SELBSTREGULATIVES LERNEN, OPTIMALE ENTFALTUNG UND LEBENSFREUDE IN EINER DEMOKRATISCHEN GEMEINSCHAFT - DIE ERFAHRUNG SUMMERHILL

Unsere beiden Kinder, Alex (heute 22) und Julio (18), waren jeweils 10 Jahre lang Schüler der von A.S. Neill gegründeten Summerhill-Schule in England. Entscheidend dafür war unsere tiefe Überzeugung, daß Summerhill das Beste ist, was wir unseren Kindern an Schule und sozialem Lernen vermitteln können. Seit ihrer Geburt haben wir uns bemüht, sie möglichst selbstregulativ zu erziehen, d.h. immer wieder eine individuelle und angemessene Balance zu finden zwischen Selbstbestimmung einerseits und Toleranz andererseits. Selbstregulation also im Gegensatz zu antiautoritärer oder Laissez-faire-Haltung. Wir wollten nicht, daß die Lebendigkeit, Emotionalität und natürliche Lernfreude unserer Kinder, mit anderen Worten ihre psychosomatische Gesundheit in staatlichen Institutionen verkümmert. A.S.Neills Schriften hatten uns schon in den 70er Jahren tief beeindruckt; ein längerer Besuch der Schule Anfang 1990 überzeugte uns, daß Theorie und Praxis im Schulalltag identisch sind und daß der lebenspositive Ansatz auch noch 20 Jahre nach Neills Tod (1973) so umgesetzt wird, wie es in seinen Büchern steht. Die beiden Grundpfeiler der Summerhill-Pädagogik sind: 1. Die psychosoziale Entwicklung hat Vorrang; das bedeutet, wenn Kinder emotional stabil, ausgeglichen und lebensfroh sind, der Verstand für sich selbst sorgt. Jedes Kind lernt grundsätzlich gern und von sich heraus, sobald es innerlich dazu bereit ist. In der Schulpraxis ist der Besuch des Unterrichtes daher ganz freiwillig, und zwar bis zum Schulende mit etwa 16 Jahren. 2. Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er niemanden dabei stört und die Regeln einhält. Die individuelle Freiheit endet dort, wo die der Anderen beginnt. Summerhill ist eine Schule mit sehr vielen Schulregeln. Derzeit sind es über 200 und sie sind verbindlich für alle. 3. Kinder sind in der Lage, in einer echten demokratischen Gemeinschaft ihr Leben selbst zu regulieren. Die Regeln des Zusammenlebens werden demokratisch abgestimmt. Sie können jede Woche neu herausgefordert, diskutiert und beschlossen werden. So entsteht eine Mischung zwischen Demokratie und Konsensus.

Der Aufenthalt für die Kinder in Summerhill besteht aus dreimal elf Wochen (drei Terms); d.h. dreiunddreißig Wochen im Jahr leben sie dort und neunzehn Wochen zu Hause, wo sie die Familie und alte Freundschaften pflegen. Die ersten 2 -3 Tage sind jeweils Wiedereingewöhnung (sowohl dort, als auch hier) und nicht immer ganz leicht. Wir besuchen sie jeden Term für ein verlängertes Wochenende. Um Hausaufgaben, Schulranzen und Noten brauchen wir uns nie kümmern, weil es keine gibt, - außer den Noten der GCSE-Abschlußexamina, falls diese abgelegt werden wollen.

Wie es dazu kam, daß unsere Kinder nach Summerhill gingen.

Während unserer Studienzeit 1972 - 1978 wurden wir mit den Schriften A.S. Neills vertraut, dem Gründer der Summerhill Schule in England. Unser beider Hauptinteresse an der Medizin lag immer schon auf dem psychosozialen und psychosomatischen Gebiet, und so waren wir fasziniert von diesem einfachen, radikalen und mutigen Schulmodell mit seinen positiven Auswirkungen auf die Schüler. Je mehr wir uns damit beschäftigten, desto mehr hat uns Neills Ansatz und dessen Bedeutung für die Erziehung überzeugt. In unserer ärztlichen Praxis sehen wir ständig Kinder, die an der Schule leiden. Inzwischen ist es eine bekannte Tatsache in der Medizin, daß Stres-Symptome bei Schulkindern in dem Maße zunehmen, wie die Menge an vorgeschriebenem akademischen Lernen anwächst.

1985 stießen wir während einer psychotherapeutischen Weiterbildung in den USA auf ein Interview mit Ena Neill, A. S. Neills Ehefrau, in einer amerikanischen Zeitschrift mit dem Titel „Summerhill is still not ruled by adults“. Zu unserer großen Überraschung existierte also die Schule noch. Ena Neill hatte nach dem Tod ihres Mannes 1973 die Leitung mit dem selben Konzept übernommen. Zwei Jahre später lasen wir in der gleichen amerikanischen Zeitschrift ein Interview mit Zoe Readhead, Neills Tochter, „Growing up self-regulated“. Sie hatte 1985 ihre Mutter in der Leitung abgelöst und war von da an Schulprincipal. Sie selbst hatte ihre Schulzeit in Summerhill verbracht, ihre vier Kinder ebenfalls. Wie die meisten Leute hatten wir zu dieser Zeit angenommen, daß Summerhill inzwischen zwar weltbekanntes Schulmodell war (im positiven oder negativen Sinn) aber seit Neills Tod 1973 der Vergangenheit angehörte.

Nachdem wir nun wussten, daß Summerhill nach den selben Prinzipien funktioniert wie früher, besuchten wir die Schule und machten Kontakt mit ehemaligen Summerhill-Schülern in Deutschland. Wir erlebten sie als freundliche, selbstbewußte und gut funktionierende Persönlichkeiten, die offensichtlich ihren Weg in die erwachsene Welt gefunden hatten. 1987 gründeten wir in Deutschland einen gemeinnützigen Verein, u.a. mit dem Ziel, Elternschulung und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten zu den Themen selbstregulatorische Erziehung und psychosomatische Gesundheit.

Als unser ältester Sohn Alex 1990 mit sieben Jahren in eine normale deutsche Grundschule kam, war er noch voller Lebensfreude, Interesse und Lerneifer. Doch schon während der ersten Klasse mussten wir zusehen, wie diese natürlichen Qualitäten von Monat zu Monat verblassten. Er stellte kaum noch neugierige Fragen, wurde stumpfer und verlor seine intrinsische Lernmotivation. In der Schule funktionierte er rein akademisch gesehen hervorragend und hatte sehr gute Beurteilungen. Seine Lehrer konnten nicht das wahrnehmen, was wir an ihm beobachteten, weil sie keinen Sinn dafür zu haben schienen. Und so entschieden wir uns, ihn 1991 nach Summerhill zu schicken. Da Julio genau die gleichen Erfahrungen in der deutschen Grundschule machte, ging er ab 1995 ebenfalls nach S. Wir wollten, daß beide in einer Schule sind, in der sie ihre individuellen Fähigkeiten und Potentiale optimal entfalten konnten, daß sie seelisch und körperlich gesund blieben und psychosoziale Schlüsselqualifikationen erwerben können. Weder wir noch unsere Kinder haben diese Entscheidung jemals bereut.

Die Grundlagen

Jean Jacques Rousseau machte einst die Feststellung: „ Der Mensch wird frei geboren und liegt doch überall in Ketten....Wie kommt es zu dieser Veränderung? Ich weiß es nicht." Seit dieser Zeit gab es viele Theorien hierüber und auch etliche, z.T. politische Versuche, der Lösung dieses Rätsels auf die Spur zu kommen und diese Ketten zu sprengen. A.S. Neill hatte zwar nie das hohe Ziel, die Menschheit von ihren Ketten zu befreien. Und doch legte er mit seinen einfachen Prämissen einen höchst praktischen Grundstein dafür. Seine Ausgangsbeobachtungen waren:

Kein Kind wird „böse“ geboren. Es gibt ein angeborenes, natürliches Gutsein ('goodness').
Wegen seiner natürlichen Neugierde gibt es kein faules (lazy) Kind. Was es benötigt, sind individuelle Freiheit beim Lernen und anderen Aktivitäten.

Demokratische Selbstregierung in einer sich gegenseitig respektierenden Lebensgemeinschaft auf der Basis von Freiheit ist möglich.

Die drei Prinzipien des Summerhill-Modells, die sich aus diesen Beobachtungen Neills ergaben, sind:

  1. "Lebensglück ist das, was am meisten zählt."
    Die erste wichtige Voraussetzung zur Erhaltung der Lebensfreude und zur Vorbeugung gegen Ketten.
  2. "Es gibt kein faules Kind."
    Dies bedeutet: die psychosoziale Entwicklung hat Vorrang; wenn Kinder emotional stabil, ausgeglichen und lebensfroh sind, sorgt der Verstand für sich selbst. Jedes Kind lernt grundsätzlich gerne und von sich heraus, sobald es innerlich dazu bereit ist.
  3. Kinder sind in der Lage, in einer echten demokratischen Gemeinschaft ihr Leben selbst zu regulieren. Die Regeln des Zusammenlebens werden demokratisch abgestimmt und können jede Woche bei den regelmäßigen Meetings und Tribunals aufs Neue diskutiert und beschlossen werden. Summerhill ist von je her eine Schule mit sehr vielen, verbindlichen Regeln (derzeit über 200).

Das große Mißverständnis

An dieser Stelle halten wir es für notwendig, auf ein grundlegendes Mißverständnis gegenüber dem Summerhill-Konzept hinzuweisen: Neill wurde in den 70er und 80er Jahren mit seinem Anliegen grundsätzlich mißverstanden. Meist wurde Freiheit mit 'antiautoritärer Haltung' und Laissez-faire verwechselt. Neill selbst sprach niemals für eine antiautoritäre Erziehung, noch hat er diese je an seiner Schule praktiziert. Der Titel seines bekanntesten Buches wurde damals in etlichen europäischen Ländern eigenmächtig und falsch mit „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ übersetzt. Der Originaltitel dieses Standardwerkes lautete dagegen „Summerhill - A Radical Approach to Education“. Medien und Fachwelt spiegeln dieses grundlegende Mißverständnis bis in die heutige Zeit wider. Ihre Berichte in Zeitungen, Fachzeitschriften, Büchern und Filmen sind bis auf wenige Ausnahmen durch dieses irrige Vorurteil verzerrt, und zwar ganz massiv.

Die negativen Auswirkungen dieser Verzerrung prägen bis heute Diskussion und Praxis der Erziehung. Als Folge wurde das Summerhill-Modell unpopulär und wird heute in den Medien immer wieder zum klassischen Gegen-Vorbild für eine gesunde Erziehung abgewertet. Mehr noch: das Mißverständnis von Freiheit - und damit das notwendige Scheitern falsch angewandter Konzepte führte auf vielen Ebenen zum konservativen Aufruf „back to basics!“. Im Interesse zukünftiger Generationen sollte dieses Mißverständnis aufgedeckt werden. A.S.Neill hat in seinen Schriften und Vorträgen immer wieder ausdrücklich den Unterschied „freedom versus licence' betont. In der täglichen Praxis bedeutet das: jeder hat das Recht, zu tun und zu lassen, was er will, solange dabei nicht das Recht eines Anderen oder der Gemeinschaft verletzt wird. Man fragt sich, wer eigentlich Neills Bücher jemals richtig und unvoreingenommen gelesen hat.

Beispiele für eine korrekte Rezeption sind Erziehungswissenschaftler wie etwa J. Ziegenspeck (Uni Lüneburg), P. Ludwig (Uni Tübingen) oder J.M. Kamp (Essen). Letzterer schrieb: "Summerhill ist vor allem eine selbstregierte, internationale Lebensgemeinschaft, ein Gesellschaftsmodell des Zusammenlebens freier Menschen. Das Besondere daran ist die grundsätzliche Orientierung aller Erziehung an den Interessen des Kindes, wie sie vom einzelnen Kind selbst geäußert werden (nicht ein theoretisch erdachtes 'objektives' Interesse aller Kinder). Das bedeutet: wesentliches Erziehungs- und Lebensziel Summerhills ist persönliches Glück, also physisch und psychisch gesunde, selbstbewußte Menschen aufwachsen zu lassen. Diese sollen sich den eigenen inneren Antrieben gemäß und innerhalb einer demokratisch selbstbestimmten Gemeinschaft frei entwickeln können. Der Zweck der Schule ist es also nicht, angepasste leistungsfähige Arbeitskräfte zu produzieren, nicht unbedingt nur gesellschaftlicher oder beruflicher Aufstieg. Ein solches Ziel ist allein Sache des einzelnen Jugendlichen, also dessen eigene freie Entscheidung.

Um hier sofort einem weiteren möglichen Mißverständnis vorzubeugen: auch in Summerhill treffen die meisten Jugendlichen ihre Wahl zu einer Berufsausbildung; sie tun dies dann aus ihrer individuellen Reife heraus und aus Interesse, auf der Basis individueller Freiheit und gesellschaftlicher Mitverantwortung. Die Voraussetzung dazu ist, dem Kind von Anfang an die größt mögliche Entscheidungsfreiheit zu lassen und die inneren Antriebe nicht durch Zwang, äußeres Drängen, Überredung oder Moralisieren zu überformen. Wenn das Kind seine - naturgemäß egoistischen - Interessen wirklich ausleben und seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, dann - und nur dann - entwickeln sich in der Jugendzeit gewissermaßen von selbst (erfahrungsgemäß) altruistische Orientierungen. Dies bedeutet möglicherweise schwierigere Kinder, dann aber weniger schwierige Jugendliche.

Summerhill geht davon aus, daß jedes Lernen, das nicht aus innerem Antrieb wirklich freiwillig geschieht, die Lernmotivation (d.h. die Grundlage allen Lernens!) zerstört. Der Unterrichtsbesuch ist deshalb absolut freiwillig. Es gibt weder Zwang noch Überredung zum Unterrichtsbesuch, keinen Wettbewerb, keine Noten. Die freie Entscheidung des Kindes, wie es den Tag verbringt, hat in der alltäglichen Praxis in Summerhill zu einer anderen Zeitverteilung im Leben der Kinder geführt: In den ersten Jahren (unsere Grundschulzeit) dominiert noch das Bedürfnis am freien Spiel (d.h. praktisches Lernen im Leben), erst in der Jugend erwacht aus innerem Antrieb das Interesse an mehr theoretischem Wissen, wie es im Unterricht vermittelt werden kann. In den letzten Schuljahren sind die Schüler in der Regel hoch motiviert und lernen intensiv aus eigenem Antrieb. Sie eignen sich deshalb den Lehrstoff in viel kürzerer Zeit an als an normalen Schulen, um freiwillig die Abschlußprüfung (GCSE) zu schaffen und dann auf ein College oder in einen Beruf zu wechseln.

Im Gegensatz dazu bemühen sich staatliche Schulen (und auch fast alle privaten , bes. die sog. Eliteschulen) praktisch weltweit darum, die Kinder gemäß den Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft zu formen: Orientiert an den Anforderungen der Universitäten, des Arbeitsmarktes, der Wirtschaftsunternehmen, der Gesellschaft etc. werden von den Kultusministern verbindliche Stoff- und Lehrpläne erstellt, die Schüler zum Schulbesuch verpflichtet, die Lernleistungen laufend überprüft und zensiert. In der modernen Leistungsschule hat der Erwerb von Wissen oberste Priorität. Individuelles Lerntempo ist unmöglich, über- oder unterforderte Schüler fallen sofort aus der Norm. Für persönliches Lebensglück ist kein Raum, die Normierung der Gesellschaft ist vorprogrammiert und psychische als auch physische Schädigungen sind die Folge. Dies alles ist kritischen Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Eltern wohlbekannt.

Unter der kleinen Zahl privater Schulen, die mit Erfolg eine völlig anders geartete, direkt gegensätzliche Erziehung praktizieren, ist Summerhill eine der ältesten, konsequentesten und weltweit bekanntesten. Sie kommt mit radikal anderen Zielen, Auffassungen und Methoden zu radikal anderen, erwiesenen Ergebnissen, die oft in direktem Gegensatz zu herkömmlichen pädagogischen Auffassungen und Voraussagen stehen. Summerhill beruft sich nicht auf eine frei erdachte Theorie oder theoretische Meinung, ist auch längst kein Experiment mehr, sondern das Ergebnis von über 75 Jahren praktischer, überprüfbarer Erfahrung. Es baut konsequent auf den noch älteren Erfahrungen Homer Lanes auf. Nur sehr wenige Schulen weichen - erfolgreich - so sehr vom staatlichen Normalmodell ab. Gerade diese haben zur Entwicklung des Erziehungswesens wesentlich beigetragen und ermöglichen auch weiterhin die Weiterentwicklung und Überprüfung der sonst üblichen Erziehungsannahmen. Eine ernsthafte pädagogische Forschung zu Summerhill scheint in den 90er Jahren mit einigen Doktorarbeiten gerade erst zu beginnen.

Summerhill muß alle paar Jahre große Hindernisse überwinden und Schwierigkeiten meistern: staatliche bürokratische Schikanen und Auflagen, finanzielle Engpässe, Mißverständnisse und Verunglimpfungen in Medien und Fachliteratur, sowie direkte Angriffe von einzelnen Individuen oder von staatlichen Stellen auf seine Existenz. Summerhill ist eine kleine, von den Eltern finanzierte 'Independent School', die keine staatliche Finanzierung erhält. Die Eltern - großenteils Ausländer - haben diese Schule bewußt und gezielt wegen ihrer Pädagogik ausgewählt und zahlen Schulgeld dafür. Es ist ein Lebens- und Schulmodell, das weltweit wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen in Erziehung und Pädagogik einfliessen lässt und so positive Veränderungen bewirkt. Summerhill war und ist wesentlich an der Humanisierung und Demokratisierung der Schulen im Interesse des Kindes beteiligt.

Seit 84 Jahren empfängt Summerhill scharenweise interessierte Besucher: Eltern, Studenten und Professionelle aus der ganzen Welt, ohne dafür jemals einen Pfennig Geld verlangt zu haben. Die Gemeinschaft ist hierzu meistens bereit (wegen des gehäuften Interesses in letzter Zeit nur an bestimmten Besucher-Wochenenden!), den Gästen die Schule zu zeigen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mitzuteilen und dabei Zeit und Energie zu investieren. Die Besucher dürfen meist einem der wöchentlichen Meetings beiwohnen, mit Staff und Kindern sprechen, Fotos und Filme machen sowie auch über die Eindrücke in Fachzeitschriften oder den allgemeinen Medien berichten. Summerhill ist eine sehr offene Schule, letzten Monat kamen z.B. 105 Leute aus Taiwan auf einmal, darunter Studenten, Eltern, Lehrer, Erziehungswissenschaftler und Politiker."

Als Eltern von zwei Summerhill-Schülern und praktizierende Ärzte (Psychotherapie und Homöopathie), die täglich mit Kindern und Eltern zu tun haben, können wir dieses Schulmodell relativ objektiv beurteilen: ein mehrjähriger Aufenthalt wirkt sich sehr positiv aus auf die seelische, soziale, kreative und mentale Entwicklung; zum Teil auch auf die beteiligten Erwachsenen, also Eltern, Lehrer und Betreuer.

Die Erfahrung Summerhill innerhalb unserer Familie

Alex und Julio gingen wie die meisten Kinder in Summerhill lange Zeit nicht zum Unterricht. Ein Grund war der Lernzwang in der 1. Klasse der deutschen Grundschule. Wann ein Kind von innen heraus was lernen möchte, unterscheidet sich individuell beträchtlich, eine Tatsache, dem das öffentliche Schulsystem keine Rechnung trägt. Beide Kinder hatten im ersten Schuljahr in Deutschland sehr gute Leistungen und die Lehrer sahen keinerlei Probleme. Wir dagegen beobachteten, wie sie allmählich blasser wurden und ihre natürliche Lern- und Lebensfreude dahinschwand. Während der ersten Jahre (!) in Summerhill gab es für beide - wie für die allermeisten Anfänger dort - Interessanteres und deshalb Wichtigeres zu tun, als stundenlang im Klassenzimmer zu sitzen. Alex ging drei Jahre lang nicht zum Unterricht, sondern tobte herum, spielte, baute Baumhäuser oder unternahm irgendetwas. Zugegeben: unsere Überzeugung vom selbstregulierten Lernen wurde auf eine harte Probe gestellt. Dennoch vertrauten wir auf die Selbstregulation trotz gelegentlicher Verunsicherung, was wohl aus ihm werden wird.

Wir liessen uns von Alex erzählen, wie es ihm geht und was er so macht, verloren kein Wort über Unterricht und drängten in keiner noch so subtilen Weise zum Lernen. Mit 12 Jahren begann er schließlich, ganz selbstmotiviert, neugierig und auch eifrig zu lernen: zuerst Japanisch, Computertechnik, Theater und Holzarbeit, dann auch ein paar Hauptfächer. In nur 3 Jahren erarbeitete er sich schließlich den Stoff für die IGCSE-Prüfungen (International General Certificate of Secondary Education) in Chemie, Biologie, Deutsch, Englisch (beide als Erstsprache) und Mathematik, weil das die für ihn interessantesten Fächern waren. Diese Prüfungen legte er mit 14 bzw. 15 mit sehr guten Noten ab. Ein Jahr später folgten abschließend Physik, Information Technology (Computing), Geschichte, Englisch Advanced und Mathe im Abitur-level. Fünf im GCSE geprüfte allgemeinbildende Fächer werden in Deutschland als Realschulabschluß anerkannt, dabei muß eine Fremdsprache und ein naturwissenschaftliches Fach sein. Alex entschied sich, danach nicht auf ein deutsches Gymnasium, sondern auf ein englisches College zu gehen für die A-levels (Abiturlevel). Er blieb nach seinem Abschluß noch ein Jahr in Summerhill, um sich langsam dort abzulösen und der Summerhill-Gemeinschaft zu helfen. Später ging er auf ein College in Brighton mit den Studienfächern Mathe, Physik und Informatik. Er lebte vor allem sein Leben von Anfang wie ein normaler Jugendlicher, mit allen Freuden und Leiden, die dazu gehörten, wobei die Freuden überwogen. Das erste Verliebtsein, dann die erste, die zweite große Liebe und etliche tiefe und langanhaltende Freundschaften. Inzwischen beendete er sein Informatikstudium in England mit höchster Auszeichnung.

Julios Entwicklung verlief ganz ähnlich: er ging auch vier Jahre lang nicht zum Unterricht, außer in Kunst, Holzarbeit und Kochen. Er lernte Klavier, betätigte sich gerne sportlich und spielte so viel und so versunken, daß er oft vergaß, zur vereinbarten Zeit anzurufen. Beim zweiten Durchgang fiel es uns natürlich leichter, dem selbstmotivierten Lernen zu vertrauen, obwohl er in seinem 10. Lj. beim Lesen nur mühsam die Buchstaben entziffern konnte, wenn er Lust dazu hatte, und ziemlich falsch buchstabierte, wenn er mal schrieb. Wir vertrauten darauf, daß er dann leicht lernen würde, wenn er innerlich dazu bereit war. Das würde ihn nicht daran hindern wird, Akademiker zu werden, wenn er dies wollte. Vielleicht würde er einen handwerklich-künstlerischen Beruf erlernen, oder sogar beides. Ab 13 ging er zum Unterricht, jedoch nur phasenweise und nur in manchen Fächern. Er konnte recht gut lesen und auch eigene Geschichten wie z.B. Comics erfinden. Er schrieb zwar mit vielen Fehlern, dafür aber mit viel Freude und ohne schlechtes Gewissen. Entscheidend für uns war bzw. für Summerhill ist nur, daß Kinder sich optimal entfalten, innere Befriedigung an etwas finden und 'Schlüsselqualifikationen' erwerben: Lebensfreude, Selbstbewußtsein, Autonomie, Teamgeist, Flexibilität, Kreativität u.a.m. Diese Eigenschaften sind auch in der Wirtschaft inzwischen hochbewertete und gegenüber Abschlußnoten gleichrangige Bewerbungskriterien. Englisch lernten beide Kinder schon in den ersten Wochen nur über Kontakt und Spiel, nicht im Unterricht. Sie wuchsen sozusagen zweisprachig auf.

Die meisten Reaktionen anderer Eltern uns gegenüber waren: "Wie bringt Ihr es nur fertig, Eure Kinder wegzugeben?". Unsere Antwort war stets, daß beide Kinder glücklich sind in Summerhill - das sagten sie und man konnte es sehen, wenn man Augen hatte. Sie entfalteten ihr Potential dort viel besser als in einer Regelschule. Für ihr Alter waren sie ziemlich reife, selbstbewußte und sozial ausgerichtete Persönlichkeiten. Sie entwickelten natürlichen Lerneifer, Kreativität und Lebensfreude. Ihre Persönlichkeitsstrukturen erwiesen sich als stabil und flexibel, natürlich mit Stärken und Schwächen wie bei jedem. Unsere Beziehung zu ihnen war vertrauensvoll; dank Summerhill wurde sie noch inniger und aufrichtiger. Dies war nicht verwunderlich, denn das Leben in unserer Kleinfamilie wurde um die demokratische Gemeinschaft von 70 Kindern und 15 Erwachsenen erweitert und bereichert. Auch wir lernten durch ihre Erfahrungen viel dazu. Wir lebten unsere gemeinsame Zeit von 20 Wochen (außerhalb der 32 Wochen Schulzeit) meist intensiv und harmonisch.

Die Kleinfamilie trägt heute wieder - wohl aufgrund ihrer Zerfallstendenz - einen Heiligenschein. Angesichts einer bedrohlichen Umwelt klammert man sich verkrampft an das Familienleben. Und deshalb wird dies insbesondere für die Kinder zu einem neuen Problem: sie sind für ihre Eltern oft der einzige Lebenssinn und werden oft ängstlich kontrolliert, verplant oder auch überfüttert. Sie fühlen sich dadurch oft überfordert oder gar benutzt. Manche Bekannte sahen uns dagegen gerne als Rabeneltern, die ihre armen Kinder weggeben, ihnen aus unerfindlichen Gründen Liebe, Geborgenheit und Führung vorenthalten. Jugendliche haben jedoch unter sich mehr Lebensfreude; sie fühlen sich freier und erleben mehr Flow (Csikszentmihalyi, 1990) als nur im Zusammensein mit Erwachsenen. Nur so können sie eine eigene, lebenspositive Kultur entwickeln, die relativ unabhängig ist von den Ängsten und Erwartungen der Erwachsenen, von Moden, Drogen und Gewalt. Bei Naturvölkern leben Kinder und Jugendliche meist unter sich in eigenen Häusern und proben spielerisch das Erwachsenwerden. Eines Tages müssen wir alle unsere Kinder loslassen, denn sie gehören nicht uns, sondern nur sich selbst. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß Summerhill-Schüler später immer sehr gerne nach Hause kommen und einen besonders innigen Kontakt zu den Eltern pflegen. Die meisten besuchen gerne, regelmässig und noch nach Jahrzehnten ihre Summerhill-Schule.

Aus den 75 Jahren Summerhill-Praxis liegen hinreichend Erfahrungen vor, um sicher sagen zu können, daß sich die ehemaligen Schüler ohne wesentliche Probleme in weiterführende Schulen und Universitäten (80 - 90%), in eine Berufsausbildung und ganz allgemein in die Welt der Erwachsenen integrieren. Manch ein Skeptiker möchte lieber das Gegenteil glauben, denn welche Konsequenzen in Denken und Handeln müssten sonst dieser Tatsache folgen? Andererseits kann sich jeder heute darüber bewußt werden, wie viele junge Leute durch Leistungsdruck und Demütigungen, psychosozial und kreativ verkrüppelt, demotiviert, manche auch als Analphabeten die Schule verlassen. Dabei mögen noch andere Faktoren wichtig sein, Tatsache ist jedoch, daß die normale Schule am Kind vorbeigeht.
Unsere Kinder wussten immer, daß sie jederzeit auf die deutsche Schule zurück konnten, falls sie es wollten. Ihre Entscheidung fiel immer dagegen aus. Sie waren und sind noch dankbar für ihre Summerhill-Erfahrung; wir sind es auch. Heimweh war für Alex ganz zu Beginn ein größeres Problem, für Julio überhaupt nicht0. Sie vermissten uns nur selten, für einige Stunden oder wenige Tage, was sie ganz offen zugaben. Meist fragten sie schon vor den Ferienenden, wielange es noch bis Termbeginn dauert. Wir dagegen spürten bei jedem Abschied ein paar Tage lang den Trennungsschmerz, gleichzeitig auch eine gewisse Erleichterung. In vielen Momenten fehlten sie uns, jedoch seltener als wir anfangs befürchtet hatten. Wir brachten bewußt das Opfer des gemeinsamen Alltaglebens. Dafür wurden wir mit großem Vertrauen, innigem Kontakt und partnerschaftlichem Miteinander belohnt. Die Kinder waren zum Glück nie unser einziger Lebensinhalt. Während der Schulwochen konnten wir unsere Zweierbeziehung wieder intensiver leben, was uns und letztlich auch den Kindern gut tat. Wir widmeten uns mehr unserer Arbeit und anderen Aktivitäten. Unter dem Strich gab es eine Verbesserung der Lebensqualität.

Ist Summerhill eine ideale Schule? Nein, leider nicht. Manche jungen Lehrer wissen nicht, worum es in Summerhill eigentlich geht, und gehen dann bald wieder. Die Verteilung der Nationalitäten der Schüler ist derzeit nicht optimal. Die finanziellen Mittel sind knapp, da die Schule als unabhängige Einrichtung keine staatliche Unterstützung bekommt. Das Essen ist zwar für englische Verhältnisse gut, aber trotz täglichem Obst und Gemüse unserer Einschätzung nach nicht gesund genug, obwohl viele Kinder sowieso nicht darauf achten. Die Lehrer verdienen wenig und haben wenig Freizeit. Engagement für die Schule und privates Familienleben sind nur schwer zu vereinbaren. Große Teile der Gebäude wurden in den letzten Jahren schön renoviert und neue wurden gebaut, dennoch bedarf es weiterer Renovierungsarbeiten. Obwohl Kinder aus allen Schichten vertreten sind, ist es für viele Eltern schwer, das Schulgeld von ca. 1000.- Euro pro Monat (aufs Jahr verteilt) für ein Kind zu bezahlen. Ein deutsches Internat kostet im Vergleich dazu ca. 2000-3000 Euro. Und dennoch könnten sich die meisten Eltern Summerhill nicht leisten.
Wir konnten das Geld zum Glück aufbringen und stellen auch heute noch fest, daß es eine sehr wertvolle Investition mit sicherem Gewinn für uns alle war. Wir sagen dies ohne schlechtes Gewissen; vielmehr mit dem Bedauern, daß ähnliche Erfahrungen für die meisten Kinder leider nicht möglich sind. Es wäre dringend notwendig. Julios erleichteter Ausruf nach seinem letzten Schultag in Deutschland war: „Endlich frei!“

Nachtrag 2005: Im April 2000 gewann Summerhill ein Gerichtsverfahren gegen das britische Erziehungsministerium vor dem Royal Court of Justice in London. Summerhill sollte gezwungen werden, Zwangsunterricht einzuführen oder die Schule zu schließen. Es war ein Prozeß mit historischer Bedeutung, denn die Summerhill-Schüler hielten im Gericht eines ihrer Meetings ab, um über den vom Staat angebotenen Vergleich abzustimmen. Fazit: ab sofort müssen Schüler bei den regelmäßigen Inspektionen gehört werden und dürfen für sich eine Fachvertretung hinzuziehen. Dies gilt auch für alle anderen Independent Schools wie Steiner, Montessori, usw. Insofern machte der Gerichtsprozess große Geschichte.
Alex und Julio machten beide in Summerhill ihre GCSE-Prüfungen (entspricht dem deutschen Realschulabschluss) und gingen dann auf ein englisches College. Alex schloss inzwischen sein Informatikstudium ab mit dem Bacchelor of Science und höchster Auszeichnung an der University of Sussex. Julio ist auf dem College in Bristol, wo er die Fächer Psychologie, Humane Biologie und Englische Literatur wählte.

Literatur

Appleton, M. Summerhill - Kindern ihre Kindheit zurückgeben. Selbstregulierung und Demokratie in der Erziehung. Schneider-Verlag Hohengehren 2000

Kamp, J.M. Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Leske und Budrich, Opladen 1995

Kühn, A.D. A.S. Neill und Summerhill. Dissertation Universität Tübingen 2002

Lamb, A. E. (Hrsg.) / Neill, A.S. The New Summerhill. Penguin, London 1992, New York 1996

Liekenbrock, K. Selbstregulation. Ein Erziehungsmodell. Diplomarbeit FH für Sozialwesen, Mannheim 2002

Ludwig, P. Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert? Beltz Grüne Reihe, Weinheim-Basel 1997

Neill, A.S. Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung - Das Beispiel Summerhill. Reinbek 1969
(Originaltitel: Summerhill - A Radical Approach to Education)

Summerhill-Schule
summerhill.paed.com

Dr. med. Dorothea FuckertDr. med. Manfred Fuckert
Ärztin - Psychotherapie - Homöopathie
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