Rhythmik-Schülerinnen Christine Baers besuchten auch Neills internationale Schule, und Neill unterrichtete Englisch an der "Neuen deutschen Schule".
Das Lehrerkollegium an Neills Schule bestand aus Persönlichkeiten, die er sehr schätzte. Zufällig traf er an einer Straßenbahnhaltestelle in Dresden Willa Muir, eine frühere Studienkollegin. Sie war mit ihrem Mann, Edwin Muir, einem englischen Schriftsteller, in Europa unterwegs und nahm Neills Angebot, an seiner Schule zu unterrichten, an. Ein weiterer Lehrer war Prof. Zutt, der zuvor 15 Jahre lang eine Handwerkerschule in Budapest geleitet hatte11. Er ermutigte Neill, selbst praktische Arbeiten auszuführen. Von der Zeit an beschäftigte sich auch Neill mit Holz- und Metallbearbeitung. Künftig sollte an keiner Schule, die er betrieb, eine Werkstatt fehlen12.
Fünf Minuten von der Dalcroze Schule entfernt stand ein leerstehendes Haus, das zu einem Schülerheim umfunktioniert wurde. Lilian Neustätter übernahm die Organisation des Schülerheimes, in dem sowohl die Lehrer als auch die Schüler untergebracht waren. Lilian wurde bald eine Mutterfigur für die Eurhythmieschüler und die jüngeren Schüler an Neills Schule, Neill übernahm so etwas wie eine Vaterrolle13.
Neill hatte in der "New Era" inseriert und die Gründung der "Internationalen Schule" bekanntgegeben. Daraus resultierte, daß vier seiner Schüler aus England kamen. Von den übrigen Schüler waren einer aus Russland, zwei aus Belgien, einer aus Norwegen und drei aus Jugoslawien. Er nahm auch drei deutsche Kinder auf, die aber aus Gründen der Schulgesetzgebung an der deutschen Abteilung angemeldet waren14.
Schon nach einiger Zeit stellten sich Schwierigkeiten in der Kooperation mit den Kollegen der "Neuen deutschen Schule" ein. Neill hatte das Gefühl, daß diese an Erziehung und Charakterformung interessiert waren, aber nicht an den Kindern. Die Ernsthaftigkeit und Humorlosigkeit der deutschen Pädagogen, die Charlie Chaplins Filme aus Mangel an erzieherischem Wert ablehnten, machten Neill zu schaffen. Die "Neue deutsche Schule" wurde von Idealisten betrieben, von denen die meisten der Jugendbewegung Deutschlands angehörten. Sie verurteilten Tabak, Alkohol, Foxtrott und Kinos; sie trugen Wandervögel-Kleidung. "Wir auf der anderen Seite hatten andere Ideale! Wir waren gewöhnliche Menschen, die Bier tranken und rauchten und Foxtrott tanzten. Unsere Absicht war es, unser eigenes Leben zu leben, während wir den Kindern freistellten, ihr eigenes Leben zu leben. Wir gingen davon aus, daß Kinder ihre eigenen Ideale bilden würden."15
Im Schülerheim war Neill für das obere Stockwerk zuständig, der Leiter der deutschen Abteilung für das untere. Wenn Neill mit seinen Schülern zu Gramophonplatten tanzte kam es vor, daß sich Schüler des unteren Stockwerks die Hintertreppe hinaufschlichen um mitzutanzen anstatt Goethe oder Nietsche vorgelesen zu bekommen. Das führte zu Verstimmungen.16
Später übernahm Hermann Harless die Leitung der deutschen Abteilung. Harless hatte bis 1920 an Paul Geheebs Odenwaldschule gearbeitet und gründete später das Landerziehungsheim Marquartstein in Oberbayern17. Befriedigt stellte Neill fest, daß er und Harless an dieselben Dinge glaubten.18
In Hellerau schrieb Neill das vierte seiner Dominie-Bücher, "A Dominie Abroad". Er beschreibt darin nahezu in Form eines Tagebuches seine Erlebnisse in Deutschland. Offenbar sollte das Buch auch bewirken, daß englische Leser ihre Kinder nach Hellerau schicken. Als "A Dominie Abroad" erschien, war Neill aber bereits dabei, Deutschland zu verlassen.
Die Hintergründe dafür
beschreibt er folgendermaßen: "1923 brach in Sachsen die Revolution
aus. In den Straßen von Dresden wurde geschossen. Unsere Schule wurde
immer leerer."19 Nationalismus
und Antisemitismus waren Gang und Gäbe. Das Ruhrgebiet war von den
Franzosen annektiert worden, und die hohe Inflation hatte Neills Ersparnisse
wertlos gemacht. Die Neue Schule mußt zusperren, nachdem viele Eltern
ihre Kinder wegen der politischen Spannungen in diesem Gebiet nach Hause
geholt hatten. Als die Eltern der ausländischen Kinder ängstlich
forderten, ihre Kinder nach Hause zu bringen, entschied Neill, Deutschland
zu verlassen.
4. 3. Österreich, Sonntagberg (1923 - 1924)
Obwohl Neill einige Engländer unter seinen Schülern gehabt hatte, sah er im kontinentalen Europa einen geeigneteren Ort,sein Schulexperiment weiterzubetreiben als in England. 1923, nach dem Zusammenbruch des Hellerauer Projekts, verlegte Christine Baer ihre Eurhythmieabteilung nach Schloß Laxenburg in der Nähe von Wien. Das nahm Neill zum Anlaß, nach Österreich zu reisen und in Wien nach einem geeigneten Ort für seine Schule zu suchen. Hier traf er nach einigen Wochen auf Oskar Bock, den Sekretär des Akademischen Wohlfahrts Werk, einer Jugendbewegung. Oskar Bock leitete auf dem Sonntagberg, in Niederösterreich, ein Kinderheim in einem ehemaligen Hotel und er bot Neill zwei nicht genutzte Stockwerke des Gebäudes an20. Der Sonntagberg ist ein 700 m hoher, den Alpen vorgelagerter Berg, mit Blick weit über das Land, die Donau, die Alpen, bis hinein nach Böhmen und Bayern. Die Ansichtskarte zeigt links vor der Kirche Neills Schule in Österreich.
Foto 13: Neills Schule in
Österreich
Das ehemalige Schulgebäude wird derzeit renoviert und zu einem Hospiz ausgebaut (Foto Nr. 14 und 15 vom März 1994).
Foto 14: ehemaliges Schulgebäude (März 1994) (40 kB)
Foto 15: ehemaliges Schulgebäude
(März 1994) (64 Kb)
Während Neill nach England zurückfuhr um einige Schüler abzuholen, bereitete Lilian NEUSTÄTTER in Sonntagberg alles für ihre Ankunft vor. Lilian hatte sich in der Zwischenzeit von ihrem Mann getrennt und verwendete ihre Energie darauf, gemeinsam mit Neill ihre Schule am Sonntagberg aufzubauen.
Am Montag den 20 Jänner 1924 verließ eine kleine Gruppe Schüler (Angus, Derek, Donald, Geoff Carter, Neillie, ein Neffe von Neill) mit A.S. Neill England. Über Dover, Calais, Paris, Basel, Zürich, Innsbruck, Amstetten gings per Fähre und Bahn bis Rosenau, wo sie am 22. Jänner um 6.30 Uhr früh ankamen. Die Gruppe wurde mit einem Ochsenkarren abgeholt und mußte bei eisiger Kälte etwa eine Stunde den Berg hinauf, wo ihre Schule im Hotel Sonntagberg untergebracht war, das neben der berühmten Wallfahrtskirche der Heiligen Dreieinigkeit stand. Daneben gab es oben am Sonntagberg noch ein Gasthaus und drei kleine Geschäfte, die Ansichtskarten und Souveniers verkauften.21
Die Mitarbeiter an der Schule am Sonntagberg setzten sich zum Teil aus ehemaligen Mitarbeitern aus Hellerau, aber auch aus neu hinzukommendem Personal zusammen: Lilian Neustätter leitete das Schülerheim. Willa und Edwin Muir kamen nach einer längeren Reise im Mai 1924 auf den Sonntagberg. Neu dazu kamen: Willa Muirs Bruder Willie Anderson, ein italienischer Tischler und Klavierspieler namens Guiseppe, eine polnische Erzieherin, die Lilian bei der Leitung des Schülerheims half, eine deutsche Köchin und ein österreichisches Hausmeisterehepaar. Daneben gab es immer wieder internationale Gäste, die Neill und seine Schule besuchten. Eines Tages kam eine junge Engländerin mit Rucksack den Berg hoch. Es war Brownen Jones. Sie war die erste Erwachsene, die sich der Schule als Lehrerin anschloß. Zuvor unterrichtete sie einige Jahre in Cambridge Mathematik. Während der Ferien in Wien hatte sie einige Lektionen von Freuds neuen Theorien gehört. Sie hatte viele Interessen, unterrichtete neben Mathematik auch Astronomie und Photographie und blieb viele Jahre als Lehrerin an Neills Schule.22
Dieser Schar von elf Erwachsenen standen neun Schüler und Schülerinnen gegenüber. Fünf davon kamen aus England. Regulären Unterricht gab es am Sonntagberg nicht. Wenn jemand Fragen hatte, wurde eine Gruppe gebildet, die sich mit verschiedenen Sachverhalten auseinandersetzte. Es wurden einfache Fotoapparate gebastelt und das Zimmer der Lehrerin in eine Dunkelkammer umfunktioniert. Mit Ton, den die Schüler beim nahen Teich fanden, wurden keramische Experimente gemacht. Auch sonst entdeckten die Schüler vieles, das sie interessierte. So konnten sie auf einem nahegelegenen Bauernhof kleine Schweine mit der Flasche großziehen. Sie lernten Ski fahren, bauten Baumhütten im Wald und im nahegelegenen Teich konnten sie schwimmen. An den Abenden wurde viel getanzt und gesungen.23
Im März 1924 stellte Neill ein offizielles Ansuchen zur Eröffnung seiner Privatschule in Sonntagberg. Er wurde daraufhin vom Landesschulrat für Niederösterreich aufgefordert, seinem Ansuchen "ein in deutscher Sprache verfaßtes Programm ... der Schule, die Schulbefähigungszeugnisse und Zeugnisse über die sittliche Unbescholtenheit des Vorstehers und der Lehrer sowie genaue Angaben und Belege über die Unterbringung der Anstalt beizuschließen"24. (Siehe dazu den Brief des Landesschulrats für Niederösterreich an den Bezirksschulrat Amstetten)
Brief des Landesschulrats
(176 kB)
Neill wollte darüber mit dem zuständigen Bezirksschulrat in Amstetten diskutieren. Dazu kam es aber nicht. Eines Tages kam ein Gendarm mit aufgepflanztem Bajonett auf den Sonntagberg, der Neill mit dem Hinweis auf das Schulgesetz von 1869 einen umfassenden Fragekatalog vorlegte. Neill sollte beantworten, ob seine Schüler Religionsunterricht erhielten, ob alle Mädchen die vorgeschriebenen Stunden Hauswirtschaftsunterricht und alle Knaben die vorgeschriebenen Turnstunden absolvierten. Es wurde also von ihm verlangt, den in Österreich geltenden Lehrplan einzuhalten. Neill verweigerte jede Aussage. Er nahm den Fragekatalog auch nicht entgegen.25 Neill wurde schließlich nach Wien ins Unterrichtsministerium zitiert. In seiner Autobiographie schildert er eine Szene davon: "`Herr Neill, unterrichten Sie Religion?` `Nein!` Daraufhin griff der Beamte nach einem dicken Band und las die gesetzlichen Bestimmungen vor: Jede österreichische Schule müsse Religion unterrichten. Ich erklärte ihm, daß ich keine österreichischen Kinder hätte, aber das wurde nicht als Entschuldigung akzeptiert. Das Gesetz müsse befolgt werden."26
Daraufhin entschied Neill
mit seiner Schule nicht weiter in Österreich zu bleiben, was er am
8. Mai 1924 dem Bezirksschulrat mitteilte.27
Brief Neill's vom 8. Mai
1924 (72 kB)
Die Schüler blieben
noch einige Wochen offiziell als Besucher auf dem Sonntagberg. Am 9. Juli
1924 verließ Neill mit den letzten der Gruppe Österreich28.
Der Bezirksschulrat Amstetten bestätigte das im August 1924 der BH
Rosenau
Brief des Bezirksschulrats
Amstetten an die BH Rosenau (84 kB)
Abgesehen von den behördlichen Problemen war auch sonst das Leben auf dem Sonntagberg für Neill eher schwierig und anstrengend. Die Problemkinder, die er bei sich hatte, verlangten viel von seiner Zeit und Energie. Einer der Schüler versuchte das Haus niederzubrennen, indem er im Keller ein Feuer machte. Andere wieder hatten im Souvenierladen einige Kerzen und ein Kruzifix gestohlen. Diese Probleme konnte Neill durch sein intensives Eingehen und sich Beschäftigen mit den einzelnen Kindern lösen. Bei einer Gelegenheit aber fühlte auch er sich überfordert. Ein Junge, dessen Hund aus dem zweiten Stock gefallen war und getötet werden mußte, erlitt einen traumatischen Schock. Neill begleitete ihn zu Wilhelm STEKEL29, einem Wiener Analytiker, zu dem Neill selbst regelmäßig als Patient ging.30
Die Probleme mit der ansäßigen Bevölkerung begannen, als zu Ostern 1924 die Wallfahrten wieder einsetzten. Viele Pilger kamen, um hier die Osterliturgie zu feiern. Rund um die Kirche standen steinerne Heiligenstatuen, denen Neills Schüler mittels Spiegelreflex Heiligenscheine verliehen. Foto Nr. 16 zeigt eine dieser Heiligenstatuen. "Als der Trick der Kinder herauskam, wunderte ich mich, daß wir nicht gelyncht wurden, denn die einheimischen Bauern waren die abscheulichsten Menschen, denen ich je begegnete."31
Die Dorfbewohner nahmen Anstoß daran daß sich ein 9jähriges Mädchen, nur mit Badeanzug bekleidet, sonnte. Angeblich warfen sie Flaschenscherben in den von den Schülern benutzten Schwimmteich32. Ein damaliger Schüler erzählt von einem anderen Vorfall: "Ich fuhr rund um die Kirchenstiegen auf meinem Roller, und das hat die Geistlichkeit sehr aufgebracht. Sie verlangten von mir, daß ich alle Stiegen auf den Knien hinaufrutsche und auf jeder Stufe ein Gebet um Vergebung spreche."33 Neill konnte das verhindern. Aber diese und weitere Vorfälle machten es ihm wahrscheinlich auch leicht, vom Sonntagberg wieder wegzugehen. Zu allem Überfluß ging im Juni die Bank in Konkurs, an der Neill sein Geld deponiert hatte.
Foto 16: Heiligenstatue am
Sonntagberg (60 kB)
Angus, einer der Schüler
am Sonntagberg, beschreibt, allen Widrigkeiten zum Trotz, in seinen Aufzeichnungen
seine Ankunft zu Hause in Schottland folgendermaßen: "And so - I
was home again - home, after the happiest and most enjoyable time I have
ever spent in my life!"34
4. 4. England, Lyme Regies, 1924 -1927
Nach einigen Monaten entschied
Neill, sein Schulexperiment in England weiterzuführen. Nach seinen
Erfahrungen in Deutschland und Österreicht kam er zur Ansicht, daß
England noch immer "das freieste Land der Welt"
wäre.35
Die Schwester von Lilian Neustätter, die in Lyme Regis einen Zweitwohnsitz
hatte, fand dort ein Haus auf dem "Summer Hill", das Neill für drei
Jahre mietete. Lyme Regis war eine kleine attraktive Stadt an der Südküste
in der Grafschaft Dorset, damals fünf Bahnstunden südwestlich
von London gelegen. "Summerhill" lag etwa 60 m über dem Meeresspiegel
mit einem herrlichen Blück über die Stadt und über die Bay
von Lyme. Mit fünf Kindern aus Sonntagberg, "drei, die den halben
Satz bezahlten, und zwei, die gar nichts bezahlten"36
begann er unter ärmlichen Umständen die "Schule Summerhill".
Mit dabei auch Lilian NEUSTÄTTER, die ihn nach England begleitete
und die, wie bereits oben erwähnt, 1925 seine Frau wurde.
Im Oktober 1924 erschien folgende Notiz in der "New Era": " A.S. Neill, der Dominie, hat seine Internationale Schule heimgebracht und sich in Summerhill, Lyme Regis, niedergelassen. Er spezialisiert sich auf Problemkinder und sagt, daß er Jungen und Mädchen aufnehmen will, die an anderen Schulen beschwerlich, faul, träge, antisozial sind. Standhaft weigert er sich, Kompromisse einzugehen..."Hier ist meine Schule", sagt er den Eltern, "absolute Freiheit zu arbeiten oder zu spielen. Nehmt es an oder laßt es bleiben.""37
Nach der Veröffentlichung
von Neills achtem Buch "The Problem Child", 192638,
gab es wohl genügend Schulanmeldungen, die finanziellen Probleme hielten
aber an. "Da Lyme ein Ferienort war, verwandelten wir die Schule während
der Ferien in eine Pension und konnten uns so über Wasser halten."39
Nach Ablauf des Dreijahresmietvertrages gab es 27 Schüler in Summerhill,
aber kein Schulhaus mehr, da der Vertrag nicht verlängert wurde. So
suchte Neill an der Süd- und Ostküste Englands nach einem passenden
Ort, den er schließlich in Leiston, in der Grafschaft Suffolk fand.
4. 5. Leiston, 1927-1940, 1945-....
Leiston war eine Kleinstadt, die ihre eigentliche Existenz einer Fabrik verdankte, die dampfbetriebene Traktoren und andere landwirtschaftliche Maschinen herstellte. Heute erlebt Leiston einen Aufschwung durch ein nur 3 km entfernt am Meer erbautes Atomkraftwerk. Viele Leute in der Stadt leben von der Zimmervermietung an die Arbeiter des Atomkraftwerks.
In Leiston etablierte sich seit Herbst 1927 die Schule. Der Name "Summerhill" wurde von Lyme Regis mitübernommen. Zum Zeitpunkt des Umzugs waren 31 Schüler in Summerhill. Bis 1934 erhöhte sich ihre Zahl auf 70.40 Neill mußte für den Kauf des Schulgebäudes und des Geländes eine Hypothek aufnehmen. Aufgrund der beschränkten finanziellen Möglichkeiten wurde viel improvisiert. Aufgelassene Eisenbahnwaggons vom nahen Bahnhof wurden die Schlaflager für die älteren Buben. Die Sitzgelegenheiten der Lehrer bestanden aus alten Autositzen vom Schrottplatz.41
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mußten Neill und seine Schüler Leiston für fünf Jahre verlassen, als nach den Kämpfen in Dünkirchen mit einer Invasion zu rechnen war. Die Schule übersiedelte nach Festiniogh in Nord-Wales (Foto 17).
Neill berichtet darüber: "Wales war die Hölle für mich, ... die Jahre in Festiniogh eine Leidenszeit."42 Einer seiner Schüler ertrank, seine Frau erlitt einen Schlaganfall und starb 1944. "Die Schule war kein richtiges Summerhill. Es gab Eltern, die uns ihre Kinder schickten, nicht damit sie in Freiheit aufwuchsen, sondern damit sie in Sicherheit waren, und als der Krieg aufhörte, holten die Eltern ihre Kinder wieder zurück. Die Schule war überfüllt. Die Lebensmittel waren rationiert,..."43
Foto 17: Schulgebäude
in Festiniogh (52 kB)
Nach den fünf Jahren in Nord-Wales ging es wieder zurück nach Leiston, wo die Schule heute, mehr als 20 Jahre nach dem Tod seines Gründers, noch existiert.
In all den Jahren gab es immer wieder finanzielle Sorgen. Die Zahl der Schüler schwankte zwischen 40 und 65. So kamen zum Beispiel viele amerikanische Schüler nach der Veröffentlichung von Neills Buch: "Summerhill. A Radical Approach to Child Rearing", 1960. Heute sind etwa ein Drittel der Kinder Japaner, da Neills Bücher ins Japanische übersetzt wurden und großes Interesse fanden.
1973 starb A.S. Neill und seine zweite Frau Ena, die er 1945 geheiratet hatte, übernahm die Leitung von Summerhill. Seit 1985 leitet die gemeinsame Tochter von Neill und Ena, Zoe, und deren Mann Tony Readhead die Schule nach denselben Grundsätzen wie vor 70 Jahren.
<< 2 ebd. S. 99
<< 3 ebd. S. 114
<<
4 Diese Organisation faßte die internationalen progressiven
Erziehungsexperimente zusammen und bildete bald nationale Sektionen." 1929
wurde auf der Konferenz in Helsingor die deutschsprachige Sektion dieser
Organisation, der "Weltbund für Erneuerung der Erziehung", gebildet.
vgl. Kühn,1995, S.50
<< 5 ebd. S. 114
<< 6 ebd. S. 116
<< 7 Anna Pawlowna Matwejewa war eine der berühmtesten Ballettänzerinnen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie stammte aus Rußland, lebte aber viele Jahre in London
<< 8 vgl. Kühn 1995, S. 34
<< 9 zit.n. CROALL, 1983, S. 115, übersetzt in Kühn, 1995
<< 10 ebd. S. 115,
<< 11 Zutt arbeitete nach Ideen, die sein Freund, Franz Cizek entwickelt hatte. Cizek hatte bereits 1898 als Professor an der Kunstgewerbeschule Wien freie Kindermalkurse eingeführt. Die Resultate gaben eine neue Sicht auf die kreativen Kapazitäten von Kindern frei.
<< 12 vgl. Croall, 1983, S. 118 f
<< 13 ebd. S. 115f
<< 14 ebd. S. 120
<< 15 vgl. Neill 1923, S. 119, übersetzt von Kühn
<< 16 vgl. Neill 1972, S. 149
<< 17 vgl. Harless in Cassirer u.a. 1960, S. 53, zit.n. Kühn
<< 18 vgl. Neill 1923, S. 226, zit. n. Kühn
<< 19 vgl. Neill 1982, S. 150
<< 20 vgl. Gruber, in morgen, 38/84, S. 342
<< 21 vgl. Murray: I remember
<< 22 vgl. CROALL, 1983, S. 127
<< 23 ebd. S. 128 f, sowie Angus Murray: I remember, S. 6-17
<< 24 Brief LSR f. NÖ an BSR Amstetten, 18.3.1924
<< 25 vgl. Gruber 1984, S. 344
<< 26 Neill, 1973, S.
<< 27 Brief Neill an BSR Amstetten, 8.5.1924
<< 28 Brief BSR Amstetten an BH Rosenau, 18.8.1924
<< 29 STEKEL, ursprünglich Gründungsmitglied der Psychoanalytischen Mittwochsgesellschaft (er hatte 1902 Freud zur Einführung dieser Sitzungen angeregt), wurde innerhalb der psychoanalytischen Bewegung hauptsächlich durch Traum- und Symboldeutung bekannt. Seine "intuitive" Vorgangsweise führte aber zu immer tieferen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und den orthodoxen Freudianern. Nachdem es zwischen ihm und Freud zu ernsten Differenzen gekommen war, schied er 1912 als Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung aus.
<< 30 vgl. Croall, S. 130 f
<< 31 Neill, 1973, S. 150
<< 32 vgl. ebd. S. 151
<< 33 vgl. Croall, 1983, S. 134
<< 34 vgl. Morrai, S. 23
<< 35 Croall, 1983, S. 137
<< 36 Neill 1973, S. 152
<< 37 vgl. CROALL 1983, S. 137, übersetzt nach Kühn, 1995, S. 64
<< 38 In diesem Buch beschäftigte sich Neill sehr ernsthaft mit der Psychologie des Kindes. Auf sehr anschauliche Weise versuchte er aufzuzeigen, daß es die moralbetonte Erziehung der Eltern ist, die Kinder schwierig macht. "Es ist der Gebrauch von Wörtern wie ùnartig`oder `schlecht`oder `schmutzig` der Schaden anrichtet." Neill 1926, S. 100 ff
<< 39 Neill, 1973, S. 153
<< 40 vgl. Kühn, 1995, S. 70
<< 41 Kühn, 1995, S. 70
<< 42 Neill, 1973, S. 155
<<
43 ebd. S. 155