Zurück zur Inhaltsverzeichnis     Birgit Ahrens: "Summerhill" - Wissenschaftliche Hausarbeit - Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen 1996


  1. Kritische Analyse der antiautoritären Erziehung Neills und seiner Schule Summerhill


Der Neillsche "kompromißlos liberale Ansatz" (Klemm 1989, 176) einer Freiheitspädagogik als Gegenbewegung zum bestehenden Verhältnis von Bildung und Erziehung rief vehemente Kritik sowohl von der "linken Seite" als auch von der etablierten Erziehungswissenschaft hervor, die bis heute anhält. Mit dem Buch "Summerhill: Pro und Contra" (Hart 1970) wurde zum erstenmal ein Diskurs hervorgerufen, in dem sich Autoren wie Erich Fromm, John Holt, Paul Goodmann oder Bruno Bettelheim mit Neill und seiner Schulgründung auseinandersetzten. Zu großen Mißverständnissen und Auseinandersetzungen führte auch das Problem, daß Neill seine Erziehungsansichten- und praxis weder theoretisch zu fundieren noch wissenschaftlich zu begründen versuchte. Desweiteren führte die fehlende Wissenschaftlichkeit von Neills Menschenkenntnis zu Irrtümern in seiner Erziehungslehre.

Im folgenden sollen nun auf kritische Einwände gegen Neills Pädagogik und seine Schule Summerhill eingegangen werden.


    6. 1. Kritik an Neillschen Präferenzen


    6. 1. 1. Emotionale Fähigkeiten versus kognitive Fähigkeiten


Es wurde bereits erwähnt, daß für Neill die emotionalen Fähigkeiten wichtiger sind als die kognitiven. Emotionen haben nicht nur im Alltag eine immense Bedeutung, sondern auch im Erziehungs- und Unterrichtswesen, doch sie sind im Zuge der Förderung des Kognitiven stark vernachlässigt worden. Die zahlreichen "Freien Schulen" in der Bundesrepublik Deutschland, deren Curriculum auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung basiert, haben die Wichtigkeit von emotionalen Faktoren aufgegriffen. In bezug auf Neills Menschenbild und sein pädagogisches Konzept stellt sich natürlich die Frage, ob der Bereich der Emotionalität nicht eine Überbetonung erfahren hat. Denn umgekehrt fehlt bei Neill die Überlegung, wie die Fähigkeit zu denken und wie Wissen anders als durch Schulung, Anregung und Übung erworben werden kann. Neill unterschätzt die Bedeutung eines intellektuellen Begreifens der Welt und auch die geistige Befriedigung, die die intellektuelle Tätigkeit bieten kann (vgl. Fromm in: Neill 1969, 16). In dem mangelndem Verständnis für das Verhältnis von emotionalem und kognitivem Lernen ist auch der Grund zu sehen, warum Neill der Bildung, dem Unterricht und der Förderung geistiger Fähigkeiten eine untergeordnete Rolle zukommen ließ.


    6. 1. 2. Freiheit versus Wissen: Was ist wichtiger?


Wiederholt wird Neill der Vorwurf gemacht, daß er auf die Vermittlung von Bildungsgütern keinen Wert legt und somit eine Anti-Haltung gegen jegliche intellektuelle Förderung einnimmt (vgl. Fromm in: Neill 1969, 16; Montagu 1971, 48). Das englische Unterrichtsministerium nimmt ebenfalls Bezug auf diese Frage im Jahre 1949:

"Im großen und ganzen sind die Ergebnisse dieser Methode nicht gerade eindrucksvoll. Die Kinder arbeiten zwar willig und mit sehr erfreulichem Interesse, ihre tatsächlichen Leistungen sind aber doch recht schwach [...]. Die pädagogischen Theorien des Schulleiters machen Summmerhill zu einer Schule, die außergewöhnlich gut geeignet ist für eine Erziehungs- und Bildungsmethode, die so wesentlich auf die Interessen der Kinder abgestellt ist und bei der der Unterricht nicht über Gebühr vom Prüfungsanforderungen bestimmt wird. Es ist eine Leistung, eine Atmosphäre geschaffen zu haben, in der geistige Bildung gedeihen könnte; nur gedeiht sie leider nicht, und so wird eine gute Möglichkeit vertan." (Neill 1969, 92 u. 97 f).

41 Jahre später heißt es in einem Bericht von Inspektoren: "...the freedom not to attend classes, exercised by pupils particularly in the early secondary years, may in some instances inhibit more than it enhances the eventual realisation of their full potential [...]. Important components of a broad curriculum are missing and there is a lack of balance." (HMI 1990, 18 u. 19). Obwohl zwischen diesen Berichten vom Unterrichtsministerium liegen 41 Jahre, bezweifeln sie beide die Tatsache, daß Summerhill den Schülern und Schülerinnen auf geistiger Ebene alles gibt, was sie brauchen. In den Bereichen Unterricht und Bildung kommt es Neill darauf an, daß die Kinder nicht das Gefühl haben sollen, unter Zwang zu handeln, sondern daß sie das Gefühl haben, aus eigenem inneren Antrieb zu handeln. In diesem Zusammenhang ist die Teilnahme am Unterricht freiwillig. Die meisten Schüler und Schülerinnen, die Summerhill verlassen, wählen Berufe mit künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten Offenbar deshalb, weil die Schule die Akzente statt auf intellektuelle Ausbildung auf Originalität, handwerkliche Fähigkeiten und kreative Selbstverwirklichung setzt, da Neill der akademischen Ausbildung wenig Bedeutung beigemessen hatte.

"Neuartige Lernmethoden" (Neill 1969, 23) sind unwichtig und der Unterricht an sich spielt keine große Rolle. An dieser Stelle ist leicht nachzuvollziehen, daß Neill sich auch nicht um eine Didaktik bemühte. Der Vorwurf des didaktischen und schulischen Desinteresses kann wohl kaum erspart bleiben, wenn Neill sich nicht fragt, welche Bedeutung Anregung, Vorbild, Training und Begeisterung bezüglich des Lernens haben (vgl. Schmidt-Herrmann 1987, 190). Für Neill ist die Freiheit des Kindes entscheidend: wie und was es lerne, sei ohne Belang (vgl. Neill 1969, 43). "Bücherwissen" und das Lernen aus Büchern hält er grundsätzlich für unwichtig (vgl. Neill 1969, 42). Aus seinem Gesamtwerk läßt sich leicht entnehmen, was unwichtig ist zu lernen, doch was nun eigentlich gelehrt werden soll, geht kaum hervor. Spricht Neill von "Bildung", so ist lediglich ein nutzloses Aneinanderreihen von Fakten gemeint, bei dem wertlose Kenntnisse vermittelt werden und das Denken nicht geschult wird. Neill scheint auch nicht die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß über Unterricht, Lehre, Aufklärung und Bildung etwas über die Menschen, die Kultur und die Welt, in der der junge Mensch aufwächst, zu erfahren ist. "Erst in der Bildung, verstanden als Einführung, Aneignung und Hineinwachsen in eine Kultur, können die humanen Möglichkeiten wirklich zur vollständigen Entfaltung gebracht werden." (Schmidt-Herrmann 1987, 192). Auf dem Hintergrund moderner Bildungsvorstellungen ist es fast unmöglich, einen nach Neills Erziehungsziel selbständigen und freien Mensch hervorzubringen. Der Mensch kann Selbstbewußtsein, Freiheit und Gestaltungsfähigkeit nach abendländischen Traditionen erst dann gewinnen, wenn er in seine geschichtlich-gesellschaftliche und kulturelle Welt hineinwächst. Nach Neills Erziehungskonzept wird dem Kind Selbstvertrauen vermittelt, das ihn zu einem verantwortungsbewußtes Mitglied der Gesellschaft werden läßt, jedoch erfährt die Bedeutung für die Emanzipation des Individuums eine Unterschätzung darin, daß, um kulturell-gesellschaftliche Wirklichkeit zu erwerben, keine Anregung und Begeisterung geweckt wird. Dazu schreibt Montagu (1971, 59): "Ich glaube aber, daß Neill einen Fehler macht, wenn er übersieht oder unterschätzt, wie wichtig es ist, daß das Kind verstehen lernt, wie unser gegenwärtiges Leben in der Geschichte seine Wurzeln hat. Denn erst dadurch hat das Kind den Grund unter den Füßen, von dem aus es sich zur Selbständigkeit aufschwingen kann." Es kann Neill also der Vorwurf gemacht werden, daß in Summerhill hinsichtlich der späteren Anforderungen auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben zu wenig gelernt wird. Die Erziehung zu einem selbständigen, unabhängigen Menschen leidet nicht, wenn dieser Mensch über seine Herkunft, soziale Klasse usw. Bescheid weiß, sondern fördert sie, solange keine Indoktrination erfolgt, wie es beispielsweise in sozialistischen Alternativschulen möglich sein kann.


    6. 1. 3. Individuum versus Gemeinschaft - leidet die soziale Kompetenz unter der Betonung des Individuums?


In der Erziehungskonzeption Neills nimmt das Individuum die zentrale Position ein. Schmidt-Hermann (1986, 194) weist nun darauf hin, daß Neill die Rolle der Gemeinschaft vernachlässigt, da ein funktionierendes Zusammenleben mit der Gemeinschaft, mit dem Umfeld von ihm als Resultat der Selbstfindung des Individuums gesehen wird. Neill betont, daß das primäre Interesse beispielsweise eines achtjährigen Kindes es selbst sei (Neill 1969, 300) und in diesem Alter noch kein Pflicht- und Gemeinschaftsgefühl existiere. Pflicht- und Gemeinschaftsgefühl entsteht, wenn das Kind seine gewissermaßen "egoistische Phase" überwunden habe. Demgegenüber betont Schmidt-Hermann, daß auch bei Achtjährigen durchaus ein Interesse am Gegenüber parallel zum Eigeninteresse vorhanden sei (vgl. Schmidt-Hermann 1987, 198).

Sie kritisiert die Vernachlässigung einer wie auch immer gearteten sozialen Komponente durch Neill und betont, daß das Glück des Individuums auch Resultat des Glücks des Gegenübers sein kann.

Allerdings ist diese Debatte eine eher akademische: Neill negiert nicht, daß das Individuum Glück durch das Glück des Gegenübers erfahren kann; er betont lediglich die eine Seite, nämlich das Glück des Individuums, das er sich zum Ziel seiner Erziehung gesetzt hat. Wenn das Glück des Individuums nun also vom Glück des Gegenübers abhängt, so eröffnet sich hier kein konflikthaftes, sondern ein komplementäres Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. Es ist ein Trugschluß, wenn angenommen wird, daß das Glück des Individuums nur auf Kosten der Gemeinschaft zu verwirklichen wäre. Allerdings muß hier unterschieden werden zwischen dem Glück der Individuen, welches eine hinreichende Bedingung des Glücks der Gemeinschaft ist, und dem Glück der Gemeinschaft, welches nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für das Glück des Individuums ist.

Neill sieht durchaus, daß Gemeinschaft in Beziehung zum Glück des Individuums steht, aber sein einziges Ziel ist das Glück des Individuums. Wenn das Individuum in der Gemeinschaft zu sich selbst und damit zu einem dauerhaften individuellen Glück findet, so geschieht dies eben nicht zwangsläufig auf Kosten, sondern in der Regel in Einklang mit der Gesellschaft, die ihrerseits durch das Glück des Individuums in den Genuß von Synergieeffekten kommt. Wenn Neill also das individuelle Glück betont, so ist damit das Glück der Gemeinschaften nicht gefährdet, sondern durch das Erreichen des Glückszustandes innerhalb von Gemeinschaft sogar leichter zu verwirklichen. Eine generelle Opposition des Individuum zur Gemeinschaft ist nicht vorhanden, und da in Summerhill das Individuum innerhalb einer Gemeinschaft zu sich selbst findet, ist dieser Einwand in bezug auf Neill als Kritik meiner Meinung nach zwar sicherlich zulässig, aber er beleuchtet letztlich nur einen Punkt, den Neill vielleicht vernachlässigt hat - eine Falsifikation der Neillschen Pädagogik auf dieser Basis ist nicht möglich.


    6. 2. "Bordell oder heilige Stätte": die kindliche Sexualität


In der Auseinandersetzung mit Summerhill hat es sehr skeptische und leidenschaftliche Diskussionen gegeben, was die folgenden zwei Zitate unterstreichen. Rafferty (1971, 13) wendet sich gegen Neills Eriehungskonzept, indem er sagt: "Rousseau hat eine aberwitzige Erziehungstheorie ausgeheckt, die nun, nachdem sie zwei Jahrhunderte lang in den Wehen gelegen hat, noch einmal einen Bastard zur Welt gebracht hat: Neills steinzeitliche Version jener heiligen Hallen der platonischen Akademie - Summerhill. [...] Ich könnte eines meiner Kinder ebensogut in einem Bordell anmelden wie in Summerhill [...]. Summerhill ist ein schlechter Witz. Es bringt das wahre Lernen auf die Ebene einer Orgie herunter, in der alle Ordnung sich auflöst. Aus dem Lehrer macht es den kichernden Vorführer eines Herrenfilms. Die Schule verwandelt es in eine Kreuzung aus Tollhaus und Kesselschmiede. Das Ganze ist eine Karikatur der Erziehung."

Culkin (1971b, 28) schreibt dagegen, daß Summerhill eine "heilige Stätte und das Buch Summerhill eine heilige Schrift, voller Weisheit und Liebe ist".

Raffertys Kritik beruht im Wesentlichen auf der in Summerhill befürworteten und praktizierten kindlichen Sexualität. Während Neill (1969, 200) die Auffassung vertrat, daß heterosexuelles Spiel in der Kindheit der beste Weg zu einem gesunden, ausgeglichenen Geschlechtsleben im späteren Leben ist, so entgegnet Rafferty, daß wahllose sexuelle Experimente im Jugendalter durchaus zu einem unmoralischen Sexualleben im späteren Leben führen können. Ferner führt Neill an, daß die Jugend wenig Gelegenheit zu wirklicher Liebe hat und daß etwas Schönes und Freude machendes allzuoft in etwas Sündhaftes und Schmutziges verwandelt wird. Die Position, die Rafferty zur Sexualität vertritt, wird heute von der Gesellschaft weitgehend als überholt angesehen. Zwar kann durchaus diskutiert werden, ob Neill und Freud sowie seine Anhänger die Sexualität überbewertet haben, jedoch ist auch zu sagen, daß die tatsächliche Situation in Summerhill mit dem von Rafferty beschriebenen "Bordell" nur sehr begrenzt übereinstimmt. Wie aus einem Interview mit einer Ex-Summerhill-Schülerin hervorging, müssen auch in bezug auf Sexualität Regeln, die für die Gemeinschaft gelten, eingehalten werden. So wird zunächst in der Versammlung gemeinsam diskutiert, ob es einem Schüler oder einer Schülerin gestattet werden soll, in einem Raum gemeinsam mit seiner Partnerin oder ihrem Partner zu übernachten. Beachtet wird hierbei natürlich das britische Recht, das unter 16-jährigen den Geschlechtsverkehr untersagt. Schon Neill fürchtete oft, daß eine Schülerin ein Kind bekommen würde und dies als Grund für die Schließung Summerhills angesehen werden könnte. Diese Furcht besteht auch noch seitens Zoe Readhead, der jetzigen Leiterin Summerhills, deshalb werden sogenannte "sex talks" abgehalten, Verhütungsmittel ausgegeben und jederzeit Fragen zur Sexualität beantwortet. Ein offener Umgang mit Sexualität, wie er in Summerhill praktiziert wird, ist sicherlich besser als eine restriktive Haltung, die lediglich zur Folge hätte, daß dieselben sexuellen Vorgänge heimlich praktiziert würden, was aufgrund wahrscheinlich geringerer Informiertheit das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft erhöhen könnte.


    6. 3. Fehlt der gesellschaftliche Bezug?


Neill wurde häufig der Vorwurf gemacht, daß sein Erziehungskonzept einen mangelnden Bezug zur Gesellschaft darstellt (vgl. Paffrath 1972, 21). Ebenfalls kritisch betrachtet wird die Tatsache, daß Summerhill-Schüler und Schülerinnen nicht nur zu Freiheit und Selbstbestimmung erzogen werden, sondern auch zu Individualisten. Es tritt nun zwangsläufig die Frage auf, was für eine Stellung Summerhill-Schüler und Schülerinnen zur Gesellschaft haben. Neill verzichtet darauf, seine Schüler und Schülerinnen an die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, an eine "schlechte Welt, die durch Korruption und Konkurrenzkampf" (Neill 1969, 273) geprägt ist, anzupassen. Nach Hechinger (1971, 33) bleibt zu bedenken, ob Erwachsene das Recht haben, Kinder aufwachsen zu lassen, ohne sie auf die Anforderungen des Konkurrenzkampfes vorzubereiten, damit sie ihnen gewachsen sind.

Den Summerhill-Schülern und Schülerinnen kann ebenfalls der Vorwurf gemacht werden, sie haben keinen Bezug zur Politik. Neills Verhältnis zur Politik ist ausgesprochen negativ. Politik ist nach Neill ein schmutziges Geschäft. Seine Kinder zeigen wenig Interesse für die Politik. Neill erklärt es sich dadurch, daß die Kinder, die Summerhill besuchen, zu ehrlich und zu aufrichtig sind, um politisch zu sein, denn Politiker, so Neill, können über diese Eigenschaften nicht verfügen. Auch wenn Summerhill-Schüler und Schülerinnen sich von "der" Politik eher distanzieren, so bleibt jedoch festzuhalten, daß sie durch ihr Schulparlament, das ihnen echte Entscheidungen zugesteht, auf eine demokratische Ordnung vorbereitet werden. Eine Demokratie fordert die Initiative eines jeden einzelnen Bürgers. In Summerhill wird also kein direkter Bezug zur Politik hergestellt, jedoch erfahren die Schüler und Schülerinnen durch die Selbstregierungsprozesse sehr deutlich die Bedeutung einer Demokratie. Ein Desinteresse der Schüler und Schülerinnen an Politik kann natürlich auch daraus resultieren, daß in den europäischen repräsentationsdemokratischen Systemen die Responsivität der Vertreter der Bürger für Belange ihrer Klientel äußerst unterschiedlich sein können. Ein Schüler oder eine Schülerin, der oder die Summerhill besuchte, dürfte in der Regel von der Schwerfälligkeit und Verflochtenheit politischer Systeme, die eine direkte Transformation von Bürgerwillen in politischem Handeln leisten können, enttäuscht sein. Wer ein gut funktionierendes demokratisches System kennt und ein weniger gutes kennenlernt, ist zwangsläufig unzufrieden.


    6. 3. Ist Summerhill eine Schule für eine privilegierte Minderheit?


Summerhill ist keine staatlich anerkannte Schule, deshalb finanziert sie sich aus den Schulgebühren und aus Spenden. Die Gebühren für Schüler über 12 Jahren betragen 1996 2,079.00 Pfund (ca. 4.885 DM bei einem Wechselkurs von zur Zeit 2,35 DM je Pfund) für ein Trimester, also 6.237.00 Pfund (ca. 14.657 DM) per annum. Im Jahr 1972 betrug das jährliche Schulgeld für Schüler und Schülerinnen über 12 Jahren ca. 800 Pfund, was zu dem damaligen Wechselkurs 3500 DM entsprach (vgl. van Dick 1979, 115-116). Die Höhe der Schulgebühren läßt darauf schließen, das nur diejenigen Schüler und Schülerinnen von Summerhill werden können, deren Eltern über überdurchschnittliche finanzielle Mittel verfügen. Zoe Readhead führt in dem vom 2. März 1996 geführten Interview an, daß die Eltern der Kinder sich der sogenannten "lower middle class" zuordnen. Außerdem erwähnt sie, daß die Eltern der asiatischen Kinder sicherlich als sehr wohlhabend angesehen werden können. Aber es ist auch der Fall bekannt, daß ein Elternehepaar sich das Geld geliehen hatte, um seinem Kind den Besuch von Summerhill ermöglichen zu können. Ein anderer Ausweg aus dem finanziellen Dilemma bot sich einem anderen Elternpaar, das nach Leiston zog, um sein Kind ohne die Kosten für Internatsunterbringung als "Day-Child" Summerhill besuchen zu lassen. Allein die Tatsache, daß die Eltern dreimal im Jahr Kosten für die Heimreise ihrer Kinder aufbringen müssen, da die Internatsschule über Weihnachten, Ostern und zwei Monate im Sommer geschlossen ist, macht deutlich, daß die Eltern über gewisse finanzielle Mittel verfügen müssen.

Es gibt noch eine weitere daraus resultierende Konsequenz. Es ist letztlich von geringer Wichtigkeit, wie die Kinder die Schule verlassen, da sie durch ihre Familien häufig materiell abgesichert sind. Dem Zeitfaktor kommt dadurch auch eine andere Bedeutung zu, denn die Kinder können sich oftmals Zeit lassen zu entdecken, zu experimentieren und zu spielen. So können sie durchaus ihren Schulabschluß zwei Jahre später absolvieren. Noch einmal wird Neills Abneigung gegen eine dominierende geistige Arbeit bei gleichzeitigem Mangel an handwerklicher Arbeit und liebevoller Atmosphäre ersichtlich. Neill vertritt die Auffassung, daß die Gefühle eines Kindes unendlich viel wichtiger sind als seine intellektuellen Fortschritte. Sieht man dies jedoch in dem Zusammenhang, daß unsere Gesellschaft für Schulabgänger und Schulabgängerinnen ohne anerkannten Abschluß kaum Perspektiven bietet, scheint der Vorwurf, daß Summerhill nur für Schüler und Schülerinnen einer privilegierten Minderheit zugänglich sei, gerechtfertigt. Neill schreibt selbst dazu: "Wir sind aber noch nie in der Lage gewesen, Kinder armer Eltern aufzunehmen. Das ist bedauerlich, denn so mußten wir unsere Beobachtungen auf Kinder der Mittelklasse beschränken." (Neill 1969, 34). Allerdings ist aus der Tatsache, daß nur Kinder, die der Mittelschicht angehören, Summerhill besuchen, Neill kein Vorwurf zu machen, da der fast ausschließlichen Aufnahme von Mittelschicht-Kindern keine normative Überzeugung zugrundeliegt, sondern sie lediglich eine Folge materieller Zwänge ist.


    6. 5. Erreichen alle Summerhill-Absolventen ihr "Lebensglück"?


Neill verneint die Frage, ob er die Schicksale seiner ehemaligen Schüler und Schülerinnen verfolgt (vgl. Neill 1971a, 40). Diese Aussage trifft jedoch nicht ganz zu, wenn man bedenkt, daß Neill an verschiedenen Stellen erwähnt, welche Berufe Summerhill-Absolventen und Absolventinnen erlangt haben, so zum Beispiel Kameramann, Werkzeugmacher, Mathematikprofessor, Künstler, Arzt (vgl. Neill 1969, 45ff). Außerdem nennt Neill den Aufsatz von Emmanuel Bernstein, in dem dieser sich mit den Berufen von Summerhill-Absolventen und Absolventinnen auseinandersetzt. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Schüler und Schülerinnen sich durchaus in die Gesellschaft integrieren können. Bereits die Untersuchungen der britischen Schulinspektoren im Jahre 1949 haben gezeigt, daß Schüler und Schülerinnen von Summerhill nicht zwangsläufig ohne Erfolg bleiben müssen (vgl. Neill 1969, 97). Im Gegenteil, diese Kinder zeichneten sich durch eine erstaunlich große Toleranz, Aufrichtigkeit, eine gesunde Einstellung zur Sexualität und zum anderen Geschlecht, Selbstvertrauen und Unbefangenheit aus.

Ein mit einer Ex-Summerhill-Schülerin geführtes Interview im Rahmen dieser Arbeit zeigte mir, daß diese Kinder später durchaus ihr Lebensglück finden können. Die Schülerin hat zwei Jahre lang Summerhill besucht und ihr Wunsch ist es, Psychologie zu studieren, um später als Therapeutin für somatische Krankheiten tätig zu sein. Dieses Beispiel macht deutlich, daß auch heute noch der Drang verspürt wird, einen durchaus hoch angesehenen Beruf zu ergreifen, was ja angesichts der bisherigen Ausbildung der Schülerin ein durchaus ehrgeiziges Ziel ist. Obwohl Neill darauf hinweist, daß Schüler und Schülerinnen ihre Defizite bezüglich des Lernpensums leicht nachholen, so zeigt dieses Beispiel, das dies nicht so einfach ist, wie er sich das damals vorstellte. Diese Schülerin mußte zunächst ihre Realschulprüfung nachholen, da die in England bereits bestandenen zwei GCSE-Prüfungen in Deutsch und Mathematik in Rheinland-Pfalz nicht anerkannt werden. Es mußte nun der zeitlich richtige Moment für eine Einschulung gefunden werden. Nur ein halbes Schuljahr und eine zweimonatige Nachholphase zu Hause haben ausgereicht, um diese Prüfung gut zu bestehen. Doch nun folgt auch für sie ein dreijähriger Besuch der Oberstufe, um das Abitur zu machen.





    6. 6. Illusion einer natürlichen Erziehung?


"Es ist falsch, irgend etwas durch Autorität zu erzwingen. Das Kind sollte etwas so lange nicht tun, bis es selbst überzeugt ist, daß es das tun sollte." (Neill 1969, 123).

Neill vertritt die Idee einer natürlichen Erziehung, d.h. daß das Kind sich aus eigenem Antrieb entsprechend seinen Möglichkeiten entfaltet, wenn man es in Freiheit aufwachsen läßt. Ein Kind wird in Summerhill nicht zum Lernen gezwungen. Diese Auffassung hat in der Öffentlichkeit starken Protest hervorgerufen. Montagu (1971a, 48) wirft Neill vor, daß er der Erlernung gewisser elementarer Dinge nicht genug Bedeutung einräumt. Nach Auffassung Hechingers (1971a, 38) hat weder die Geschichte der Menschheit noch die Geschichte der Pädagogik deutlich bewiesen, daß ein Kind sich ganz aus eigenem Antrieb entsprechend seinen Möglichkeiten entfalten konnte. Es stellt sich nun die Frage, ob in Summerhill genügend Anregung, Motivation, Ansporn und Herausforderung vorhanden sind, um ein entsprechend begabtes Kind dazu zu bewegen, seinen Intellekt zu entwickeln. An dieser Stelle müssen zwei Punkte genannt werden: Zum einen wird auf die wissenschaftlichen Unterrichtsfächer sehr wenig Wert gelegt, auf der anderen Seite muß gewährleistet werden, daß wirklich gute Lehrkräfte dort unterrichten. Die Berichte der Inspektoren haben immer wieder auf die mangelnde Qualität des Unterrichts hingewiesen, so daß es fragwürdig erscheint, ob Summerhill in der Lage ist, den Kindern geistig alles zu geben, was sie benötigen. Rafferty (1971a, 14) vertritt die Auffassung: "Geistige Bildung ist keineswegs ein natürlicher Vorgang. Sie ist etwas höchst Künstliches. Kein normaler Junge hatte je das Bedürfnis, das Einmaleins oder historische Jahreszahlen zu lernen, wenn er Kaninchen jagen oder auf Bäumen herumklettern konnte." Es bleibt natürlich die Frage, ob so manches Talent in Summerhill unentdeckt blieb, weil die notwendigen Stimuli zur Entfaltung dieser Fähigkeiten nicht vorhanden waren.

Auch die Lernmethode ist von entscheidender Bedeutung. Neill behauptet, daß ein Kind, das etwas lernen wolle, es lerne, ganz gleich, nach welcher Methode es unterrichtet werde. Dies halte ich jedoch für zweifelhaft. Denn erwähnt Neill nicht an anderer Stelle, daß ein Kind ihn gefragt hatte, ob er einen formalen oder informellen Unterricht halten würde und daraufhin dem Unterricht fernblieb, weil Neill ihm zuvor erklärt hatte, daß er informell unterrichten würde. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Kinder sich von der Lernmethode leiten lassen. Es ist nachvollziehbar, daß Kinder ihr Interesse an bestimmten Unterrichtsfächern verlieren, wenn der Unterricht schlecht ist. Wie häufig hört man einen Schüler oder eine Schülerin sagen, daß er einen bestimmten Unterricht nicht mochte, weil er oder sie mit der Lehrer nicht zurechtgekommen ist. Das Interview mit Maya Mahn bestätigte dies. Sie hatte am Gitarrenunterricht nicht teilgenommen, weil es Differenzen zwischen ihr und dem Lehrkraft gab. Außerdem erwähnte sie, daß sie vor ihrem Besuch in Summerhill nur schlechte Noten in Mathematik bekam, was sie auf den schlechten Unterricht und das daraus hervorgehende Desinteresse für das Fach Mathematik zurückführte. In Summerhill dagegen kam sie mit dem Mathematiklehrer sehr gut aus und entwickelte plötzlich ein besonderes Interesse für dieses Fach. Schließlich entschloß sie sich, ihre GCSE-Prüfung in diesem Fach abzulegen und bekam eine sehr gute Abschlußnote. Dies unterstreicht nochmals, wie wichtig die Person des Lehrers für eine erfolgreiche Wissensvermittlung ist, da das Interesse an einem Fach maßgeblich davon mitbestimmt wird, wie dieses Fach vermittelt wird - wer Interesse oder Desinteresse von Schüler und Schülerinnen an bestimmten Fächern nur anhand der dort zu vermittelnden Sachverhalte zu erklären sucht, erfaßt meiner Ansicht nach das komplexe Gefüge von Reizen, das notwendig ist, um Interesse für eine Sache hervorzurufen, nur partiell.


    6. 7. Summerhill: Provokation oder Alternative?


Es drängt sich hier die Frage auf, welcher Stellenwert dem Modell zukommt? Ist die Auffassung, Summerhill sei revolutionierend und provokativ, gerechtfertigt?

Die Begeisterung, die dieses Modell in den ersten Gründerjahren und insbesondere Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, gewann, ist weithin gewichen. Doch Summerhill hat dennoch seine Standhaftigkeit bewiesen, denn es besteht ununterbrochen seit 75 Jahren. Auf der einen Seite, ist Summerhill als "utopische Seifenblase" bezeichnet worden, doch auf der anderen Seite ist es ein ernstzunehmendes Modell, das weltweit großen Einfluß auf Erziehungstheorien ausübte. Leshan (1971a, 103) vertritt sogar die Auffassung, wir könnten "nicht mehr die gleichen sein, wie zuvor, seit wir den Traum von Summerhill kennengelernt hätten". Aus einer marxistischen Perspektive ist es einem Berliner Autorenkollektiv unbegreiflich, warum Neills Schrift noch nicht vom Bundesfamilienministerium als Pflichtlektüre für angehende Eltern verteilt worden sei, denn ein besseres Erziehungskonzept könne sich eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht ausdenken. Es ist sicherlich richtig, daß Neills Buch "Theorie und Praxis einer antiautoritären Erziehung" von vielen Eltern gelesen wurde und sich ihre Begeisterung insofern zeigt, daß sie ihre Kinder nach Neills Erziehungsprinzipien erzogen, so zum Beispiel auch die Familien der Kinder, die ich wegen einiger Interviews aufsuchte.

Es bleibt jedoch der Einwand, daß Neills Erziehungskonzept zwar einigen Kindern aus aller Welt nütze, jedoch nicht den Kindern, die nicht in den Genuß eines Besuchs in Summerhill kommen. Summerhill ist weitgehend von der Welt isoliert, in der die meisten von uns leben. "Es erscheint uns wie eine imaginäre Insel schöner menschlicher Beziehungen, herausgehoben aus dem stürmischen Meer, in dem wir uns mühsam über Wasser halten." (LeShan 1971a, 104).

Gerade Außenstehende gewinnen sehr schnell den Eindruck, daß in Summerhill eben doch Zügellosigkeit herrscht. Dazu ein Beispiel: Der Junge, der erzählte, er habe ein paar Fensterscheiben eingeworfen, wurde von Neill dazu ermuntert, ruhig noch ein paar mehr

einzuwerfen - vorausgesetzt, daß er sie auch bezahlen könne. Bezogen auf die Gesellschaft ist es jedoch selten gestattet, destruktiven Neigungen freien Lauf zu lassen, auch wenn der Verursacher hinterher für den angerichteten Schaden aufkommt.

Vergessen bleiben sollte jedoch nicht, daß Summerhill auf bedeutende Alternativschulen in der ganzen Welt einen entscheidenden Einfluß genommen hat. So stieß ich während meiner Recherchen auf weitere Schulen, die sich sehr stark an Neills Prinzipien und seiner Schule richten: "Sudbury Valley School" und "Sands School". Ihr Grundprinzip ist die Freiheit. Spielen, kreative Dinge können auch hier ausgelebt, eigene Ideen verwirklicht werden. Keine Lehrpläne, Noten oder Zeugnisse hemmen das Kind in seinem Tun. Der heutige noch starke Einfluß zeigt sich auch in neuen Schulgründungen. In dem "Summerhill Journal" stieß ich auf eine Anzeige, die an "Dear Friends of Summerhill" gerichtet war. Die Tochter eines ehemaligen Summerhill-Schülers in den fünfziger Jahren, erzählt, daß sie und ihre Geschwister gemäß der Neillschen Prinzipien erzogen worden sind, nach denen sie nun auch ihre eigenen Kinder erzieht. Sie gründete die "Orchard Open School", die sich Summerhillsche Prinzipien zu eigen machte. Diese Schule ist nun auf finanzielle Spenden angewiesen, um den neun Kinder bessere Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen als ein umfunktioniertes Wohnzimmer bei einer Privatperson.

Ein modifiziertes Modell zu Summerhill, das den Namen "Kinokuni" trägt, besteht auch in Japan. Es handelt sich hierbei um eine vom japanischen Kultusministerium anerkannte Schule, ihr Status ist insofern einzigartig. A.S. Neills Pädagogik ist seit der Veröffentlichung des Buches "The Problem Child" im Jahre 1930 in Japan bekannt. Dieses Bekanntwerden war einem Grundschullehrer für Kunst, Sheishi Shimoda, zu verdanken, der nicht nur Neills Werke ins japanische übersetzte, sondern auch eigene Bücher über dieses Erziehungskonzept veröffentlichte. Nach seinem Tod im Jahre 1973 wurde diese Arbeit von Shinichiro Hori weitergeführt. Begeistert von den Ideen Shimodas eröffnete er 1992 eine Internatsschule ähnlich wie Summerhill, in der die Teilnahme am Unterricht freigestellt ist und wo Selbstregierung und Freiheit Schüler und Schülerinnen zu glücklichen und freien Menschen heranwachsen lassen sollen. Der Gründer sah jedoch die Notwendigkeit einer Modifizierung bezüglich der Methoden, die Selbstentscheidung, Individualität und Erfahrung betreffen, vorzunehmen. Stehen die Schulversammlungen im Zentrum von Summerhill, so ist es die Projektarbeit in Kinokuni. In Kinokuni tragen die Schüler und Schülerinnen ihre Entscheidungen selbst hinsichtlich der Projektarbeit. Es besteht kein Zwang zum Lernen. Shinichiro Hori nahm diese heute immer mehr gefragte Lernmethode auf, weil er einen strengen Dualismus zwischen Intellekt und Emotionen für nicht zu vertretbar hielt. Nicht nur das japanische Ministerium für Erziehung und Bildung beschäftigt sich mit der Weiterführung und der Administration der Schule, sondern auch Unternehmen haben ihr Interesse gezeigt, indem sie finanzielle Unterstützung anboten und auch Lehrkräfte zur Verfügung stellten.

Dieser Einsatz zeigt, daß Summerhillsche Ideen noch immer auf begeisterte Vertreter stoßen und zahlreiche Schulen nach deren Grundsätzen geleitet werden.