Summerhill und die Inspektoren
Das britische Bildungsministerium bedroht A.S. Neills Reformschule mit Schliessung

Deutschlandfunk: 'Informationen am Morgen' am 6. März 2000
Autorin: Imke Henkel

ATMO-O-TON (Kunstunterricht)

AUTORIN:
Ein großer Tisch in der Mitte, übersät von Papieren, Farbresten, Stofffetzen. An den Fenstern rinnt der Regen herab. Carmen, 15, dreht dem grauen Tag den Rücken zu und schnipselt den Kopf eines Mannequins aus einer Modezeitschrift. Kunstunterricht in Summerhill. Die Lehrerin sitzt neben Carmen und zeichnet sorgfältig ein Ornament. Carmen zieht dem Papiermannequinkopf eine selbstgehäkelt Jacke über, grinst.

1. O-TON (Carmen: A 493)
Itīs everys childīs natural ability ...
Jedem Kind, erklärt Carmen, ist das Lernen einfach angeboren. Schon kleine Kinder können gar nicht anders, als ständig zu lernen: wenn sie anfangen zu laufen, Dinge aufheben. Aber Lernen in dem Sinne, dass man sich in ein Klassenzimmer setzt - ich find das zwar ok, aber ich tue es wesentlich lieber, wenn nicht der Druck eines Examens dahinter steht.
... pressure of exams.

(D: 16"/ E: 23")

AUTORIN:
Gedanken, die allen selbstverständlich sind, die in Summerhill zur Schule gehen oder aber unterrichten. Kinder sollen sich so entwickeln können, wie sie es wollen, nicht, wie Erwachsene es ihnen vorschreiben, fand A.S.Neill, der legendäre Gründer Summerhills.

2. O-TON (Freddy, A 612)
I like freedom. Making your own decisions, thatīs what I like best about it. And I like being able to swear.

AUTORIN:
Er liebe die Freiheit, dass er selbst entscheiden dürfe, sagt Freddy, neun Jahre alt und seit gerade drei Wochen in Summerhill. Ausserdem gefalle ihm, dass es ihm hier erlaubt sei zu fluchen. Die Freiheit in Summerhill jedoch ist radikaler als eine blosse Abwesenheit von Verboten. Sie fordert von den Kindern die Verantwortung für das eigene Leben. Das schließt eben ein, dass es den Schülern überlassen bleibt, ob sie zum Unterricht, zu den Lessons gehen oder nicht. Für Jonas - wie für die meisten Schüler - erst einmal ein Schock. Der heute Siebzehnjährige kam vor fünf Jahren von einer Stuttgarter Schule nach Summerhill und brauchte zwei terms, also Schultrimester, bis er sich an die Freiheit gewöhnt hatte:

3. O-TON (Jonas, B 258)
Ich bin nur frei rumgelaufen eben. Für diese zwei terms. Und bin überhaupt nicht in lessons gegangen, weil ich hab gedacht, es wär Scheiße hier. Wenn ich hier meine Freiheit hab, und - aber dann hab ich eben gemerkt, ja ich will eigentlich wieder anfangen mit lessons und dann bin ich eben hingegkommen in lessons.

AUTORIN:
Dass auf diese Weise jedes Kind anders und anderes lernt, ausserhalb jedesLehrplans und vorgeschriebenen Standards, ist für den deutschen Grundschullehrer Marco Hoppe, der seit einigen Monaten an der Reformschule unterrichtet, keine Gefahr, sondern Charakteristikum:

4. O-TON (Marco Hoppe, B 550)
Das ist eben Summerhill. Dass Interessen aufgegriffen werden. Und ein Kind, das nach seinen Interessen lernt, lernt auf dem Gebiet dann auch viel viel mehr.
Warum soll ich es dazu zwingen, etwas anderes zu machen?

(ATMO B 006ff:
At nine thirty lesson starts ...)

AUTORIN:
Führung durch Summerhill. Jonas erklärt einer der zahlreichen Besuchergruppen, diesmal neun Grundschullehrern aus Norwegen, den Stundenplan. Aufstehen um acht. Um neun Uhr dreissig beginnt der Unterricht. Eine Regel für diese Zeit heisst: Während der Unterrichtszeit darf niemand fernsehen. Und es muss auch jeder aufstehen, einfach im Bett liegenzubleiben ist nicht erlaubt. Solche Regeln gehören zu Summerhill ebenso wie die Freiheit. Tatsächlich sind sie ein wesentlicher Teil der Selbstverantwortung, die den Summerhill-Schülern auferlegt wird. Denn die Regeln werden nicht von den Lehrern bestimmt, sondern vielmehr in den Versammlungen entschieden, die zweimal wöchentlich stattfinden und in denen jede und jeder gleichberechtigt ist, ob erwachsen oder Kind. Für Zoe Readhead sind diese Versammlungen das Herz der Summerhill-Philosophie. Zoe Readhead ist die Tochter von A.S.Neill und seit 1985 seine Nachfolgerin als Leiterin der Schule. Sie hat an den Grundsätzen, nach denen ihr Vater Summerhill führte, nichts geändert. Nicht aus Pietät, sagt sie, sondern aus Überzeugung. Die freilich wird jetzt auf eine harte Probe gestellt. Vor genau einem Jahr wurde Summerhill von Inspektoren der stattlichen Behörde für Schulstandards besucht. Das allein war noch nicht ungewöhnlich, solche Inspektionen finden regelmäßig an allen englischen Schulen statt. Ungewöhnlich war auch noch nicht, dass die Inspektoren an Summerhill einiges auszusetzen hatten, das war bereits seit Jahren der Fall, die Schule war davon nicht bedroht. Doch diesmal führte der Bericht der Aufsichtsbehörde zu einer formalen Klage des englischen Bildungsministeriums. Wenn Summerhill den in dieser Klage aufgeführten Änderungswünschen nicht Folge leiste, so die Drohung, könne die Schule geschlossen werden. Was Zoe Readhead empört, ist das Unverständnis, das ihrer Ansicht nach die Inspektoren für die besondere Philosophie Summerhills zeigten. So beklagten die Inspektoren etwa, die Schüler seien nicht hinreichend beaufsichtigt. Das, sagt Zoe Readhead, verkenne völlig, wie Summerhill funktioniere.

5. O-TON (Zoe Readhead, B 316)
What they feel to be a problem of course we do not. ...
Was sie für ein Problem halten, ist für uns keins. Wir haben eine Gemeinschaft von etwa 57 Leuten, deren ganzer Sinn das Wohlergehen eines jeden ist. Nur weil bei uns kein Lehrer mit der Trillerpfeife den Kindern hinterherrennt bedeutet das noch nicht, dass die Kinder unbeaufsichtigt sind. Sie werden von der Gemeinschaft beaufsichsigt und von den Regeln, die wir in unserer Gemeinschaft aufstellen. Und wir haben in Summerhill bewiesen, dass Regeln, die die Kinder selber aufstellen, viel eher beachtet werden als Regeln, die Lehrer vorschreiben. ... told them what to do.
(D: 29" /E: 30")

AUTORIN:
Tatsächlich bedeuten die vom Londoner Bildungsministerium geforderten Änderungen praktisch den Abschied von der Summerhill-Philosophie. So verlangt die formelle Klageschrift, die Schüler in Summerhill sollten nicht länger selbst entscheiden, ob sie am Unterricht teilnehmen oder nicht. Zwang jeoch lehnt Zoe Readhead ebenso ab wie ihr Vater. Widerspruch regt sich bei ihr aber auch schon bei untergeordneteren Themen. Etwa gegen die Forderung, jeweils getrennte Toiletten für Lehrer und Schüler einzurichten.

6. O-TON (Zoe Readhead, A 081)
Summerhill has always been a family environment ...
In Summerhill haben wir immer wie in einer Familie gelebt. Weil wir eine demokratische Gemeinschaft sind, in der jeder gleich ist. Getrennte Toilletten würden diesem Grundsatz widersprechen.
... within the community.
(D: 9"/E: 13")

AUTORIN:
Zoe Readhead hat nun beschlossen, gegen die Klageschrift des Ministeriums ihrerseits juristische Klage zu erheben. In zwei Wochen soll die Anhörung beginnen. Derweil hat sich in England eine heftige Debatte darüber entwickelt, ob die immer striktere Überprüfung von Schulstandards alle Kreativität des Unterrichtens zu ersticken drohe. Für Carmen jedenfalls ist der Eifer der Inspektoren nicht nachzuvollziehen.

7. O-TON (Carmen, A 473)
We do not want to change all the schools, we just want ...
Wir wollen schließlich nicht alle Schulen ändern, sondern wir wollen nur, dass unsere Schule bleibt wie sie ist. Sie wollen uns in eine von ihren Schulen umwandeln. Aber es muss Unterschiede geben.
... always always needs to be difference.
(D: 9"/E: 11")

AUTORIN:
Sprichtīs und verschwindet im Speiseraum, an dessen hinterer Wand ein Klavier steht, nicht sehr gut gestimmt, und beginnt mit Verve zu spielen. Auf dem Rücken ihres schwarzen Sweaters steht mit grossen weissen Lettern: "Summerhill - die glücklichste Schule der Welt".

(ATMO-O-TON Klavierspiel unterlegen)