Von Schröder und Blair, Unterrichtsstunden
und schulministeriellen Wadenbeißern

In Deutschland ist die Unterrichtsstunden-Zählmanie ausgebrochen. Wie immer geht das bei uns besonders gründlich. In Nordrhein-Westfalen z.B. haben die Bezirksregierungen penibel jede ausgefallene Stunde gezählt - egal, ob diese Stunde ausgefallen ist, weil eine Lehrerin auf Fortbildung oder krank war, ob die Stunde ausfiel, weil die Klasse einen Unterrichtsgang machte oder auf Klassenfahrt war.

Natürlich haben die Schulleiterinnen remonstriert, wie das im fachchinesisch heißt, wenn sich so jemand gegen etwas beschwert. Und natürlich ist der Humbug auch rechtzeitig aufgefallen und wurde dann vom Rechnungsprüfungsamt auch nicht bemerkt.

Aber es geht hier nicht darum, die sinnvolle Verwendung von Steuergeldern zu untersuchen, sondern das Augenmerk auf die ausgebrochene Zählwut zu lenken. Dahinter steht natürlich die hehre Auffassung der Ministerin, dass unnützer Unterrichtsausfall zu vermeiden sei. Weil, so die Argumentation, wo kein Unterricht, da auch keine Unterrichtsergebnisse.

Von Qualität wollen wir hier einmal nicht sprechen, aber wenn man denn in den internationalen Vergleichsstudien nur bescheidene Erfolge erzielt, dann muß man doch wenigstens zeigen, daß man die Lage im Griff hat und etwas tut. Deswegen werden jetzt auch Vergleichsarbeiten geschrieben. Es wäre doch gelacht, wenn man die LehrerInnen nicht auf Vordermann bringen könnte, den SchülerInnen doch die richtigen Inhalte (Deutsch, Mathe, Englisch) beizubiegen. Und auch den SchülerInnen die Daumenschrauben anzuziehen, die allzu lässig in ihrem Stühlchen fläzen. Dazu werden die Prüfungsbedingungen verschärft. Und - das kann ja gar nicht anders sein - da braucht man halt jede Unterrichtsstunde.

Fortbildung wird aufs Wochenende und in die Ferien verlegt, will jemand umziehen soll er doch, aber bitteschön am Nachmittag, außerhalb der Unterrichtsstunden. Auch innerhalb der Schule wird mit jeder Stunde gegeizt: Wenn sich Schüler für Arbeitsgemeinschaften entscheiden müssen, sollen sie sich doch bitte außerhalb der Unterrichtszeit informieren, Unterrichtsgänge werden auf den Nachmittag verlegt. Die Liste läßt sich fortsetzen.

Kurzum, die Unterrichtsstunde wird zur heiligen Kuh erklärt und nichts, aber auch gar nichts darf dazu führen, daß sie ausfallt.

Interessant ist, daß dies möglicherweise eine Schröder/Blair-Geschichte ist. Vielleicht auch eher eine Blair/Schröder-Geschichte, weil man in England da schon ein Stück weiter ist. Die Zählmanie hat dort nicht nur die Unterrichtsstunden erfaßt, sondern auch die Schulabschlüsse. Es wird ebenfalls penibel nachgehalten, welche Schule wieviel Abschlüsse produziert. Das kann man ja nicht vom grünen Tisch aus und so rücken den Schulen eine Schar von Schulaufsichtsbeamten und Zählern auf den Leib und machen einen Bericht.

Nun gibt es in England - gottseidank dort und nicht hier bei uns - eine Schule, die nicht nur weltbekannt, sondern auch allen ordentlichen Schulmeistern ein großer Dorn im Auge ist. Die alt 68er unter den LeserInnen ahnen es schon, es ist Summerhill, die Schule von A.S. Neill. Übrigens, der hat vorher versucht, diese Schule in Hellerau bei Dresden zu betreiben. Aber das ging natürlich schief, denn er bestand darauf, dass die SchülerInnen nicht zum Unterricht gehen müssten. In England verlief das Experiment jedoch erfolgreich, zumindest bisher, seit 79 Jahren.

Nun aber tritt Blair und sein neues Erziehungssystem auf den Plan: effizient, stringent, erfolgreich. Und es kam, wie es kommen mußte: Prompt verfing sich Summerhill im Netz der Inspektoren und bekam einen schweren Rüffel, verbunden mit der Androhung, die Schule zu schließen.

Man habe festgestellt, daß die dortige heilige Kuh, das nationale Curriculum, von den SchülerInnen nur bruchstückhaft beherrscht werde. Das wäre ja vielleicht noch hinzunehmen gewesen. Aber bei der Ursachenforschung stießen die Inspektoren auf Ungeheuerliches: Nicht etwa faule oder unfähige Lehrer - nein. Viel schlimmer! Die SchülerInnen brauchten nicht zum Unterricht zu gehen! So hatte ein Schüler seit zwei Jahren keinen Mathematikunterricht besucht.

Ich merke schon, wie sich selbst bei den Progressiven unter den Lesern dieser Zeilen die Haare sträuben, die Augenbrauen heben und der Kopf in eine schüttelnde Bewegung gerät.

Die Inspektoren stellten denn auch fest, daß die SchülerInnen Faulheit als mißverstandene Persönlichkeitsentwicklung auslebten. Zwei heilige Kühe auf einmal. Was zuviel ist, ist zuviel.

Daher wurde der Schule zur Auflage gemacht, dafür zu sorgen, daß die Schülerinnen doch bitte gefälligst die Unterrichtsstunden zu besuchen hätten. Dafür habe die Schule Sorge zu tragen. Das Recht der SchülerInnen, nicht zum Unterricht zu gehen, müsse fallen. Schließlich würden sich die Lücken im Wissen der Kinder damit ausreichend erklären lassen: Wo kein Unterricht, auch kein Unterrichtserfolg. Klar?

Ich bin mir nicht sicher, ob das, was dann geschah, hier in diesem unseren Deutschland auch möglich gewesen wäre. Wahrscheinlich nicht, denn hier sind Schulleiterposten nicht erblich, sondern werden in unerbittlicher Auslese von der Schulaufsicht - die ja früher auch Schulleiter waren - ausgesucht und ausgesiebt. Dort war jedoch die Tochter des legendären A.S. Neill die Schulleiterin. Und sie verteidigte das Erbe ihres Vaters mit Zähnen und Klauen. Offensichtlich stand hier heilige Kuh gegen heilige Kuh.

Nun ist England ein moderner Rechtsstaat. Die Todesstrafe ist abgeschafft und die Armee darf auch nicht gegen das eigene Volk eingesetzt werden. Also traf man sich vor den berühmten Schranken des Gerichts wieder.

Nun, hierzulande wäre die Sache damit abgetan gewesen. Die Verwaltungsgerichte, denen man nachsagt, daß sie staatstragend seien, hätten wahrscheinlich Staatsräson als Recht erkannt. Wo käme man denn da auch hin, wenn keine SchülerIn mehr hin zu gehen bräuchte. Und da in Summerhill die Lehrer da sein müssen, könnte man hier mit diesem Vorbild noch nicht mal Personal sparen.

Ganz anders in England. Das königliche Gericht (wahrscheinlich liegt's daran) gab Ofsted, dem schulministeriellen Wadenbeißer (the schools watchdog) zu verstehen, daß Lernen nicht notwendiger Weise an Unterrichtsstunden gebunden sei (that leaming is not necessarily confirmed to formal lessons).

Ich weiß, hierzulande ist Neill schon in den 2Oern gescheitert und sein Modell ist natürlich nicht übertragbar (bis auf die Sudbury-Schools in aller Welt), aber man könnte vielleicht doch noch einmal nachdenken, ob an dem Vorschlag der Weisen der Denkschrift: 'Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft' was dran sein könnte, doch 30 - 40 % der Unterrichtsinhalte durch die SchülerInnen auswählen zu lassen, das selbstverantwortliche Lernen zu stärken und statt die Millionen in die Vergleichstests durch das Max-Plank-Institut, in den Umbau des Schulsystems zu stecken?

In Summerhill liegen die Leistungen bei den Schulabschlüssen jedenfalls über dem Durchschnitt des restlichen Königreiches.

Jürgen Göndör

Informationen über Summerhill, seinen Kampf gegen die Wadenbeißer und das Presseecho können hier unter "The Battle" und im "Pressespiegel" nachgelesen werden.