Meine Schulzeit in Summerhill (1991 - 2000)

Ich heiße Alex F., bin 17 Jahre alt und lebe in Deutschland. Mit sieben Jahren kam ich in die deutsche Grundschule und blieb ein Jahr, bevor ich Tagesschüler in der Summerhill-Schule wurde. Meine Mutter lebte zu der Zeit mit mir und meinem Bruder in England. Aber schon nach einem halben Jahr wurde ich Vollzeit-Schüler und lebte in der Summerhill-Gemeinschaft.

Zunächst möchte ich einiges zu meiner Schule erklären. Summerhill wird in Deutschland immer als "antiautoritär" bezeichnet, was aber falsch ist. Alexander S. Neill, der sie 1921 gründete, sprach niemals von antiautoritärer Erziehung. In Wirklichkeit ist es eine internationale demokratische Schule von derzeit 60 Schülern und etwa 12 Erwachsenen, in der jeder - Schüler wie Lehrer - gleiche Rechte hat. Der Unterricht ist vollkommen freiwillig. Summerhill liegt zweieinhalb Stunden nordöstlich von London nahe der Küste. Unterrichtszeiten sind 33 Wochen pro Jahr mit drei 'Terms', d.h. Trimester von je 11 Wochen. Die restlichen 19 Wochen im Jahr sind wir (mein Bruder und ich) in den Ferien zuhause bei unseren Eltern.

Die große Freiheit für die Kinder mag viele Leute schockieren, aber es ist die Philosophie der Schule, daß Kinder spielen und tun dürfen, was sie wollen, solange es nicht die Rechte eines Anderen verletzt. Allgemein glaubt man, daß Kinder nicht lernen, wenn sie nicht dazu gezwungen werden. Aber Kinder sind natürlich neugierig und wenn sie lange genug ihren Interessen gefolgt und innerlich bereit sind, fangen sie irgendwann an, freiwillig den Unterricht zu besuchen. Dies hat den großen Vorteil, daß sie für das Lernen motiviert sind. Unser Durchschnitt der Abschlußnoten in den staatlichen GCSE-Prüfungen (entspricht dem Realschulabschluß) ist deutlich besser als der englische Durchschnitt.

Als ich 1991 in Summerhill angefangen habe, war es natürlich schwer, da ich kein Englisch sprechen oder verstehen konnte. Ich hatte auch oft Heimweh. Als meine Mutter noch bei mir in England war, wollte ich sie nicht aus den Augen lassen. Dies hinderte mich natürlich, richtig in der Gemeinschaft mitzuwirken. Als Sie dann beschloss, nach Deutschland zurück zukehren, war ich natürlich bestürzt. Doch mit Freunden zu spielen half mir sehr, und schon nach wenigen Wochen war es leicht, mit anderen zu kommunizieren, durch "gebrochenes" Englisch und Handdeutungen. Danach ging das Lernen immer schneller und das Heimweh verschwand.

Die ersten zwei Jahre in Summerhill ging ich auch nie zum Unterricht. Ich verbrachte meine Zeit mit Spielen und Freundschaften schließen, Spaß haben, usw. Dabei lernte ich ganz von selbst Englisch sprechen, lesen, schreiben und kommunizieren. Etwa mit 12 Jahren ging ich zu einzelnen Unterrichtsstunden. Danach begann ich freiwillig und sehr motiviert, einige GCSE-Fächer zu studieren. In folgenden Fächern habe ich zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr die staatlichen Abschlußprüfungen gemacht: Science Double Award (Note 2), Deutsch als Muttersprache (2), Englisch als Muttersprache (2), Biologie (2), Chemie (3), Höhere Mathematik (1), Geschichte (3), Information Technology (2). Weil mich Mathe sehr interessiert, habe ich bereits in Summerhill einen Teil der A-level-Prüfung (Abitur), und zwar in Pure Mathematics und Mechanics gemacht. Seit September 2000 gehe ich auf ein College in Brighton und studiere Mathe, Physik und Informatik.

Wenn ein Summerhill-Schüler aus einem anderen Grund nicht zum Unterricht geht, außer, daß er einfach keine Lust dazu hat, wird ein Lehrer mit ihm vertraulich reden, um eventuelle Hinderungsgründe herauszufinden, wie z.B. eine Lernstörung. In diesem Fall kann er dann Einzelunterricht bekommen, um ihm weiterzuhelfen. Jeder Schüler wird gut über seine Möglichkeiten informiert, über die GCSE-Prüfungen, Colleges, usw. Noten und Hausaufgaben gibt es keine, nur manchmal bekommt man mehr Arbeit angeraten, damit man die Prüfungen besteht.

Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer in Summerhill ist vielmehr eine Freundschaft als die formelle Bekanntschaft, die in "normalen" Schulen üblich ist. Überhaupt sind Freundschaften - meiner Erfahrung nach, und die vieler Anderer - innerhalb Summerhills viel tiefer als die außerhalb. Seitdem ich Summerhill im Sommer verlassen habe, lernte ich natürlich auf meinem College viele neue Leute kennen und ich komme sehr gut mit den meisten zurecht. Aber diese Verbindung tiefer Freundschaft entwickelt sich nicht so leicht. Natürlich trifft man ab und zu doch Leute, mit denen man eine wirklich tiefe Freundschaft flechten kann, aber es scheint selten zu sein.

Es gibt in Summerhill zwei wöchentliche Schulmeetings, eines bei dem die allgemeinen Regeln und Gesetze des Zusammenlebens gemacht, verändert und aufgehoben werden. Das andere Meeting heißt Tribunal, bei dem Konflikte, Streitigkeiten und ähnliches behandelt werden. Jeder kann jeden Anderen in den Meetings vorbringen. Wiedergutmachungen für Verstöße- im Gegensatz zu Strafen - können von jedem vorgeschlagen werden. Dann wird über die verschiedenen Vorschläge demokratisch abgestimmt. Wiedergutmachungen können in kleinen Pfennigbeträgen bestehen, in Handlungen (z.B. 30 min. lang Abfall aufsammeln), usw. Wir haben sehr viele Schulgesetze (derzeit etwa 200) z.B. im Bereich Schlafengehenszeiten, Fernsehverbot-Zeiten und Videospiel-Verbot-Zeiten während der Unterrichtszeiten und viele andere.

Weil Summerhill den Schülern erlaubt, grundsätzlich frei zu entscheiden, wie sie ihre Zeit verbringen, und weil es die demokratische Gemeinschaft ist, die ihre eigenen Regeln aufstellt oder fallen lässt, haben Schüler im allgemeinen einen sehr starken Sinn für Verantwortung. Es gibt viele Verantwortlichkeiten, Rollen und Jobs, die Summerhill-Schüler freiwillig übernehmen können. Ich liste hier alle auf, die ich selbst schon übernommen habe: (Sie auch Beschreibungen der Verantwortlichkeiten).

Ich weiß, daß meine Schule etwas Besonderes ist und daß jetzt auf dem College nicht mehr diese große Wahlfreiheit besteht. Aber das ist in Ordnung für mich, weil ich wirklich motiviert bin und lernen möchte.

Nach meinen GCSE-Abschlüssen in Summerhill bekam ich Studienplätze von Colleges in Cambridge, Norwich, London und Brighton angeboten, um dort meine A-levels zu studieren (entspricht etwa dem Abitur, wobei man sich aber schon auf etwa drei Studienfächer spezialisiert). Ich habe mich für Brighton entschieden, weil ich hier mit ehemaligen Freunden aus Summerhill in einer Wohngemeinschaft leben kann. Sie machen alle unterschiedliche Sachen: einer studiert Informatik an der Uni (auch ein Deutscher wie ich), einer unterrichtet an einem Musik-College, eine studiert Sprachen, usw.

Als Fächer habe ich Mathe, Physik und Computer-Wissenschaften (Informatik) gewählt. Was ich nach dem College tun werde, weiß ich noch nicht genau, aber ich möchte jedenfalls an einer Universität studieren, entweder in Deutschland oder England. Ich will mir die Wahl noch offen halten. Computing, Mathe und Physik wählte ich, weil ich sie alle sehr interessant finde und noch mehr darüber lernen möchte. Vielleicht werde ich sie alle drei später studieren und einen Beruf wählen, der mit diesen Bereichen zu tun hat. Ich habe viel Erfahrung mit Computern gesammelt. Leider haben wir in Summerhill nur vier Computer für 60 Schüler. Dies bedeutet, daß die Computer immer viel Betreuungsarbeit brauchen. Ich gehörte zu den wenigen Leuten, die diese Aufgabe als von der Gemeinschaft gewählte Mitglieder des Computer Committee regelmäßig übernommen haben.

Meine Aufgabe bestand in der Pflege von Hardware, Software, Internet-Zugang und e-mailing. Ich kenne mich aus mit Memory Management, Wordprocessing und Desktop Publishing, habe Web-Seiten kreiert, eine Hausarbeit für meinen Unterricht in I.T. (Information Technology) mit Hilfe von Internet und on-line Formen verfasst sowie Programme in Basis-Sprachen für verschiedene Projekte geschrieben, u.a. ein Passwort-Schutz-System für PCs - und zusammen mit einem Mitschüler - ein Programm für einen komplexen Unterrichts-Zeitplan für die Schule. Mit Computern begann ich etwa mit zehn Jahren und habe mir das meiste Wissen darüber selbst beigebracht. An Mathe habe ich viel Spaß und halte es für ein sehr nützliches Fach. Um Computer voll zu verstehen, ist ein mathematischer und logischer Zugang gut. Physik finde ich sinnvoll, um alltägliche Lebensphänomene und -probleme zu verstehen und zu lösen. Computer und Physik zusammen können Objekte der realen Welt modellieren.

Beschreibung der Verantwortlichkeiten und Aufgaben innerhalb der Summerhill-Gemeinschaft

Ombudsmen - Ansprechpartner wenn kleinere Streitigkeiten zwischen Gemeinschaftsmitgliedern (Schülern) auftreten. Sie hören sich die Meinungsverschiedenheiten an und beurteilen das Problem so unparteilich wie möglich. Sie ermutigen beide Seiten miteinander zu reden, versuchen, die Ursache des Streits zu verstehen und zu interpretieren sowie eine Übereinkunft zwischen beiden Seiten auszuhandeln. Sie repräsentieren den Schüler, der sich verletzt fühlte, vor dem wöchentlichen Gemeinschaftstreffen, falls gewünscht oder erforderlich.

Chairman - ist verantwortlich für den Ablauf der Meetings zweimal in der Woche, die über die Gesetze und Rechte innerhalb der Gemeinschaft entscheiden. Sorgt für Ordnung und Struktur. Regelt, wer redet, ob über Relevantes zum jeweiligen Punkt gesprochen wird und wie lange.

Bar Committee - sammelt Geld für besondere Ereignisse (Valentine's Party, Halloween, End of Term, Schulausstattung); organisiert Geschäfte, wo Speisen und Getränke verkauft werden. Es wirbt in der Schule für die Geschäfte, kauft Vorräte, macht Kassenführung; organisiert Veranstaltungen, auf denen für soziale Zwecke gesammelt wird: Grillparties, Cafe, Filmvorführungen, Modeschauen etc.

Social Committee - entwirft gesellige Programme, besonders während der kalten Wintermonate: Spiele, Theater, Tanz, Quiz, Geschichten erzählen, Wettbewerbe, Video-Abende und Diskussionen. Organisiert Spiele, an denen manchmal dreißig bis vierzig Leute teilnehmen. Das Komitee trifft sich, um die geselligen Ereignisse zu beobachten und zu beurteilen und entscheidet über die angemessene Ausführung.

Visitors Committee - trifft sich mit einzelnen Besuchern oder Besuchergruppen (bis zu dreißig) aus der ganzen Welt, und führt durch die Schule. Die Besucher sind Journalisten, Erzieher, Schüler und Studenten, Professoren, Polizeiausbilder... Es muss klar und mit eigenem persönlichen Verständnis die komplexe Landschaft, das soziale Leben und die Philosophie der Gemeinschaft erklären. Beantwortet fragen und kontrolliert übermäßige Neugier, die die Privatsphäre tangieren könnten. Erklärt die Regeln der Gemeinschaft und verschafft ihnen Geltung, soweit sie Besucher betreffen.

Beddies Officer - sorgt für die Einhaltung der für die jeweiligen Altersstufen unterschiedlichen Bettzeiten, dass die Kinder in ihren Schlafanzügen sind, die Jüngsten die Zähne putzen, ins Bett gehen und zu den vereinbarten Zeiten das Licht ausmachen. Hat Bereitschaft, dass die Kinder nicht während der Nacht aufstehen. Weckt Kinder und Schulpersonal und sorgt dafür, dass sie zu den vereinbarten Zeiten aufgestanden und angezogen sind. Bei Übertretung dieser Regeln, die von den Meetings beschlossen worden waren, spricht er Strafen aus. Repräsentiert die Autorität der Gemeinschaft, um die Nachtruhe zu sichern.

Kitchen Helper - hilft dem Küchenpersonal, das Mittag- und Abendessen vorzubereiten und auszugeben. Bereit Salat vor, spült Geschirr und Besteck, sowohl von Hand als auch mit dem Geschirrspüler. Hilft bei der Belieferung für 80 Leute und deren Speisezettel, einschließlich der Vegetarier.

Work Fines Supervisor - organisiert und überwacht die gelegentlichen körperlichen Arbeiten (z.B. Abfälle zusammenlesen, Schulgelände reinigen...) für diejenigen, denen von der Gemeinschaft Arbeitsstrafen aufgegeben wurden. Beurteit die Qualität der Arbeit und bringt bei den Meetings Probleme vor, wenn z.B. eine Strafe nicht abgearbeitet wurde.

Secretary - führt handschriftlich Protokoll von den Meetings. Fasst in kurzen, beschreibenden Sätzen zusammen, was gesagt wurde. Bringt die Vorschläge in eine praktikable Ordnung. Assistiert dem Chairman mit Vorschlägen. Liest beim General Meeting den Bericht des Tribunals vor.

End of Term Picture Committee - verantwortlich für die Dekoration und Organisierung der End of Term Party. Dies beinhaltet die Schließung des Hauptraumes für etwa fünf Tage, während der ein gewaltiges Dekorationsprogramm vor sich geht. Es gibt nur ein begrenztes Budget, worüber buchgeführt werden muss. Eine besonders verantwortliche Rolle, weil die Erwartungen für die Party hoch sind.

External Auditor - Rechnungsprüfer für das Barkomitee. Verwaltet überschüssiges Geld, notiert übriggebliebene Vorräte, kalkuliert den Gewinn etc.

Investigation Committee - verantwortlich für die Untersuchung von Diebstählen in der Gemeinschaft. Entwickelt Fähigkeiten zur Diplomatie, zum Beobachten und Zuhören.

Fines Officer - als einzelner verantwortlich für die Überwachung der Geldstrafen, die im Meeting oder von den Beddies Officer ausgesprochen wurden. Ist auch verantwortlich, diese Strafen einzusammeln und händigt Geld aus für bestimmte Ausgaben, die vom Meeting beschlossen wurden.

Computer Committee - richtet die Schulcomputer und deren Zubehör ein, repariert und wartet. Berät die Schule beim Kauf neuer Software und installiert sie. Ist verantwortlich für die Sicherheit, den Schutz wichtiger Daten und deren Sicherung. Betreibt auch eine Internet-Verbindung und e-mail für etwa 50 Benutzer.

Campaign Committee - eine Gruppe von zwölf Schülern jeden Alters, ausgewählt für die Summerhill-Kampagne. Schreibt Briefe, z.B. an Parlamentäre, Mitglieder der Vereinten Nationen etc. Besucht andere Schulen, vertritt die Interessen der Schule gegenüber anderen und informiert über Summerhill und seine Philosophie.

Darüberhinaus bedeutet es für ein Mitglied einer sich selbst regierenden Gemeinschaft, in der jeder gleiche Rechte hat, sehr viel zu lernen, selbst wenn man nicht an einer aktiven Rolle teilnimmt:

Ich glaube, daß meine Erziehung in Summerhill, die große Freiheit, aber auch all die Rollen und Verantwortlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft mir geholfen haben, ein selbstbewußter und verantwortungsvoller Mensch zu sein. Außerdem bin ich ein ganz normaler Jugendlicher. Meine Hobbies sind Musik hören, snowboarden, tauchen und vor allem mit Freunden zusammen sein.

Brighton, den 25. Oktober 2000