Zurück zur Inhaltsverzeichnis     Margit Zellinger: "Summerhill heute" - Diplomarbeit 1996


1. Vorwort: Motivation, Fragestellungen, methodische Herangehensweise, Zielsetzung

Im zweiten Semester meines Universitätsstudiums hielt ich ein Referat über die alternative Internatsschule "Summerhill". Damals, 1984, war für mich zunächst von besonderem Interesse, ob es diese Schule überhaupt noch gibt. Ihr Gründer, Alexander Sutherland Neill ist 1973 gestorben und viele Kritiker meinten, Summerhill steht und fällt mit der Persönlichkeit Neills. Diese Frage ließ sich einfach beantworten, indem ich einen Brief an die Schule schrieb, und erfuhr, daß Ena, Neills zweite Frau, Summerhill zu der Zeit leitete und daß wahrscheinlich Zöe, seine Tochter, die weitere Leitung übernehmen würde.

Im Laufe des Referats tauchten aber noch einige andere Fragen auf, die sich im Rahmen einer kleinen Arbeit fürs Konversatorium nicht so einfach beantworten ließen und die ich im Laufe der Zeit auch wieder vergaß.

Inzwischen, 1994, bin ich Mutter von drei Kindern. Unser ältester Sohn ist bald sechs Jahre alt und es stellte sich die Frage, ob wir ihn in die Schule bzw. die beiden Jüngeren in den Kindergarten schicken sollten oder lieber nicht, da wir mit verschiedenen Erziehungsmethoden und -grundsätzen nicht ganz einverstanden sind. Wir bemühen uns nun selber mit anderen engagierten Eltern eine Kinderspielgruppe zu gründen und sehen uns auch in der Literatur nach alternativen Erziehungs-möglichkeiten um. Dadurch wurden für mich die Themen "Summerhill" und "antiautoritäre Erziehung" wieder aktuell.

Was wird aus den Kindern, nachdem sie Summerhill, diese "Insel des Glücks", wieder verlassen? Wie gelingt ihnen der Überstieg aus ihrem "Inseldasein" in die harte "Realität draußen"? Wie beurteilen sie im nachhinein ihre Zeit in Summerhill? Hat es ihnen etwas gebracht? Was? Gibt es Dinge, von denen sie glauben, das habe ihnen geschadet? Können sie sich in der "Realität" des Lebens zurechtfinden?

Warum schicken Eltern aus den USA, Japan, Deutschland und anderen Ländern ihre Kinder nach England in diese Internatsschule? 1992 kamen immerhin 55% der Schüler aus dem Ausland. 1978 waren es z.B. 60%.1 Wie wirkt sich diese Distanz von den Eltern auf die Kinder aus? Wie beurteilen sie das im nachhinein?

"Summerhill ist Neill" schreibt Bruno Bettelheim in seiner Kritik.2 Doch Summerhill existiert auch noch 20 Jahre nach Neills Tod. Haben sich nun die Grundsätze, die Neill aufstellte verändert oder ist Bettelheims Annahme ein Irrtum? Welche "starke Persönlichkeit" steht heute hinter Summerhill? Was macht dann die Stärke dieser Schule aus, wenn nicht die Person Neills, der selber immer überzeugt war, daß die Idee ihn überleben würde und er als Person nicht so wichtig sei.

Braucht es vielleicht diese eine "starke Person" nicht, weil die Schüler selber letztendlich ein tragfähiges Fundament bilden? Doch wie soll das funktionieren?

Um all diese Fragen zu beantworten, versuche ich in erster Linie, die vorhandene Literatur durchzuarbeiten. Besuche in Summerhill sollen mir einen Einblick in das "Summerhill heute" vermitteln, Gespräche mit der Leiterin, den Schülern, Hauseltern und Lehrern, meine noch offenen Fragen beantworten.

Was ich in meiner Arbeit nicht will, ist mir anzuschauen, inwieweit Neill und seine Mitarbeiter z.B. die Psychoanalyse oder Freud mißverstanden haben, bzw. wo sie neuere psychologische Erkenntnisse nicht registriert haben. Bettelheim und andere führen diesbezüglich bei aller Achtung für Neill jede Menge Kritik an.3 Inwieweit Neill von Freud, W. Reich und anderen Persönlichkeiten aus der Psychologie, aber auch aus der Literatur, beeinflußt wurde, ist im Kapitel 3 nachzulesen.

Ziel meiner Arbeit ist es, das "Summerhill heute" darzustellen, eventuelle Veränderungen im Laufe der Jahre herauszuarbeiten und zu schauen, wie Summerhill von verschiedenen Leuten wie Lehrer, Hauseltern und ehemaligen Schülern beurteilt wird und was aus ehemaligen Schülern geworden ist. Waren sie den Anforderungen des Lebens außerhalb der Schule gewachsen? Hatten sie Anpassungsprobleme? Diese und weitere Fragen sollen mit Hilfe eines Fragebogens an Ex-Summerhillianer so gut es geht beantwortet werden.

Ich werde im ersten Kapitel meine eigenen Eindrücke schildern, die ich durch zwei Besuche an der Schule gewonnen habe. Neills Grundsätze und Einstellungen sind zum Teil durch seine Kindheits- und Jugenderfahrungen erklärbar. Deshalb versuche ich im Kapitel 3 sein Leben in groben Zügen zu umreißen. Wer genauer nachlesen will, dem sind folgende Bücher zu empfehlen: Croall: Neill of Summerhill (1983) und Kühn: Alexander S. Neill (1995). Die Entstehungsgeschichte der Schule findet sich im Kapitel 4, wobei besonders interessant ist, daß Neills Schule auch einige Monate in Österreich war, hier aber am bürokratischen System und an der "katholischen Struktur" der umliegenden Bevölkerung scheiterte.

Summerhill wurde vor allem durch die 68er Bewegung und durch den verfälscht übersetzten Titel von Neills Buch "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" sehr stark mit dem Begriff "antiautoritär" in Verbindung gebracht, und oft auch mißverstanden. Daher versuche ich im Kapitel 5 zwei Richtungen der "antiautoritären Erziehung" gegeneinander abzugrenzen. Einer davon ist Neill zuzurechnen, der anderen die Studenten der 68er Bewegung.

Im Kapitel 6 finden sich die wichtigsten Grundsätze und Zeile der Schule. Im Kapitel 7 eine Beschreibung von Summerhill heute, was letzlich auch eine Beschreibung des Summerhill der letzten 75 Jahre ist, denn grundlegende Dinge wie Selbstverwaltung oder das Recht auf Freiheit des Einzelnen, haben sich nicht verändert. Zum besseren Verständnis der Schule im Kontext des englischen Schulsystems, füge ich im Kapitel 8 eine Aufschlüsselung dieses Schulsystems ein.

Kapitel 9 befaßt sich mit verschiedenen Ansichten und Reaktionen auf Neills Theorie und Praxis. Von völliger Ablehnung bis hin zu begeisterter Zustimmung ist alles vertreten. Letzlich ist jeder, der sich mit Summerhill beschäftigt, aufgefordert, sich zuerst mit seinem eigenen Menschenbild, vor allem seinem Bild vom Kind als Mensch, auseinanderzusetzen, und sich dann sein eigenes Bild von Summerhill und Neills Erziehungsideen zu machen.

Es war mir wichtig zu erfahren, wie ehemalige Schüler im nachhinein Summerhill beurteilen und was aus ihnen geworden ist. E. Bernstein hat 1968 50 ehemalige Schüler interviewt. Ich habe Fragebögen verschickt und einige persönliche Gespräche in Summerhill geführt. Die Untersuchung von Emmanuel Bernstein, das Zustandekommen meiner Befragung und die Beschreibung der Ergebnisse finden sich im Kapitel 10.



<< 1  "Summerhill: It`Alive and Well, 1978, S. 38
<< 2  Bettelheim in "Summerhill: pro und contra, 1982, S.89
<< 3  vgl. u.a. Bettelheim in "Summerhill: pro und contra, S.85ff