Unsere beiden Kinder, Alex (16) und Julio (12), sind Schüler
der von A.S. Neill gegründeten Summerhill-Schule in England, und zwar
seit 8 bzw. 4 Jahren. Entscheidend dafür war unsere tiefe Überzeugung,
daß Summerhill das Beste ist, was wir unseren Kindern an Schule und
sozialem Lernen vermitteln können. Seit ihrer Geburt haben wir uns
bemüht, sie möglichst selbstregulativ zu erziehen, d.h. immer
wieder eine individuelle und angemessene Balance zu finden zwischen Selbstbestimmung
einerseits und Toleranz andererseits. Selbstregulation also im Gegensatz
zu antiautoritärer oder Laissez-faire-Haltung. Wir wollten nicht,
daß die Lebendigkeit, Emotionalität und natürliche Lernfreude
unserer Kinder, mit anderen Worten ihre psychosomatische Gesundheit in
staatlichen Institutionen verkümmert. A.S.Neills Schriften hatten
uns schon in den 70er Jahren tief beeindruckt; ein längerer Besuch
der Schule Anfang 1990 überzeugte uns, daß Theorie und Praxis
im Schulalltag identisch sind und daß der lebenspositive Ansatz auch
noch 20 Jahre nach Neills Tod (1973) so umgesetzt wird, wie es in seinen
Büchern steht. Die beiden Grundpfeiler der Summerhill-Pädagogik
sind:
1. Die psychosoziale Entwicklung hat Vorrang; das bedeutet, wenn Kinder emotional stabil, ausgeglichen und lebensfroh sind, der Verstand für sich selbst sorgt. Jedes Kind lernt grundsätzlich gern und von sich heraus, sobald es innerlich dazu bereit ist. In der Schulpraxis ist der Besuch des Unterrichtes daher ganz freiwillig, und zwar bis zum Schulende mit etwa 16 Jahren.2. Jeder kann tun und lassen, was er will, solange er niemanden dabei stört und die Regeln einhält. Die individuelle Freiheit endet dort, wo die der Anderen beginnt. Summerhill ist eine Schule mit sehr vielen Schulregeln. Derzeit sind es über 200 und sie sind verbindlich für alle.
3. Kinder sind in der Lage, in einer echten demokratischen Gemeinschaft ihr Leben selbst zu regulieren. Die Regeln des Zusammenlebens werden demokratisch abgestimmt. Sie können jede Woche neu herausgefordert, diskutiert und beschlossen werden. So entsteht eine Mischung zwischen Demokratie und Konsensus.
Der Aufenthalt für die Kinder in Summerhill besteht
aus dreimal elf Wochen (drei Terms); d.h. dreiunddreißig Wochen im
Jahr leben sie dort und neunzehn Wochen zu Hause, wo sie die Familie und
alte Freundschaften pflegen. Die ersten 2 -3 Tage sind jeweils Wiedereingewöhnung
(sowohl dort, als auch hier) und nicht immer ganz leicht. Wir besuchen
sie jeden Term für ein verlängertes Wochenende. Um Hausaufgaben,
Schulranzen und Noten brauchen wir uns nie kümmern, weil es keine
gibt, - außer den Noten der GCSE-Abschlußexamina, falls diese
abgelegt werden wollen.
Wie es dazu kam, daß unsere Kinder nach Summerhill gingen.
Während unserer Studienzeit 1972 - 1978 wurden wir mit den Schriften A.S. Neills vertraut, dem Gründer der Summerhill Schule in England. Unser beider Hauptinteresse an der Medizin lag immer schon auf dem psychosozialen und psychosomatischen Gebiet, und so waren wir fasziniert von diesem einfachen, radikalen und mutigen Schulmodell mit seinen positiven Auswirkungen auf die Schüler. Je mehr wir uns damit beschäftigten, desto mehr hat uns Neills Ansatz und dessen Bedeutung für die Erziehung überzeugt. In unserer ärztlichen Praxis sehen wir ständig Kinder, die an der Schule leiden. Inzwischen ist es eine bekannte Tatsache in der Medizin, daß Stres-Symptome bei Schulkindern in dem Maße zunehmen, wie die Menge an vorgeschriebenem akademischen Lernen anwächst.
1985 stießen wir während einer psychotherapeutischen Weiterbildung in den USA auf ein Interview mit Ena Neill, A. S. Neills Ehefrau, in einer amerikanischen Zeitschrift mit dem Titel Summerhill is still not ruled by adults. Zu unserer großen Überraschung existierte also die Schule noch. Ena Neill hatte nach dem Tod ihres Mannes 1973 die Leitung mit dem selben Konzept übernommen. Zwei Jahre später lasen wir in der gleichen amerikanischen Zeitschrift ein Interview mit Zoe Readhead, Neills Tochter, Growing up self-regulated. Sie hatte 1985 ihre Mutter in der Leitung abgelöst und war von da an Schulprincipal. Sie selbst hatte ihre Schulzeit in Summerhill verbracht, ihre vier Kinder ebenfalls. Wie die meisten Leute hatten wir zu dieser Zeit angenommen, daß Summerhill inzwischen zwar weltbekanntes Schulmodell war (im positiven oder negativen Sinn) aber seit Neills Tod 1973 der Vergangenheit angehörte.
Nachdem wir nun wussten, daß Summerhill nach den selben Prinzipien funktioniert wie früher, besuchten wir die Schule und machten Kontakt mit ehemaligen Summerhill-Schülern in Deutschland. Wir erlebten sie als freundliche, selbstbewußte und gut funktionierende Persönlichkeiten, die offensichtlich ihren Weg in die erwachsene Welt gefunden hatten. 1987 gründeten wir in Deutschland einen gemeinnützigen Verein, u.a. mit dem Ziel, Elternschulung und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten zu den Themen selbstregulatorische Erziehung und psychosomatische Gesundheit.
Als unser ältester Sohn Alex 1990 mit sieben Jahren
in eine normale deutsche Grundschule kam, war er noch voller Lebensfreude,
Interesse und Lerneifer. Doch schon während der ersten Klasse mussten
wir zusehen, wie diese natürlichen Qualitäten von Monat zu Monat
verblassten. Er stellte kaum noch neugierige Fragen, wurde stumpfer und
verlor seine intrinsische Lernmotivation. In der Schule funktionierte er
rein akademisch gesehen hervorragend und hatte sehr gute Beurteilungen.
Seine Lehrer konnten nicht das wahrnehmen, was wir an ihm beobachteten,
weil sie keinen Sinn dafür zu haben schienen. Und so entschieden wir
uns, ihn 1991 nach Summerhill zu schicken. Da Julio genau die gleichen
Erfahrungen in der deutschen Grundschule machte, ging er ab 1995 ebenfalls
nach S. Wir wollten, daß beide in einer Schule sind, in der sie ihre
individuellen Fähigkeiten und Potentiale optimal entfalten konnten,
daß sie seelisch und körperlich gesund blieben und psychosoziale
Schlüsselqualifikationen erwerben können. Weder wir noch unsere
Kinder haben diese Entscheidung jemals bereut.
Die Grundlagen
Jean Jacques Rousseau machte einst die Feststellung: Der Mensch wird frei geboren und liegt doch überall in Ketten....Wie kommt es zu dieser Veränderung? Ich weiß es nicht." Seit dieser Zeit gab es viele Theorien hierüber und auch etliche, z.T. politische Versuche, der Lösung dieses Rätsels auf die Spur zu kommen und diese Ketten zu sprengen. A.S. Neill hatte zwar nie das hohe Ziel, die Menschheit von ihren Ketten zu befreien. Und doch legte er mit seinen einfachen Prämissen einen höchst praktischen Grundstein dafür. Seine Ausgangsbeobachtungen waren:
Kein Kind wird böse geboren. Es gibt ein angeborenes, natürliches Gutsein (goodness).Die drei Prinzipien des Summerhill-Modells, die sich aus diesen Beobachtungen Neills ergaben, sind:
Wegen seiner natürlichen Neugierde gibt es kein faules (lazy) Kind. Was es benötigt, sind individuelle Freiheit beim Lernen und anderen Aktivitäten.
Demokratische Selbstregierung in einer sich gegenseitig respektierenden Lebensgemeinschaft auf der Basis von Freiheit ist möglich.
1. "Lebensglück ist das, was am meisten zählt." Die erste wichtige Voraussetzung zur Erhaltung der Lebensfreude und zur Vorbeugung gegen Ketten.2. "Es gibt kein faules Kind." Dies bedeutet: die psychosoziale Entwicklung hat Vorrang; wenn Kinder emotional stabil, ausgeglichen und lebensfroh sind, sorgt der Verstand für sich selbst. Jedes Kind lernt grundsätzlich gerne und von sich heraus, sobald es innerlich dazu bereit ist.
3. Kinder sind in der Lage, in einer echten demokratischen Gemeinschaft ihr Leben selbst zu regulieren. Die Regeln des Zusammenlebens werden demokratisch abgestimmt und können jede Woche bei den regelmäßigen Meetings und Tribunals aufs Neue diskutiert und beschlossen werden. Summerhill ist von je her eine Schule mit sehr vielen, verbindlichen Regeln (derzeit über 200).
Das große Mißverständnis
An dieser Stelle halten wir es für notwendig, auf ein grundlegendes Mißverständnis gegenüber dem Summerhill-Konzept hinzuweisen: Neill wurde in den 70er und 80er Jahren mit seinem Anliegen grundsätzlich mißverstanden. Meist wurde Freiheit mit antiautoritärer Haltung und Laissez-faire verwechselt. Neill selbst sprach niemals für eine antiautoritäre Erziehung, noch hat er diese je an seiner Schule praktiziert. Der Titel seines bekanntesten Buches wurde damals in etlichen europäischen Ländern eigenmächtig und falsch mit Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung übersetzt. Der Originaltitel dieses Standardwerkes lautete dagegen Summerhill - A Radical Approach to Education. Medien und Fachwelt spiegeln dieses grundlegende Mißverständnis bis in die heutige Zeit wider. Ihre Berichte in Zeitungen, Fachzeitschriften, Büchern und Filmen sind bis auf wenige Ausnahmen durch dieses irrige Vorurteil verzerrt, und zwar ganz massiv.
Die negativen Auswirkungen dieser Verzerrung prägen bis heute Diskussion und Praxis der Erziehung. Als Folge wurde das Summerhill-Modell unpopulär und wird heute in den Medien immer wieder zum klassischen Gegen-Vorbild für eine gesunde Erziehung abgewertet. Mehr noch: das Mißverständnis von Freiheit - und damit das notwendige Scheitern falsch angewandter Konzepte führte auf vielen Ebenen zum konservativen Aufruf back to basics!. Im Interesse zukünftiger Generationen sollte dieses Mißverständnis aufgedeckt werden. A.S.Neill hat in seinen Schriften und Vorträgen immer wieder ausdrücklich den Unterschied freedom versus licence betont. In der täglichen Praxis bedeutet das: jeder hat das Recht, zu tun und zu lassen, was er will, solange dabei nicht das Recht eines Anderen oder der Gemeinschaft verletzt wird. Man fragt sich, wer eigentlich Neills Bücher jemals richtig und unvoreingenommen gelesen hat.
Beispiele für eine korrekte Rezeption sind Erziehungswissenschaftler
wie etwa J. Ziegenspeck (Uni Lüneburg), P. Ludwig (Uni Tübingen)
oder J.M. Kamp (Essen). Letzterer schrieb:
"Summerhill ist vor allem eine selbstregierte, internationale Lebensgemeinschaft, ein Gesellschaftsmodell des Zusammenlebens freier Menschen. Das Besondere daran ist die grundsätzliche Orientierung aller Erziehung an den Interessen des Kindes, wie sie vom einzelnen Kind selbst geäußert werden (nicht ein theoretisch erdachtes objektives Interesse aller Kinder). Das bedeutet: wesentliches Erziehungs- und Lebensziel Summerhills ist persönliches Glück, also physisch und psychisch gesunde, selbstbewußte Menschen aufwachsen zu lassen. Diese sollen sich den eigenen inneren Antrieben gemäß und innerhalb einer demokratisch selbstbestimmten Gemeinschaft frei entwickeln können. Der Zweck der Schule ist es also nicht, angepasste leistungsfähige Arbeitskräfte zu produzieren, nicht unbedingt nur gesellschaftlicher oder beruflicher Aufstieg. Ein solches Ziel ist allein Sache des einzelnen Jugendlichen, also dessen eigene freie Entscheidung.Um hier sofort einem weiteren möglichen Mißverständnis vorzubeugen: auch in Summerhill treffen die meisten Jugendlichen ihre Wahl zu einer Berufsausbildung; sie tun dies dann aus ihrer individuellen Reife heraus und aus Interesse, auf der Basis individueller Freiheit und gesellschaftlicher Mitverantwortung. Die Voraussetzung dazu ist, dem Kind von Anfang an die größt mögliche Entscheidungsfreiheit zu lassen und die inneren Antriebe nicht durch Zwang, äußeres Drängen, überredung oder Moralisieren zu überformen. Wenn das Kind seine - naturgemäß egoistischen - Interessen wirklich ausleben und seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, dann - und nur dann - entwickeln sich in der Jugendzeit gewissermaßen von selbst (erfahrungsgemäß) altruistische Orientierungen. Dies bedeutet möglicherweise schwierigere Kinder, dann aber weniger schwierige Jugendliche.
Summerhill geht davon aus, daß jedes Lernen, das nicht aus innerem Antrieb wirklich freiwillig geschieht, die Lernmotivation (d.h. die Grundlage allen Lernens!) zerstört. Der Unterrichtsbesuch ist deshalb absolut freiwillig. Es gibt weder Zwang noch überredung zum Unterrichtsbesuch, keinen Wettbewerb, keine Noten. Die freie Entscheidung des Kindes, wie es den Tag verbringt, hat in der alltäglichen Praxis in Summerhill zu einer anderen Zeitverteilung im Leben der Kinder geführt: In den ersten Jahren (unsere Grundschulzeit) dominiert noch das Bedürfnis am freien Spiel (d.h. praktisches Lernen im Leben), erst in der Jugend erwacht aus innerem Antrieb das Interesse an mehr theoretischem Wissen, wie es im Unterricht vermittelt werden kann. In den letzten Schuljahren sind die Schüler in der Regel hoch motiviert und lernen intensiv aus eigenem Antrieb. Sie eignen sich deshalb den Lehrstoff in viel kürzerer Zeit an als an normalen Schulen, um freiwillig die Abschlußprüfung (GCSE) zu schaffen und dann auf ein College oder in einen Beruf zu wechseln.
Im Gegensatz dazu bemühen sich staatliche Schulen (und auch fast alle privaten , bes. die sog. Eliteschulen) praktisch weltweit darum, die Kinder gemäß den Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft zu formen: Orientiert an den Anforderungen der Universitäten, des Arbeitsmarktes, der Wirtschaftsunternehmen, der Gesellschaft etc. werden von den Kultusministern verbindliche Stoff- und Lehrpläne erstellt, die Schüler zum Schulbesuch verpflichtet, die Lernleistungen laufend überprüft und zensiert. In der modernen Leistungsschule hat der Erwerb von Wissen oberste Priorität. Individuelles Lerntempo ist unmöglich, über- oder unterforderte Schüler fallen sofort aus der Norm. Für persönliches Lebensglück ist kein Raum, dieNormierung der Gesellschaft ist vorprogrammiert und psychische als auch physische Schädigungen sind die Folge. Dies alles ist kritischen Ärzten, Psychologen, Pädagogen und Eltern wohlbekannt.
Unter der kleinen Zahl privater Schulen, die mit Erfolg eine völlig anders geartete, direkt gegensätzliche Erziehung praktizieren, ist Summerhill eine der ältesten, konsequentesten und weltweit bekanntesten. Sie kommt mit radikal anderen Zielen, Auffassungen und Methoden zu radikal anderen, erwiesenen Ergebnissen, die oft in direktem Gegensatz zu herkömmlichen pädagogischen Auffassungen und Voraussagen stehen. Summerhill beruft sich nicht auf eine frei erdachte Theorie oder theoretische Meinung, ist auch längst kein Experiment mehr, sondern das Ergebnis von über 75 Jahren praktischer, überprüfbarer Erfahrung. Es baut konsequent auf den noch älteren Erfahrungen Homer Lanes auf. Nur sehr wenige Schulen weichen - erfolgreich - so sehr vom staatlichen Normalmodell ab. Gerade diese haben zur Entwicklung des Erziehungswesens wesentlich beigetragen und ermöglichen auch weiterhin die Weiterentwicklung und überprüfung der sonst üblichen Erziehungsannahmen. Eine ernsthafte pädagogische Forschung zu Summerhill scheint in den 90er Jahren mit einigen Doktorarbeiten gerade erst zu beginnen.
Summerhill muß alle paar Jahre große Hindernisse überwinden und Schwierigkeiten meistern: staatliche bürokratische Schikanen und Auflagen, finanzielle Engpässe, Mißverständnisse und Verunglimpfungen in Medien und Fachliteratur, sowie direkte Angriffe von einzelnen Individuen oder von staatlichen Stellen auf seine Existenz. Summerhill ist eine kleine, von den Eltern finanzierte Independent School, die keine staatliche Finanzierung erhält. Die Eltern - großenteils Ausländer - haben diese Schule bewußt und gezielt wegen ihrer Pädagogik ausgewählt und zahlen Schulgeld dafür. Es ist ein Lebens- und Schulmodell, das weltweit wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen in Erziehung und Pädagogik einfliessen lässt und so positive Veränderungen bewirkt. Summerhill war und ist wesentlich an der Humanisierung und Demokratisierung der Schulen im Interesse des Kindes beteiligt.
Seit 77 Jahren empfängt Summerhill scharenweise interessierte Besucher: Eltern, Studenten und Professionelle aus der ganzen Welt, ohne dafür jemals einen Pfennig Geld verlangt zu haben. Die Gemeinschaft ist hierzu meistens bereit (wegen des gehäuften Interesses in letzter Zeit nur an bestimmten Besucher-Wochenenden!), den Gästen die Schule zu zeigen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen mitzuteilen und dabei Zeit und Energie zu investieren. Die Besucher dürfen meist einem der wöchentlichen Meetings beiwohnen, mit Staff und Kindern sprechen, Fotos und Filme machen sowie auch über die Eindrücke in Fachzeitschriften oder den allgemeinen Medien berichten. Summerhill ist eine sehr offene Schule, letzten Monat kamen z.B. 105 Leute aus Taiwan auf einmal, darunter Studenten, Eltern, Lehrer, Erziehungswissenschaftler und Politiker."
Als Eltern von zwei Summerhill-Schülern und als
praktizierende ärzte (Psychotherapie und Homöopathie), die täglich
mit Kindern und Eltern zu tun haben, sind wir recht gut in der Lage, die
positiven Auswirkungen dieses Schulmodelles auf die psychische, soziale,
kreative und akademische Entwicklung von Kindern (z.T. auch der beteiligten
Erwachsenen) im Vergleich zu den Auswirkungen der normalen staatlichen
Schulen zu beurteilen.
Die Erfahrung mit Summerhill innerhalb unserer Familie
Alex und Julio sind wie die meisten Kinder in Summerhill für lange Zeit nicht zum Unterricht gegangen. Ein Grund war sicher der Lernzwang in der deutschen Regelschule. Wann ein Kind von innen heraus was lernen möchte, unterscheidet sich individuell beträchtlich, eine Tatsache, dem das öffentliche Schulsystem keine Rechnung trägt. Beide Kinder hatten im ersten Schuljahr in Deutschland sehr gute Leistungen und die Lehrer sahen keinerlei Probleme. Wir dagegen beobachteten, wie sie allmählich blasser wurden und ihre natürliche Lern- und Lebensfreude dahinschwand. Während der ersten Jahre (!) in Summerhill gab es für beide - wie für die allermeisten Anfänger dort - Interessanteres und deshalb Wichtigeres zu tun, als stundenlang im Klassenzimmer zu sitzen. Alex ging drei Jahre lang nicht zum Unterricht, sondern tobte herum, spielte, baute Baumhäuser oder unternahm irgendetwas. Zugegeben: unsere überzeugung vom selbstregulierten Lernen wurde auf eine harte Probe gestellt. Dennoch haben wir durchgehalten und trotz gelegentlicher Angstmomente, was wohl aus ihm werden wird, konsequent auf Selbstregulation vertraut.
Wir haben uns vom ihm erzählen lassen, wie es ihm geht und was er so macht, haben aber nie ein einziges Wort über Unterricht verloren und ihn auch nicht auf irgendeine subtile Weise zum Lernen gedrängt. Mit 12 Jahren begann Alex schließlich, ganz aus eigener, innerer Motivation neugierig und mit Eifer zu lernen: zuerst Japanisch, Computertechnik, Theater und Holzarbeit, dann auch ein paar Hauptfächer. In nur 3 Jahren erarbeitete er sich schließlich den Stoff für die IGCSE-Prüfungen (International General Certificate of Secondary Education) in Chemie und Biologie, Deutsch und Englisch (beide als Erstsprache), sowie Mathematik, d.h. in den für ihn interessantesten Fächern. Diese Prüfungen hat er mit 14 bzw. 15 Jahren und sehr guten Noten abgelegt. Ein Jahr darauf folgten abschließend Physik, Information Technology (Computing), Geschichte, Englisch Advanced und Mathe im Abitur-level. Fünf im GCSE geprüfte allgemeinbildende Fächer werden in Deutschland als Realschulabschluß anerkannt, dabei muß eine Fremdsprache und ein naturwissenschaftliches Fach sein. Alex hat sich allerdings entschieden, danach nicht auf ein deutsches Gymnasium, sondern auf ein englisches College zu gehen um A-level-Abschlüsse zu machen. Später will er evtl. Naturwissenschaften studieren. Er hat inzwischen ein Platzangebot von einem College in Cambridge. Bis dahin wird er noch ein Jahr in Summerhill bleiben, um sich langsam dort abzulösen und der Community zu helfen. Ich brauche erst gar nicht zu erwähnen, daß er von Anfang an sein Leben als Jugendlicher voll lebt, mit allen Freuden und Leiden, die dazu gehören, wobei die Freuden jedoch überwiegen. Das erste Verliebtsein, dann die erste und zweite große Liebe sowie viel innige Freundschaften.
Julios Entwicklung verlief ganz ähnlich: er ging ebenfalls drei Jahre lang nicht zum Unterricht, außer in Kunst, Holzarbeit und Kochen. Er lernte Klavier, betätigte sich gerne sportlich und spielte so viel und so versunken, daß er oft vergaß, uns zur vereinbarten Zeit anzurufen. Beim zweiten Durchgang fiel es uns natürlich leichter, dem selbstmotivierten Lernen zu vertrauen, obwohl er in seinem 10. Lj. beim Lesen nur mühsam die Buchstaben entziffern konnte, wenn er Lust dazu hatte, und ziemlich falsch schrieb, wenn er uns mal eine Karte schickte. Wir vertrauten darauf, daß er es dann leicht lernen wird, wenn er innerlich dazu bereit ist. Das würde ihn nicht daran hindern wird, Akademiker zu werden, wenn er dies wollte. Vielleicht würde er einen handwerklich-künstlerischen Beruf erlernen, oder sogar beides. Inzwischen (12) geht er zum Unterricht, aber nur phasenweise und nur in manchen Fächern. Er kann recht gut lesen und schreibt auch eigene Geschichten und Comics auf dem Computer. Er schreibt zwar mit vielen Fehlern, dafür aber mit viel Freude und ohne schlechtes Gewissen. Entscheidend für uns bzw. für Summerhill ist nur, daß Kinder sich optimal entfalten, innere Befriedigung an etwas finden und Schlüsselqualifikationen erwerben: Lebensfreude, Selbstbewußtsein, Autonomie, Teamgeist, Flexibilität, Kreativität u.a.m. Diese Eigenschaften sind auch in der Wirtschaft inzwischen hochbewertete und gegenüber Abschlußnoten gleichrangige Bewerbungskriterien. Englisch haben beide Kinder schon in den ersten Wochen nur über den Kontakt, also nicht im Unterricht erlernt. Sie sind sozusagen zweisprachig aufgewachsen.
Die meisten Reaktionen von anderen Eltern sind: "Wie bringt Ihr es nur fertig, Eure Kinder wegzugeben?". Unsere Antwort: beide Kinder sind sehr glücklich in Summerhill - das sagen sie und man sieht es. Sie konnten ihr Potential dort viel besser entfalten als in einer Regelschule. Für ihr Alter sind sie außerordentlich reife, selbstbewußte und sozial ausgerichtete Persönlichkeiten; sie sind (wieder) lernfreudig, aber vor allem gesund, kreativ und voll Lebensfreude. Ihre Persönlichkeitsstrukturen sind stabil und flexibel zugleich, natürlich mit Stärken und Schwächen wie bei jedem. Unsere Beziehung zu ihnen ist innig; dank Summerhill ist sie sogar noch intensiver und aufrichtiger. Dies ist nicht verwunderlich, denn ihr Leben in unserer Kleinfamilie wurde um die demokratische Gemeinschaft von 65 Kindern und 12 Erwachsenen erweitert und sehr bereichert. Auch wir haben durch ihre Erfahrungen in S. viel dazugelernt. Wir leben unsere gemeinsame Zeit von 19 Wochen (im Gegensatz zu den 32 Wochen Schulzeit) besonders intensiv, in sehr anregender und wirklich guter Familienatmosphäre.
Die Kleinfamilie trägt heute wieder - wohl aufgrund ihrer Zerfallstendenz - einen Heiligenschein. Angesichts einer bedrohlichen Umwelt klammert man sich heute verkrampft an das Familienleben. Und deshalb wird dies insbesondere für die Kinder zu einem neuen, besonderen Problem: sie sind oft der einzig erfreuliche Lebenssinn und werden - zumindest in einigen gesellschaftlichen Schichten - ängstlich kontrolliert, überversorgt und verplant. Und sie fühlen sich daher überfordert und auch oft benutzt. Manche Leute sehen das aber ganz anders und betrachten uns zlieber als Rabeneltern, die ihre armen Kinder "weggeben" und ihnen aus unerfindlichen Gründen Liebe, Geborgenheit und Führung vorenthalten. Jugendliche haben jedoch unter sich mehr Lebensfreude, fühlen sich freier und erleben viel mehr Flow (Csikszentmihalyi, 1990) als im Zusammensein mit Erwachsenen. Nur so können sie eine eigene, lebenspositive Kultur entwickeln, relativ unabhängig von den ängsten der Erwachsenen, von Moden, Drogen und Gewalt. Bei Naturvölkern leben Kinder und Jugendliche meist in eigenen Häusern unter sich und proben spielerisch das Erwachsenwerden.
Eines Tages müssen wir alle unsere Kinder loslassen, denn sie gehören nicht uns, sondern nur sich selbst. Es ist aber eine Erfahrungstatsache, daß Summerhill-Schüler später immer sehr gerne und freiwillig nach Hause zurück kommen und einen besonders innigen Kontakt zu den Eltern pflegen.
Aus den 75 Jahren Summerhill-Praxis liegen hinreichend Erfahrungen vor, um sicher sagen zu können, daß sich die ehemaligen Schüler ohne wesentliche Probleme in weiterführende Schulen und Universitäten (80 - 90%), in eine Berufsausbildung und ganz allgemein in die Welt der Erwachsenen integrieren. Manch ein Skeptiker möchte lieber das Gegenteil glauben, denn welche Konsequenzen in Denken und Handeln müssten sonst dieser Tatsache folgen? Andererseits kann sich jeder heute darüber bewußt werden, wie viele junge Leute durch Leistungsdruck und Demütigungen als Kranke oder Verweigerer, psychosozial und kreativ verkrüppelt, demotiviert, manche auch als Analphabeten aus der Schule entlassen werden. Dabei mögen noch andere Faktoren wichtig sein, Tatsache ist aber, daß die Schule geht in der Regel am Kind vorbeigeht.
Unsere Kinder wussten immer, daß sie jederzeit in eine deutsche Schule zurückkommen konnten, falls sie es wollten. Bisher fiel ihre Entscheidung stets dagegen aus. Sie sind dankbar für Summerhill und wir sind es auch. Heimweh war für Alex ganz zu Beginn ein größeres Problem, für Julio überhaupt nicht0. Sie vermissen uns nur selten, momentelang, und dies geben sie ganz offen zu. Im Gegenteil: schon vor den Ferienenden fragen sie, wielange es wohl noch dauert, bis sie wieder nach Summerhill kommen. Wir dagegen spüren bei jedem Abschied ein paar Tage lang den Trennungsschmerz, aber ehrlich gesagt auch eine gewisse Erleichterung. In manchen Momenten fehlen sie uns, andererseits viel seltener als wir befürchtet hatten. Wir haben bewußt ein Opfer gebracht und wurden dafür mit großem Vertrauen und gutem Kontakt belohnt. Die Kinder waren und sind zum Glück nicht unser einziger Lebensinhalt. Wir konnten unsere Zweierbeziehung wieder intensiver leben, was uns und letztlich auch den Kindern gut tat. Wir widmeten uns wieder mehr unserer Arbeit sowie anderen Aufgaben und Aktivitäten: alles in allem eine Verbesserung unserer Lebensqualität.
Ist Summerhill eine ideale Schule? Nein, leider nicht.
Manche jungen Lehrer wissen nicht, worum es in Summerhill eigentlich geht,
und gehen dann bald wieder. Die Verteilung der Nationalitäten der
Schüler ist derzeit nicht optimal. Die finanziellen Mittel sind knapp,
da die Schule als unabhängige Einrichtung keine staatliche Unterstützung
bekommt. Das Essen ist zwar für englische Verhältnisse gut, aber
trotz täglichem Obst und Gemüse unserer Einschätzung nach
nicht gesund genug, obwohl viele Kinder sowieso nicht darauf achten. Die
Lehrer verdienen wenig und haben wenig Freizeit. Engagement für die
Schule und privates Familienleben sind nur schwer zu vereinbaren. Große
Teile der Gebäude wurden in den letzten Jahren schön renoviert
und neue wurden gebaut, dennoch bedarf es weiterer Renovierungsarbeiten.
Obwohl Kinder aus allen Schichten vertreten sind, ist es für viele
Eltern schwer, das Schulgeld von ca. 1500.- DM pro Monat (aufs Jahr verteilt)
für ein Kind zu bezahlen. Ein deutsches Internat kostet im Vergleich
dazu ca. 3.000 - 4.000.-DM und dennoch könnten sich die meisten Eltern
Summerhill nicht leisten.
Wir können das Geld zum Glück aufbringen und
stellen jetzt schon fest, daß es eine sehr wertvolle Investition
mit sicherem Gewinn für uns alle war. Wir sagen dies ohne schlechtes
Gewissen, aber mit dem Bedauern, daß ähnliche Erfahrungen leider
nicht für alle Kinder möglich sind. Es wäre überaus
wünschenswert. Julios erleichteter Ausruf nach seinem letzten Schultag
in Deutschland war: Endlich frei!
Waldbrunn, im Oktober 1999
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Literatur:
Appleton, M. Kinder in Summerhill - Selbstregulativ Aufwachsen. Ca. 200 S., wird 2000 im Schneider-Verlag erscheinen. Als englisches Manuskript für 40.-DM zu beziehen bei D. Fuckert.
Kamp, J.M. Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Leske und Budrich, Opladen 1995.
Lamb, A. E. (Hrsg.) / Neill, A.S. The New Summerhill. Penguin, London 1992, New York 1996.
Ludwig, P. Summerhill: Antiautoritäre Pädagogik heute. Ist die freie Erziehung tatsächlich gescheitert? Beltz Grüne Reihe, Weinheim-Basel 1997.
Neill, A.S. Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung - Das Beispiel Summerhill (Engl. Originaltitel: Summerhill - A Radical Approach to Education) Rororo TB, Reinbek 1969.
Neill, A.S. Die grüne Wolke - Den Kindern
von Summerhill erzählt. Rororo TB, Reinbek 1971.
Autoren:
Dr. med. Dorothea Fuckert - Dr. med. Manfred
Fuckert
ärztin - Psychotherapie
- Homöopathie - Arzt für Allgemeinmedizin - Homöopathie
Tel 06274-929377 - Tel 06274-5346
Im Bräunlesrot 20, D-69429 Waldbrunn
Fax 06274-5345 E-Mail
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