Zurück zur Inhaltsverzeichnis     Birgit Ahrens: "Summerhill" - Wissenschaftliche Hausarbeit - Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen 1996


  1. Das Modell Summerhill in der heutigen Praxis


"Summerhill is possibly the happiest school in the world" said its founder A.S. Neill. It is still one of the few places where children can live as equal members of a self-governing community, decide for themselves whether to attend lessons, and play as much as they wish [...]. We set out to make a school in which we should allow children freedom to be themselves. In order to do this we had to renounce all discipline, all suggestion, all moral training, all religious instruction. We have been called brave, but it did not require courage. All it required was what we had - a complete belief in the child as a good, not an evil being... this belief in the goodness of the child has never wavered; rather it has become a final faith [...] -Summerhill [still] lives." (Neill in: Summerhill School o.J., 1).


Als A.S. Neill 1973 starb, lag die Vermutung nahe, daß seine Internatsschule mit ihm sterben würde. Doch nach seinem Tode übernahm zunächst seine Frau Ena Neill die Schulleitung, und seit 1985 liegt diese Aufgabe in den Händen seiner Tochter Zoe.


Um mir ein besseres Bild von der heutigen Praxis der Internatsschule Summerhill machen zu können, entschied ich mich, diese Schule zu besuchen. Ich hielt mich zum ersten Mal am 25.05.1995 und zum zweiten Mal in der Zeit vom 28.02. bis 02.03.1996 in Summerhill auf. Im folgenden werden nun meine Beobachtungen und Recherchen wiedergegeben.


Summerhill liegt in dem kleinen Ort Leiston im Südosten Englands, in der Grafschaft Suffolk. Einst war die Schule Summerhill von Wäldern oder Feldern umgeben. Heute ist alles Bauland, und ständig entstehen neue Wohnsiedlungen in der Umgebung.

Nachdem ich von Zoe Readhead und einer Sekretärin begrüßt worden war, wurde ich in das "main house" geschickt, in dem man sich um mich kümmern würde. Im Haupthaus angekommen, stand ich einige Minuten hilflos herum, doch dann bewegte sich ein kleiner Junge auf mich zu, der mich bereits seit meinem Betreten des Hauses beobachtet hatte, und fragte, ob ich eine Besucherin sei und ob man sich um mich kümmern würde. Ich bejahte diese Frage, denn zuvor hatte mir Zoe erklärt, daß ein deutscher Schüler (Valen, 15 Jahre alt), mich und eine 6-köpfige Familie, die darüber nachdachten, zwei von ihren vier Kindern zu dieser Schule zu schicken, herumführen würde. Der englische Schüler überraschte mich gleich ein zweites Mal, indem er sofort losrannte und mit diesem deutschen Schüler zurückkehrte. Valen erklärte uns, daß er einem "committee" angehören würde, dessen Mitglieder im Wechsel die Besucher und Besucherinnen herumführen. Er führte uns nicht nur durch das Haupthaus, sondern auch durch die angrenzenden Häuser und über das ganze Territorium. Die begleitenden Erklärungen waren sehr interessant. Wo immer wir waren, wurden wir von den Kindern, Lehrpersonen und "houseparents" freundlich begrüßt. "Die Kinder erkennen wohl den Kern eines Menschen sofort. Sie sind eben Kinder und sie verstehen Gesten wie Worte und fühlen, wer ihnen gegenübersteht. Und sie fühlen vor allem, ob ihr Gegenüber es ehrlich meint." (Schmidt 1992, 104). Um die Offenheit und die Spontaneität der Kinder nicht zu hemmen, habe ich auf bohrende und immer wiederkehrende Fragen verzichtet, und habe gewartet, bis Kinder auf mich zukamen, um mir Fragen zu stellen. Als ich ihnen den Grund für meine Anwesenheit nannte, begannen sie von sich aus, mir über ihr Leben in Summerhill zu berichten. Auf meine Frage, ob ich fotografieren und filmen dürfte, wurde mir von der Schulleitung geantwortet: "Du mußt die Kinder fragen, ob sie einverstanden sind." Erstaunlicherweise hatten die Kinder - wenn man bedenkt, daß Scharen von Menschen jährlich nach Summerhill strömen, um diese Schule zu besuchen - keine Einwände und mir wurde sogar gestattet, eine Unterrichtsstunde in Chemie und ein "General meeting" zu filmen.


    4. 1. Organisation in Summerhill


Zur Zeit besuchen 67 Kinder im Alter von 5-17 Jahren aus verschiedenen Ländern Summerhill. Zum Zeitpunkt meines Besuchs gab es sogar eine Schülerin (Julie aus Japan), die bereits ihr 17. Lebensjahr überschritten hatte. Doch dieser Fall ist eher die Ausnahme. Das Grundstück umfaßt etwa die Größe zweier Fußballfelder, auf dem verschiedene Gebäude, wie zunächst das Haupthaus, Holzwerkstatt, Töpferei (vgl. Dia Nr. 58) und verschiedene Unterrichtshäuser, Spielfläche und Wohnmöglichkeiten zu finden sind (vgl. Skizze von Summerhill, S. 126). Die Verpflegung der Kinder und Erwachsenen in Summerhill wird durch eine Großküche im Haupthaus übernommen, wo drei Köchinnen das Essen zubereiten. Sowohl Kinder als auch Erwachsene stellen sich gemeinsam zur Essensausgabe an, um dann am Tresen zwischen zwei Hauptgerichten ("normales" und vegetarisches Essen) und verschiedenen Beilagen wählen zu können. Als Nachspeise können die Schüler und Schülerinnen zwischen einer süßen Speise und Obst wählen. Es hat mich in Erstaunen versetzt, daß gerade viele jüngere Kinder einen Apfel oder eine Banane einem Pudding vorzogen. Die Kinder beteiligen sich durch Abräumarbeiten oder durch Vorbereitung des Frühstücks an der organisatorischen Abwicklung der Mahlzeiteneinnahme. Es besteht auch die Möglichkeit, sich am Kochen für das Abendessen zu beteiligen, was mit 2 Pfund entlohnt wird.

Die Kinder werden gemäß ihres Alters in verschiedenen Gruppen zusammengefaßt:


San-children 7 - 10 Jahre classe 1
House-children 11 - 12 Jahre classe 2
Shack-children 13 - 14 Jahre sign-up class
Carriage-children 14 - 17 Jahre sign-up class

Die Grenzen sind fließend, d.h., daß ein Kind, das bereits 11 Jahre ist, kann noch zu den "San-children" gehören, weil es zum Beispiel erst gerade neu zu dieser Schule gekommen ist. Wenn der Altersunterschied nicht zu groß ist, bleiben Geschwister zunächst zusammen, insbesondere die Kinder aus Japan, Korea und Taiwan, da sie zu Beginn des Aufenthalts in der Schule Summerhill mit großen Sprachschwierigkeiten konfrontiert sind. Die Kleinsten heißen "San-children", da sie in einem ehemaligen Sanatorium wohnen. Die "House-children" tragen ihren Namen, weil sie im Haupthaus ("main house") untergebracht sind. Die ältesten Kinder werden dagegen nach den ehemaligen Eisenbahnwaggons (carriage = [Eisenbahn]Wagen) bezeichnet, in denen sie heute untergebracht sind (vgl. Dia Nr. 37 und 38). Für die kleineren Kinder bis zum Alter von 10 Jahren stehen gemeinsame Schlafräume im Haupthaus zur Verfügung. Eine Trennung zwischen Jungen und Mädchen bis zum Alter von 10 Jahren wird nicht vorgenommen, damit sich keine Anomalien entwickeln und auch, damit sie sich besser kennenlernen. Den älteren Kinder wird in den ehemaligen Eisenbahnwagons, die wenige Meter vom Haupthaus entfernt stehen, ein Einzelzimmer gegeben. Die Kursräume sind über das Grundstück verteilt, und da die Kursstärken meist niedrig sind - in der Regel besuchen 3-6 Kinder einen Kurs (vgl. "timetable" (Stundenplan), S. 127) - sind diese Räume zwar sehr individuell gestaltet, aber auch nicht sehr groß. Häufig finden sich in den Räumen alte Couchteile, auf die sich die Schüler und Schülerinnen auch einmal zurückziehen können. In dem Klassenzimmer für Geschichte, Englisch und Französisch war sogar ein Klavier zu finden, auf dem Lehrkräfte sowohl als auch Kinder vor und nach Unterrichtsbeginn spielten. Im Klassenzimmer für Naturwissenschaften (vgl. Dia Nr. 57) befand sich ein abgetrenntes Labor und ein offener Platz mit zwei Aquarien, die zum selbsttätigen Experimentieren anregen sollen. Im Mathematik-Klassenzimmer war ein Computer mit E-mail- und Internet-Anschluß vorhanden. Die Eltern können somit über das Internet mit ihren Kindern und mit der Schulleitung kommunizieren. Verschiedene Musikinstrumente aus Holz und Metall aus fernöstlichen Ländern oder aus Afrika waren im angrenzendem Musikzimmer zu finden. Ebenso gibt es aber auch Arbeitstische, deren Sinn und Zweck offensichtlich ist.

In Summerhill gibt es 8 Lehrkräfte, die bis auf eine Ausnahme in Wohnwagen untergebracht sind. Ihr jährliches Gehalt liegt bei 7700 Pfund brutto; Kost und Logis sind frei. Von diesen 8 Lehrkräften sind zwei jeweils für "classe1" und "classe2" zuständig. Der Unterricht ist hier nicht nach einzelnen Fächern aufgeteilt, sondern die Schüler und Schülerinnen werden nach dem Prinzip des "offenen Unterrichts" unterrichtet. Die restlichen 6 Lehrkräfte sind sogenannte "sign-up teachers", d.h. für die von ihnen angebotenen Kurse muß sich jeder Schüler und jede Schülerin einschreiben.

Die Hauptaufgabe der Lehrpersonen ist es , ihren Unterricht zu der angegebenen Zeit zu halten. Von den Lehrpersonen wird ebenfalls erwartet, daß sie sich in ihrer freien Zeit unter die Schüler und Schülerinnen mischen. Da die Teilnahme am Unterricht frei ist, wird der lehrenden Person automatisch die Bürde auferlegt, guten Unterricht zu erteilen, weil die Kinder dem Unterricht sonst fernbleiben würden. Die Lehrkräfte sind gesetzlich dazu verpflichtet, einen akademischen Grad aufzuweisen, jedoch wird keine pädagogische Ausbildung verlangt. Neill zog Lehrer und Lehrerinnen mit Humor vor. Weiterhin soll es sich um fröhliche, lebenslustige, ausgeglichene Menschen halten, die sich gerne aktiv am Schulleben beteiligen.

Einmal wöchentlich teilt die Schulleitung das Taschengeld aus. Jeder Gruppe von Kindern steht wöchentlich eine bestimmte Taschengeldsumme zu: "San-children" bekommen 2,50 Pfund, "House-children" 3,50 Pfund, "Shack-children" 5 Pfund und "Carriage-children" 8 Pfund (vgl. Interview, S. 135). Zusätzlich erhalten manche Kinder von ihren Eltern ein weiteres Taschengeld.

Summerhill erhält keine öffentlichen Finanzmittel, sondern finanziert sich aus dem Internatsgeld, dem Schulgeld der externen Schüler und Schülerinnen und aus den eingehenden Spenden eines Freundeskreises.


    4. 2. Wie wird heute versucht, A. S. Neills pädagogische Konzeption in Summerhill zu verwirklichen?


    4. 2. 1. Selbstregierung


"The function of the child is to live his own life - not the life that his anxious parents think he should live nor a life according to the purpose of the educator who thinks he knows what is best." (zit. n. Summerhill School o.J., 7).


Die Gemeinschaft ist nach den Grundsätzen demokratischer Selbstregierung aufgebaut und stellt damit die freie Entscheidung des Einzelnen in den Mittelpunkt allen pädagogischen Handelns. Das Leben in demokratisch-gleichberechtigten Formen der Selbstverwaltung fordert Selbstbestimmung. Freiheit zur Selbstbestimmung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Zügellosigkeit. Kinder wie auch Erwachsene müssen lernen, Achtung voreinander zu haben und persönliche Eigenschaften anzuerkennen: Der Lehrende wendet keinen Zwang gegen das Kind an - das Kind darf aber auch nicht Zwang gegen den Lehrenden ausüben (vgl. van DICK 1975, 114).

"Alles, was irgendwie mit dem Leben der Gemeinschaft zusammenhängt [...], wird von der Schulversammlung am Samstag durch Abstimmung geregelt. Jedes Mitglied des Lehrerkollegiums und jedes Kind, gleichgültig, wie alt es ist, hat eine Stimme." (Neill 1965, 60). Diese Veranstaltung findet im Haupthaus (vgl. Skizze von Summerhill, S. 126) statt. Das "general meeting" wird immer durch ein langanhaltendes Klingelzeichen angekündigt. "Mealtime and teatimes are announced with a bell that is very loud; it has to be heard all over the campus." (Sadofsky 1995, 19). Man muß hier zwischen drei Versammlungen unterscheiden: "general meeting", "tribunal" und dem "special meeting". Die Generalschulversammlung ("general meeting") findet jeden Samstag um 19.00 Uhr statt. "The main function of the General Meeting though is to formulate the laws by which we live and eradicate the ones that we disagree with, to amend them to make more relevant to the needs of the community at that particular time." (Appleton 1991, 14). Allgemeine wie persönliche Schulangelegenheiten werden hier diskutiert, finanzielle Fragen sowie die Einstellung und Entlassung von Lehrkräften werden von der Schulleitung entschieden. Die Verhaltensregeln, die in Summerhill Gültigkeit haben, werden ebenso in den Versammlungen angesprochen und diskutiert, und bei Verstößen werden Sanktionen verhängt. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin gegen diese Regeln handelt, wird in dem am Freitag stattfindenden "tribunal" gemeinsam entschieden, wie dieser Schüler oder diese Schülerin bestraft werden soll. Nach Matthew Appleton, einem "House-Parent", sind diese Strafen im allgemeinen sinnvoll und beseitigen oftmals ein Übel. Diese Strafen lassen sich generell in vier Kategorien einteilen: Tadel, kleine Abzüge vom Taschengeld, Ausgangsverbot oder zusätzliche Arbeit, "such as picking up litter for half an hour" (Appleton 1991, 12). Die Gerichtsversammlung ("tribunal") findet jeden Freitag um 14.00 Uhr statt.

Neben den Generalversammlungen und den Gerichtsversammlungen gibt es auch noch die speziellen Versammlungen ("special meetings"). "This is convened by anyone who considers that the nature of his complaint is too urgent to wait till Saturday." (Purdy 1995, 14). Diese Art von Versammlung kann jederzeit von jedem einberufen werden, wenn diese Person ihr Anliegen für sehr wichtig hält und der Meinung ist, daß es nicht aufzuschieben ist. Zur Zeit meines Besuchs wurde eine solche Versammlung abgehalten, denn kurz zuvor hatte ein Schüler oder eine Schülerin grundlos Feueralarm ausgelöst, wodurch die Feuerwehr gerufen wurde. Dieser Besuch kostete die Schule 90 Pfund. In der speziell einberufenen Versammlung wurde nun ein "investigation committee" gebildet, das sich mit der Aufklärung dieses Falls beschäftigte.

Für Kinder, die noch nicht in der Lage sind, ihre Anliegen - sei es, weil ihre Sprachkenntnisse in Englisch noch nicht ausreichen oder weil sie neu an dieser Schule sind - hervorzubringen, tritt ein sogenannter "Ombudsman" ein, der an ihrer Stelle spricht, nachdem sie sich ihm anvertraut haben.

Betritt man das Haupthaus, so kommt man in einen großen Raum, der für die Druchführung der "Selbstregierungsveranstaltungen" zur Verfügung steht. Wenn dieser Raum nicht für diese Veranstaltung genutzt wird, dient er als Tischtennisraum.

In dieser alten Halle finden sich alle Kinder, Erwachsene und die Schulleitung zu den Versammlungen zusammen. Alle Kinder sitzen in einem Kreis und warten auf den Beginn der Versammlung. Besucher können diesen Versammlungen beiwohnen, nachdem zuvor abgestimmt wurde - allerdings unter Ausschluß der jeweiligen Besucher und Besucherinnen. Die Schüler und Schülerinnen leiten die Veranstaltung selbstständig, ohne daß dadurch Autoritätsprobleme auftauchen. Als ich an einem solchen "meeting" beiwohnte, wurden folgende Punkte diskutiert: Ein Zehnjähriger forderte, daß "Sack-" und "Carriage-children" nichts im Fernsehraum zu suchen haben, während die "Kleinen" fernsehen. Zwei Mädchen brachten hervor, daß sie von Yuma, einem achtjährigen Jungen, mit einem Tennisschläger bedroht wurden und ein weiterer Junge wurde hervorgebracht, weil er im Unterricht mit einem "Game-Boy" gespielt hatte. Der Mathematiklehrer kündigte an, daß in Kürze ein neuer Computer mit E-mail-Anschluß für die unteren Klassen zur Verfügung stehen würde. Ein "Carriage-child", das scheinbar viel Erfahrung mit Fahrradreparaturen besitzt, bot an, "bike tests" für Summerhill-Schüler und Schülerinnen durchzuführen. Jeder Punkt wurde ausführlich diskutiert. Die Selbstregierung durch die Schulversammlung macht deutlich, daß die Schüler und Schülerinnen dadurch konstruktiver, praxisbezogener und argumentationssicherer werden. Neill sagt dazu: "Die Selbstverwaltung ist ein Erziehungsfaktor von unvermeidlichem Wert. Ich habe oft außerordentlich kluge Reden von Kindern gehört, die weder lesen noch schreiben konnten." (zit. n. Röhrs 1965, 321). Obwohl sich ihre emotionale Erregung oft in lautstarken Diskussionen zeigte, endeten ihre Selbstregierungsveranstaltungen nicht im Chaos. Diskussionspunkte wurden vorgebracht, Redner wurden angehört, Argumente pro und contra gesammelt und nachdem mehrere Vorschläge ("proposals" - ein Schüler oder eine Schülerin wird vielleicht sagen: "I propose 10p fine") hervorgebracht wurden, wurde über die Vorschläge abgestimmt und so die Strafe festgelegt. Da es mehr Schüler und Schülerinnen als Erwachsene gibt, haben die Jungen und Mädchen faktisch immer eine Mehrheit. "Sie tragen so die Verantwortung für die Gesetze und deren Einhaltung." (Zoe Readhead in: Züricher Tagesanzeiger Mai 1994). Den Vorsitz dieser Versammlung übernimmt ein "chairman", der ein Schüler, eine Schülerin, ein Lehrer, eine Lehrerin oder ein "houseparent"sein kann. Diese Person hat als einzige das Recht, "SHUT UP" zu rufen, sobald Unruhe während der Generalversammlung den Fortgang beeinträchtigt. "Der Erfolg einer Versammlung hängt sehr davon ab, ob dieser Vorsitzende schwach oder stark ist; denn eine Rotte von siebzig höchst lebendigen Kindern in Schach zu halten, ist keine leichte Aufgabe."(zit. n. Röhrs 1965, 322). Ein Schriftführer ("secretary") wird ebenso gewählt. Die zu zahlenden "fines" oder die zu leistenden "work fines" werden schriftlich von einem Schüler oder einer Schülerin in einem "work fine-book" festgehalten, um die Ausführung überprüfen zu können. Außerdem wird alles protokolliert, was während einer Versammlung diskutiert wird, damit später jeder die Möglichkeit hat, alles nachzulesen, falls Uneinigkeiten wegen eines bestimmten Gesetzes entstehen. Diese Ämter, wie zum Beispiel die Protokollführung, wechseln jedoch in bestimmten Abständen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Kinder demonstrieren, wie sie ihr Leben selbständig und ohne eine autoritäre "Anleitung" (Schmidt 1992, 106) in die Hand zu nehmen und zu meistern imstande sind, indem sie ihre anfallenden Probleme selbst in eigener Verantwortung regeln. Es fällt auf, daß die Kinder ihre Strafen ohne Nörgeln und Murren entgegennehmen; Grund hierfür ist sicherlich die Tatsache, daß die Strafen in der Regel in einem sinnvollen Zusammenhang mit der begangenen Tat stehen. "Kein Schuldiger hat bis jetzt je Zeichen von Trotz gegen die Autorität von seinesgleichen gezeigt. Ich bin immer wieder überrascht über die Fügsamkeit, die sich beim Annehmen der Strafe zeigt." (zit. n. Röhrs 1965, 320). Der Gedanke, daß die Strafansprüche unangemessen und zu hoch sein könnten, entpuppt sich als falsch, denn die hier lebenden Kinder entfalten anscheinend einen Sinn für Gerechtigkeit und Taktgefühl im Hinblick auf die Strafen. "Tat und Strafe stehen also in einem kausalen Zusammenhang." (Schmidt 1992, 106).

Nach Karg (1991, 40) stellt diese Art von Schulforum in Summerhill eine der am längsten andauernden Versuche in der Geschichte der Pädagogik dar, Demokratie nicht nur zu dozieren, sondern zu leben.


    4. 2. 2. Schule und Schulbesuch


Summerhill kann als international und interkulturell bezeichnet werden, da die Kinder aus den verschiedensten sozialen Schichten und aus den unterschiedlichsten Ländern und Gesellschaften der Welt kommen. Von den derzeit 67 Schüler und Schülerinnen kommen 19 aus Asien, 21 aus Großbritannien, 12 aus der Bundesrepublik Deutschland, 1 aus Frankreich, 1 aus der Schweiz und noch einige Tageskinder aus der näheren Umgebung. "Die meisten Ausländer stammen derzeit aus Japan, Flüchtlinge vor dem rigiden Bildungssystem dort." (Der Spiegel 8/1994). Obwohl die Mehrzahl der Kinder aus gutsituierten Familien stammen, ist auch der Fall bekannt, daß sich eine Familie sogar das Geld geliehen hat, um ihrem Kind den Schulbesuch in Summerhill ermöglichen zu können (vgl. Interview, S. 136). Summerhill ist nicht nur eine Internatsschule, weil die Kinder aus aller Welt kommen, sondern auch weil die Selbstregierungsstruktur von Summerhill eine dauerhafte physische Anwesenheit der Kinder erfordert, damit sie dauerhaft Selbstbestimmung erfahren und lernen.

Trotzdem gibt es sogenannte "day-children", die Summerhill täglich besuchen. Der Grund für die Entscheidung, Tageskinder aufzunehmen, war sicherlich finanzieller Natur, denn Summerhill ist zur Zeit mit 67 Schüler und Schülerinnen nicht vollkommen ausgelastet. Das Problem der Tageskinder ist natürlich, daß durch den täglichen Aufenthalt im Elternhaus die Selbstregierung stark beeinträchtigt werden kann, aber im Interesse des Fortbestands von Summerhill ist man anscheinend bereit, Kompromisse zu machen, da man auf das Schulgeld der Kinder angewiesen ist.

Um den Kindern den größtmöglichen Freiraum zu schaffen, ist die Teilnahme am Unterricht freiwillig. Daraus resultiert jedoch ein immer wieder diskutierter Konflikt in der Schulversammlung, nämlich daß die Kinder, die den Unterricht regelmäßig besuchen, verärgert sind, wenn Mitschüler oder Mitschülerinnen den Unterricht nur gelegentlich besuchen und dann mit zu vielen Fragen den Fortgang des Unterrichts hemmen. Erzwungene Arbeit wird aufs schärfste abgelehnt, so daß demzufolge Hausaufgaben auch nur freiwillig angefertigt werden. Spielen, basteln oder toben wird als dem intellektuellen Lernen gleichrangig angesehen. Die Neillsche Pädagogik will in erster Linie in den Kindern die Freude am Leben wecken. "Glücklich sein" ist in Summerhill gleichbedeutend mit "am Leben interessiert sein".

Ein Schuljahr teilt sich in Trimester von jeweils 12 Wochen auf..

Der Stundenplan, der zu Beginn eines jeden Trimesters ausgehängt wird, ist für Lehrpersonen verpflichtend. Die Schüler und Schülerinnen können sich hier für die Unterrichtsstunden eintragen, für die sie sich interessieren. "Lehrer in Summerhill sind zum Glück davon befreit, auch die Uninteressierten zu interessieren." (Justin Baron in: Brigitte 2/1992). Die jüngeren Kinder haben dagegen einen Klassenraum und eine Lehrperson für alle Unterrichtsfächer.

Es gibt keinen Religionsunterricht in Summerhill, um Kinder in ihrer Überzeugung und Glaubensweise nicht festzulegen oder ideologisch zu beeinflussen. Ebenso wird in Summerhill auf einen regelmäßigen Sportunterricht verzichtet, da Neill der Überzeugung war, daß gesunde Kinder genügend Bewegung bekämen. Diese Ansicht hat jedoch nur Gültigkeit in ländlichen Gegenden. Heute ist der Sportunterricht nicht mehr überflüssig, um im Zeitalter der überwiegend sitzenden, auto- und fernsehverwöhnten Kindheit Haltungsschäden und Mißbildungen vorzubeugen. Während meines viertägigen Besuches in Summerhill habe ich beobachtet, daß sich sehr häufig Gruppen von Schülern und Schülerinnen zusammenfinden, um einer Ballsportart (Cricket, Baseball etc.) nachzugehen. Mir wurde ebenfalls mitgeteilt, daß im letzten Trimester ein Schüler einen Fußballclub gegründet hat, in dem sowohl Schüler und Schülerinnen als auch Lehrkräfte Mitglied sind.

In den Fächern Mathematik, Englisch, Deutsch, Französisch und Naturwissenschaften wird der Unterricht in Form von altersbezogenen Kursen angeboten. Der einzelne Schüler und die einzelne Schülerin stellt sich entsprechend seinen oder ihren persönlichen Wünschen und Neigungen seinen oder ihren Stundenplan zusammen. Für die Kurswahl ausschlaggebend ist der individuelle Leistungsstand eines Schülers oder einer Schülerin. Es besteht keine Einschränkung bei der Kurswahl, jeder Schüler und jede Schülerin kann auch an einem klassenhöheren Kurs teilnehmen, wenn er oder sie zeigt, daß die erforderlichen Kenntnisse vorhanden sind. Da die Klassen klein sind und die Lehrperson sich daher den einzelnen Schülern und Schülerinnen intensiv widmen kann, ist das Aufrücken in die nächsthöhere Stufe aufgrund der erbrachten Leistung einfach und häufig. Es gibt keine Noten, wodurch noch einmal deutlich gemacht wird, daß der Interessenvertiefung und der Freude am Wissenserwerb eine größere Bedeutung zukommt, als der Kontrolle von Wissen. Jeder ist frei darin, aus sich selbst zu machen, was er oder sie gerne will. Ein schulinterner Abschluß in Summerhill ist nicht möglich. Allerdings kann das GCSE-Examen gemacht werden. Diese Prüfungen werden zentral von der Schulbehörde durchgeführt und sind somit staatlich anerkannt. Außerdem sind sie obligatorisch, wenn der Schüler oder die Schülerin sich entschließt, auf ein "College" zu gehen, um dort das entsprechende Abitur ("A-levels") zu machen. Die Kinder, die sich zu dieser staatlichen Prüfung anmelden, bestehen - laut Schulleitung - diese in der Regel. Auffallend ist, daß die Kinder den vorgeschriebenen Stoff für die Vorbereitung auf die Prüfung teilweise im Eigenstudium in wesentlich kürzerer Zeit als die Kinder in staatlichen Schulen bewältigen. Alex, ein deutscher Schüler aus Waldbrunn, der seit dem 9. Lebensjahr Summerhill besucht, hat bereits mit 12 Jahren die GCSE-Prüfung in Chemie und ein halbes Jahr später in Physik erfolgreich abgelegt. Haben sich die Kinder einmal entschieden, ihr GCSE-Examen zu absolvieren, ist die Lehrperson angehalten, einen "Attendance Register" zu führen, in dem die Anwesenheit der Schüler und Schülerinnen dokumentiert wird (vgl. Dia Nr. 54). Die Bücher, die verwendet werden, entsprechen denen an staatlichen Schulen. So wird im Deutschunterricht beispielsweise mit dem Schülerbuch "Zickzack" gearbeitet,. Die im englischen Curriculum ("Syllabus") als Prüfungsgrundlage genannten Themen, wie "Personal Identification", "House and Home", "Life at Home", "Education and Future Career", "Free-time and Entertainment", "Travel", "Holidays", "Social Relationships", "Health and Welfare", "Shopping", "Food and Drink", "Services", "Language Problems" und "Weather" werden auch im Deutschunterricht in Summerhill angesprochen. Je nach Interesse besuchen sie die Unterrichtsstunden, die ihnen am meisten gefallen. Natürlich haben sie gleichzeitig das Recht, von Unterrichtsstunden fernzubleiben, wenn ihnen das zu behandelnde Thema nicht gefällt. Die von mir per Video aufgezeichnete Unterrichtsstunde zeigt eine Chemie- bzw. Biologiestunde, zu der zwei von fünf Schülern erschienen. Für die nachfolgende Unterrichtsstunde erschien sogar kein Schüler, was natürlich die Frage aufwirft, warum Schüler oder Schülerinnen häufig nicht zum Unterricht erscheinen. Natürlich liegt ein enger Zusammenhang zwischen dem Lernstoff und den Interessen des einzelnen Kindes. Häufig ist es aber der Spieltrieb, der Kinder bewegt, nicht zum Unterricht zu gehen, sondern in Bäumen zu klettern oder mit anderen Kinder Baumhäuser zu bauen. Nach Neill ist aber diese Form der Beschäftigung auch eine Form des Lernens. Die nächste Frage, die sich hier anschließt, ist natürlich: Was motiviert die Kinder überhaupt am Unterricht teilzunehmen? Sicherlich ist zunächst das Interesse jedes Kindes ausschlaggebend für den Besuch der Unterrichtsstunden. Oft sind es auch Eltern oder andere Kinder ("peer pressure"), die ein Kind veranlassen, zum Unterricht zu gehen. Einige Kinder nehmen auch nur am Unterricht teil, weil sie gelangweilt sind und zu diesem Zeitpunkt nichts besseres vorhaben. Aus dem Interview mit Zoe Readhead (vgl.Interview, S. 138) wird ebenfalls ersichtlich, daß es durchaus Kinder gibt, die sich langweilen, doch von ihrem Standpunkt aus ist dies dennoch als konstruktiv anzusehen. Ich fragte drei Mädchen im Alter zwischen 13 bis 15 Jahren, wie häufig sie zum Unterricht gehen, worauf ich die Antwort erhielt: "I tend to go more to lessons during winter time". Und auf die Frage, was sie denn im Sommer machen würden, erwiderten sie: "Well, going swimming". Aus dem Interview mit der Schülerin Maya Mahn ging ebenfalls hervor, daß sich im Sommer fast alles am Schwimmbad abspielt. Es kann jedoch auch vorkommen, daß sich dort Gruppen von Schülern und Schülerinnen treffen, um Lehrstoff nach - beziehungsweise- vorzuarbeiten.

Aufgrund des großen Andrangs von japanischen Kindern wurde kürzlich eine zweite Japanischlehrerin eingestellt. Es hat sich gezeigt, daß auch europäische Kinder viel Interesse am Japanischunterricht zeigen. Um den Kindern, die nicht aus englischsprachigen Gebieten stammen, entgegenzukommen, wird das Fach "English as a foreign language" (Englisch als Fremdsprache) angeboten.

Es gibt in Summerhill eine relativ dürftig eingerichtete Schulbibliothek, in der sich die Kinder zu bestimmten Zeiten zum Lesen und zum Lernen zurückziehen können. Fächerspezifische Bücher und Lehrwerke sind in den einzelnen Klassenräumen ausgelegt. Am Ende eines jeden Trimesters wird ein Theaterstück aufgeführt, das von den Schülern und Schülerinnen selbst geschrieben wird. Dabei wird Mimik und Gestik bis hin zur Pantomime und zur Komik ein breiter Raum eingeräumt (vgl. Neill 1969, 84f). Neill vertrat die Meinung, daß die Kinder und Jugendlichen durch Tanz und Musik gestärkt werden, was eine natürliche, freiere Emotionaliät und ein gesundes Wachstum fördert.


    4. 2. 3. Kreativer Unterricht


Neben den theoriegeleiteten Unterrichtsfächern wie Mathematik, Fremdsprachen und naturwissenschaftlichen Fächern erfahren die künstlerisch-gestaltenden Fächer im Bereich Werken, Kunst und Töpfern einen regen Zulauf. Wie aus dem Stundenplan (vgl. Anhang) ersichtlich wird, stehen die Kunst- und Werkräume allen Kindern an den Vormittagen offen. Die Nachmittage sind für die Schüler und Schülerinnen reserviert, die sich für Kurse eingetragen haben, die obligatorisch für das GCSE-Examen sind. Die Kinder fertigen in der Werkstatt oder in den Kunsträumen verschiedenste Dinge an, wobei sie sich größtenteils an die Vorlagen und Vorgaben des Lehrers halten. Es kann natürlich auch vorkommen, daß in der Holzwerkstatt Dinge des täglichen Lebens hergestellt werden, so wurde mir während meines Besuchs beispielsweise ein Regal vorgeführt, daß sich ein älterer Schüler selbst zusammengebaut hatte, weil er Platz für seine Bücher benötigte. Außerdem werden hier lädierte Skateboards repariert, oder die Jüngeren bauen sich ihr eigenes Spielzeug. Es kommt auch vor, daß einzelne Schüler oder Schülerinnen im Auftrag anderer Werkstücke gegen Entgelt anfertigen. Die Kinder zeigen dabei einen sicheren Umgang mit den Arbeitswerkzeugen. Sie sind bei den eigenständigen Arbeiten sehr besonnen, helfen und beraten sich gegenseitig und nehmen regen Anteil an dem Projekt des anderen. Leistungs- und Konkurrenzdruck entfallen, da die Arbeiten in keinem festgelegten Zeitraum fertiggestellt werden müssen. Die angefertigten Werkstücke spiegeln ein beträchtliches Maß an Kreativität wider und sind in der Regel sehr gut verarbeitet, nicht zuletzt deshalb, weil sie mit viel Freude und großer Motivation hergestellt wurden. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, daß die Arbeiten für die Kinder selbst häufig einen hohen Nutz-, Gebrauchs- und Lebenswert haben. Der unmittelbare Bezug der Arbeit zur Lebenswelt der Kinder ist hier gewährleistet.


    4. 2. 4. Planung und Regeln in Summerhill


"Children are encouraged to make as many decisions as possible for themselves and to enjoy the natural uninhibited play and fantasy of childhood. No moral system is inculcated except that which arises out of the practical life of the community. Freedom is the right to do what you want so long as it does not harm others or injure you physically." (Summerhill School o.J., 7).


Trotz der großen Freiheit, die die Kinder in Summerhill genießen, gibt es einen Rahmenplan für die Einteilung der Wochen und Tage. So gibt es feste Zeiten für Unterricht, Frühstück, Mittag- und Abendessen und die klassischen englischen "tea breaks". Zur Zeit meines Besuches in Summerhill gab es ein Gesetz, das besagte, daß alle Kinder bis spätestens um 9.20 Uhr ihre Betten verlassen haben müssen. Die Einhaltung dieses Gesetzes beschränkte sich allerdings nur auf die Tage Montag bis Freitag und galt nicht für das Wochenende, da diese als sogenannte "slobbing days" gelten, an denen jeder solange im Bett bleiben darf, wie er möchte, auch Erwachsene. Jochen Schmidt schrieb in seinem Reisebericht 1992, daß zur Zeit seines Besuchs alle Kinder bis 9.30 Uhr in ihren Betten bleiben durften. Dies muß jedoch zu Problemen geführt haben, da die erste Unterrichtsstunde bereits um 9.30 Uhr beginnt. Um zu gewährleisten, daß die Schüler pünktlich zu ihren Unterrichtsstunden kommen, - falls sie sich denn nun entschieden haben, daran teilzunehmen - ist dieses Gesetz daraufhin geändert worden. Das Frühstück findet von 8.15 Uhr bis 9.00 Uhr statt. Wer nicht daran teilnehmen möchte, weil er beispielsweise ausschlafen möchte, kann dies tun, muß aber bis zur Teepause von 10.50 bis 11.10 Uhr warten, um etwas Eßbares zu sich nehmen zu können. Jedoch hat nur derjenige eine größere Auswahl an Cornflakes, der auch früh zum Frühstück erscheint. Daneben gibt es noch weitere Regeln oder Gesetze, die den Tagesablauf mitbestimmen. Diese Gesetze gelten unbefristet, und die Gemeinschaft wacht streng über ihre Einhaltung. Die Fülle der Gesetze - in den "Summerhill Laws from November, 95" werden 188 Gesetze aufgelistet (vgl. S. 128-133) - riß einen Lehrer zu der Behauptung hin, "Summerhill is possibly the only school in the world that has the most rules and laws than any other ordinary school." Es muß darauf hingewiesen werden, daß es mehrere Gesetze gibt, die nur erlassen wurden, weil das englische Schulrecht ähnliche Vorgaben macht. "First lunch kids not allowed downtown before one o'clock", Kinder dürfen sich vormittags nicht in der Stadt aufhalten; ist eines dieser Gesetze. Zum anderen bestehen auch Gesetze zum Schutz der Schüler und Schülerinnen: "Fire: During the fire drill, everyone must be IN the theatre", dieses etwas abgeschiedene Theatergebäude kann den Schüler und Schülerinnen Schutz während eines Feueralarms bieten. Die Sicherheitsregeln sind unwiderruflich und können nicht auf der wöchentlichen Schulversammlung geändert werden. "All laws go through the meeting except for certain health and safety laws and any other law which is mandatory in the eyes of the state". (Appleton 1991, 14).

Um 9.30 Uhr beginnt in Summerhill die erste Unterrichtsstunde. Im Anschluß an die bereits erwähnte Teepause geht es mit der Unterrichtsstunde um 11.10 Uhr weiter. Das Mittagessen wird für die Jüngeren von 12.30 bis 13.15 Uhr ausgeteilt, weil der Essenssaal nur etwa 50 Personen fassen kann. Um 13.15 gibt es schließlich Essen für die älteren Kinder. In der Zeit von 12.30 Uhr bis 16.30 Uhr und von 13.10 bis 15.50 Uhr gibt es für die Größeren kein Unterrichtsangebot. Die Kinder gehen in dieser Zeit ihren aktuellen Freizeitbeschäftigungen nach. Um 16.00 Uhr treffen sich Kinder und Erwachsene noch einmal zu einer Teepause, in der wieder Tee und Gebäck gereicht werden. Eine weitere Unterrichtseinheit findet am späten Nachmittag von 15.30 bzw. 16.30 Uhr statt. Darauf folgt das Abendessen. Die Erwachsenen mischen sich hier aber nicht unter die Kinder, sondern nehmen das Abendessen im Lehrerzimmer ein. "Staff and kids mix during lunch; not during supper; staff takes it in the staff room." (Sadofsky 1995; 19). Summerhill kann durchaus als "Ganztagsschule" bezeichnet werden. Nach dem Abendessen treffen sich die Kinder häufig in Gruppen und spielen oder sehen fern. Dienstags, Mittwochs, Freitags, und Samstags findet am Abend eine Disco statt, die den Namen "gram" trägt ("gram" Abk. für "grammophone"). An manchen Abenden besuchen die älteren Kinder das Kino in Leiston. Gelegentlich werden auch spontan Veranstaltungen organisiert, wie beispielsweise ein Tischtennistunier.

"Bedtimes are always a source of much debate!" (Appleton 1991, 12). Deshalb wird in jedem Trimester ein "Beddies Officer Committee" gewählt, die darüber wachen, daß die in der Schulversammlung aufgestellten Bettzeiten eingehalten werden. Bei Verstößen können die "Beddies Officer" Strafen, wie beispielsweise "als erster in der Frühstücksschlange stehen", was natürlich ein frühes Aufstehen fordert, Verzicht auf den Nachtisch oder auch eine Geldstrafe von 25 pence verhängen.


    4. 2. 5. Kinder ohne Angst?


"... the absence of fear is the finest thing that can happen to a child". (Neill in: Summerhill School o.J., 6).


Die Kinder zeigen keine Angst vor Erwachsenen. Es herrscht ein entspanntes, herzhaftes und ehrliches Verhältnis zwischen Kindern und Lehrer und Lehrerinnen. Es ist ein vertrautes Bild, daß Lehrpersonen, Schüler und Schülerinnen miteinander toben oder sich in den Arm nehmen. Dazu ein kurzer Auszug aus einem Artikel der englischen Zeitung Telegraph: "[Summerhill:] a co-educational boarding school where staff hug pupils...". (Mai 1995). Auch mit Besuchern geben sie sich auf einer gleichberechtigten Ebene, in der sie mit den Menschen als Menschen umgehen und natürlich auch selbst so behandelt werden möchten. Jeder erfährt hier Akzeptanz und Wertschätzung, denn ganz gleich seiner Schwächen oder Stärken wird er hier als Person voll und ganz akzeptiert, die das freie Recht auf alles hat, sofern sie es vor sich selbst, vor der Gemeinschaft und damit vor ihren Mitmenschen verantworten kann. Dieses Zugeständnis von Freiheit könnte leicht zu dem Glauben führen, daß hier Chaos und Anarchie herrschen. Der Spiegel-Artikel von 8/1994 trägt immerhin den Titel "Von wegen Anarchie". Die damals interviewte deutsche Summerhill-Schülerin streitet die Anarchie völlig ab, denn "wir haben hier jede Menge Pflichten und Verbote" (August 1994). Ganz im Gegenteil wird Wert darauf gelegt, daß die Grenzen der Mitmenschen nicht im täglichen Zusammenleben überschritten, sondern ge- und beachtet werden. "Vielen progressiv[en], etablierten [Pädagogen], wie etwa Maria Montessori, warf Neill [in diesem Zusammenhang] vor, sie drückten den Kindern ihre Ideen auf, anstatt sie durch Selbstverwaltung zu befähigen, ihre unbewußten Züge und damit ihre Kreativität zu befreien. [Neill] nahm sich auch wenig Zeit, innovative Unterrichtsmethoden zu entwickeln, weil er die Entwicklung einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft für wichtiger hielt, in der Kinder wirklich Einfluß ausüben konnten." (Cannan 1985, 17).


    4. 3. Welche pädagogischen Absichten und Ziele werden mit diesem Tagesablauf bzw. mit dieser Organisation der Schule verfolgt ?


Die im zweiten Kapitel dargestellten Erfahrungen Neills mit den englischen Schulen lassen vermuten, daß seine Kritik am Schul- und Erziehungswesen auf den dort gemachten Erfahrungen basiert.

Neill gelangte zu der Überzeugung, daß das bestehende Schul- und Bildungssystem von falschen Annahmen ausgeht. Seine Arbeiten verfolgten das Ziel, "die Schule kindergeeignet zu machen - nicht die Kinder schulgeeignet". (Neill 1969, 22). Das Glück des Kindes, seine individuelle Zufriedenheit und sein Wohlbefinden sind für Neill die wichtigsten Prinzipien.

Ein weiteres wichtiges schulpädagogisches Prinzip, das von Neill kreiert wurde, ist die freiwillige Teilnahme am Unterricht. Es kann natürlich vorkommen, daß Kinder jahrelang nicht am Unterricht teilnehmen. Aus Gesprächen mit mehreren Schüler und Schülerinnen ging jedoch hervor, daß Kinder, die bereits in jungen Jahren nach Summerhill kommen, den Unterricht von Anfang an besuchen. Schüler und Schülerinnen, die bereits das repressive normale Schulsystem kennengelernt hatten, zeigen ein deutliche Tendenz dahin, daß sie im ersten und zweiten Trimester vom Unterricht fern bleiben. Dazu schreibt Neill: "Kinder, die von einer anderen Schule zu uns kommen, schwören sich jedoch oft, nie wieder in ein Klassenzimmer zu gehen. Sie spielen, fahren mit dem Fahrrad, stören andere bei der Arbeit, aber sie hüten sich vor der Schulbank. In einigen Fällen dauerte das Monate. Die Zeit der ‘Genesung' entspricht der Stärke des Hasses, den ihnen die vorige Schule eingegeben hat." (Neill 1969, 23). Diese Phase wird schulintern als "breaking-out-Phase" bezeichnet. Aus Gesprächen mit deutschen Summerhill-Schülern und Schülerinnen ging hervor, daß sie in der Regel ein bis zwei Jahre vom Unterricht fernbleiben.

Es ist auffallend, daß Neill sich nicht häufig über den eigentlichen Prozeß des Lernens äußert, was zu der Annahme führt, daß der reine Glaube an das Kind, die Grundlage seiner Arbeit bildet. "Nach meiner Überzeugung ist das Kind von Natur aus verständig und realistisch. Sich selbst überlassen und unbeeinflußt von Erwachsenen entwickelt es sich entsprechend seinen Möglichkeiten [...].Von den Lehrern wird nicht erwartet, daß sie nach besonderen Lernmethoden arbeiten." (Neill 1969, 24).

Zusammenfassend sollen nun im folgenden die Elemente seines antirepressiven Ansatzes aufgezeichnet werden. An dieser Stelle muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß sein Ansatz auf der Prämisse beruht, daß das Kind von Natur aus gut sei und sich aus sich selbst heraus frei entfalten und entwickeln kann.


    4. 4. Befindet sich das Schulmodell Summerhill in einer Existenzkrise?


Im Jahre 1994 erschienen in mehreren englischen und deutschen Zeitungen Artikel, die die Existenzberechtigung der Internatsschule Summerhill in Leiston in Frage stellten. Diese Diskussion wurde entfacht, nachdem eine staatliche Inspektion gravierende Mängel in Summerhill entdeckte. Am stärksten wurde das niedrige Bildungsniveau kritisiert. "Staatliche Inspektoren hätten überdies unflätige Sprache und häufiges Schulschwänzen moniert." (Der Spiegel August 1994). Die Qualität des Unterrichtens sei aber im allgemeinen befriedigend und die Ergebnisse, die in den Abschlußprüfungen erzielt werden, ließen erwarten, daß diese Schüler und Schülerinnen problemlos ihre Schulkarriere fortführen können. Die Inspektoren bestätigten, daß Summerhills Schüler und Schülerinnen über eine hohe Selbstwertschätzung verfügen und intensive Freundschaften zwischen Erwachsenen, Schülern und Schülerinnen bestehen (vgl. The Scotsman Mai 1994).

Bereits 1990 und auch 1994 wurden Mängel nicht nur bei den Lernfortschritten der Schüler und Schülerinnen festgestellt, sondern auch bei ihrer Unterbringung. Daraufhin wurden die Zimmer im Haupthaus renoviert und die geforderten zwei zusätzlichen Toiletten installiert (vgl. Times 29.12.1990). Wie aus mehreren Zeitungsartikeln aus dem Jahre 1990 hervorgeht, wurden auch die zu kleinen Klassenräume kritisiert. Noch heute versucht die Schule, zusätzliche Klassenräume zu schaffen. Festgestellte Mängel werden immer von Ultimaten begleitet, in denen sie beseitigt werden müssen. Bemängelt wurden die Unterkünfte: "living accommodation was ‘unsatisfactory', of ‘bleak appearance', almost all uncarpeted, and in some cases ‘unacceptable'!" (The Guardian Mai 1994). Dazu sagt Zoe Readhead in einem Interview: "The whole idea of Summerhill was designed to fit children, and our accommodation is user-friendly [...]. It is unusual to find a child who likes a tidy room. Eight out of ten children prefer to be able to drop water on the floor and not worry about it." (ohne Angabe, Zeitungsartikel 1994).

Auch der Wissensstand der Schüler und Schülerinnen wurde kritisiert: "Academic standards [...] were poor and not helped by the freedom of pupils to miss lesson or ignore entire subjects" (The Telegraph Mai 1994). Außerdem wurde moniert, daß der Standard in den Unterrichtsfächern Geographie, Geschichte, Musik und in den Naturwissenschaften zu wünschen übrig ließe. Ebenso wurde Religionsunterricht gefordert, was jedoch nicht im Einklang mit Neills Pädagogik steht. Die Tatsache, daß ein Bewertungsschema in Form von Noten fehlt, wurde ebenfalls negativ bewertet, mit der Erklärung, daß die schulischen Leistungen der Schüler und Schülerinnen nicht gemessen werden können. Der Unterricht wurde zwar als "satisfactory" (befriedigend) eingestuft, er könnte nach der Auffassung der Inspektoren jedoch durchaus verbessert werden.

Diese Auflistung von Kritikpunkten zeigt die unterschiedlichen Präferenzen von ‘normalen' Schulen im Vergleich zu Summerhill.

In Summerhill wird kein Wert auf akademische Bildung gelegt. Die Teilnahme am Unterricht ist freiwillig, deshalb kann es durchaus der Fall sein, daß ein Kind Defizite in klassischen Unterrichtsfächern zeigt, jedoch zeichnen sich Summerhill-Schüler und Schülerinnen oftmals durch eine hohe Kreativität aus. Daß die Kinder in Summerhill zufrieden, ausgeglichen, glücklich und freundlich wirken, wird nur am Rande erwähnt. Daher scheint es für die Schulinspektoren zwar bemerkenswert, aber keineswegs von besonderer Relevanz gewesen zu sein.

Ein weiterer Punkt, der von den Inspektoren übersehen und in ihrem Bericht nicht erwähnt wurde, sind die sogenannten "Schulversager", die auf den staatlichen Schulen nicht zurechtkamen und die Lust am Lernen verloren hatten, die aber in Summerhill Zeit und Gelegenheit bekommen, sich von ihren ‘Verletzungen' zu erholen und einen neuen Anfang wagen können.

Es stellt sich nun die Frage: Ist die Schule Summerhill durch eine restriktive und elitenorientierte Bildungspolitik der Regierung Major gefährdet?

Bedenkt man, daß die staatlichen Inspektionen regulär alle vier Jahre stattfinden, so ist es verwunderlich, wenn Summerhill dieser Art von Besuchen seit dem Amtsantritt John Majors 1990 jährlich unterzogen wird. John Major forderte ein "Back to Basics", also eine Rückbesinnung auf tradtitionell-sittliche Werte, da die gegenwärtige Erziehung in der Schule den Schülern und Schülerinnen Chancen rauben würde. Aufgrund des äußerst geringen Anteils an britischen Schülern und Schülerinnen in Summerhill liegt jedoch die Vermutung nahe, daß die strenge Überwachung Summerhills verbunden jeweils mit der Publikation der Inspektionsberichte in der Presse eher dem Bereich der symbolischen Politik zuzuordnen ist.

"Summerhill has had three HMI inspections recently, in 1990, 1992 and 1993. The 1990 inspection [...] was overdue, we had been more than twenty years without one. The 1992 inspection was because of the Channel Four film. The 1993 inspection was to follow up on 1992 [...] and to make sure that the school was going to live up to the requirements of the Children Act of 1989 that gives the social services new powers over boarding schools." (Lamb 1994, 7ff).

Auch in den folgenden Jahren fanden in regelmäßigen Abständen Schulinspektionen statt. 1994 wurde eine größere Schulinspektion durchgeführt, deren Bericht ("report") veröffentlicht wurde und dadurch in mehreren Zeitungen erschien. Eine Woche nach meinem Besuch in Summerhill fand am 6.März 1996 ebenfalls eine kleine Inspektion statt, die die Beseitigung der in 1995 von den Inspektoren bemängelten Dinge begutachtete.

Es liegt die Vermutung nahe, daß sich hinter den Punkten, die die Inspektoren bemängeln, auch eine grundsätzlichere Kritik verbirgt. Jede Inspektion, bei der Mängel moniert wurden, ermöglicht es den Inspektoren, nach sechs Monaten zu überprüfen, ob diese Mängel behoben wurden. Bei der Aufstellung der Mängelliste werden zum Vergleich stets staatliche Schulen herangezogen. Summerhill ist insofern gefährdet, als daß es so immer mehr an das staatliche Schulsystem angelehnt wird. So wirkt es paradox, wenn eine Anwesenheitsliste an einer Schule geführt werden soll, in der kein Schüler zum Erscheinen im Unterricht gezwungen werden darf?

Plant das englische Kultusminsterium eine weitere intensive Schulinspektion in absehbarer Zeit, dann besteht laut Zoe Readhead Grund zum Nachdenken. "That could mean real trouble." (Readhead 1994, 9). Außerdem richtet sie in diesem Bericht einen Appell an die interessierte Öffentlichkeit, den Zeitungsartikeln nicht übermäßigen Glauben zu schenken, sondern sich direkt mit derSchule in Verbindung zu setzen, denn allen Artikeln zum Trotz ist Summerhill so stark und stabil wie nie zu vor.

Die Internatsschule muß sich jedoch gegen immense Angriffen von außen bewähren, wie das folgende Beispiel zeigt.

Die im Rahmen des 70. Geburtstages von Summerhill 1991 gesendete englische TV-Dokumentation belastete den Ruf Summerhills stark. Die zweite HMI-Inspektion wurde aufgrund dieser Dokumentation in die Wege geleitet. Die ausgestrahlten Szenen, wie beispielsweise mehrere ausgelassene Schüler und Schülerinnen beiderlei Geschlechts, die gemeinsam unbekleidet baden, sowie ein Schüler (der Sohn von Zoe Readhead), der mit einer Axt den Kopf eines Kaninchens abschlägt und Schüler und Schülerinnen, die sich mit freiem Oberkörper nackt massieren, schockierten die englische Bevölkerung. Ebenso zeigt der Bericht, daß die Bettzeit nicht eingehalten wird und wie Kinder, Lehrer und Lehrerinnen mit Plastikpistolen spielen. Alles, was gezeigt wird, sind unausgeschlafene und verstörte Kinder. Die Stellungnahme des "House-Parent" Matthew Appletons zu diesem Bericht stellt klar, daß der Junge, der das Kaninchen schlachtete, Sohn eines Landwirtes ist und das Kaninchen von Myxomatose befallenen war. Ferner berichtet er, daß während der Dreharbeiten zu dieser Dokumentation einige ältere Problemkinder und viele kleinere Kinder anwesend waren, die das Leben in der Gemeinschaft und das Ausüben der Selbstbestimmung nachhaltig beeinflußten. Außerdem hatten die Summerhill- Schüler und Schülerinnen in einer Schulversammlung alle bis dahin bestehenden Regeln außer Kraft gesetzt, was nicht ungewöhnlich für Summerhill ist. Bereits nach kurzer Zeit, als den Beteiligten bewußt wurde, daß so die Freiheit des einzelnen nicht gewährt werden kann, wurden die allgemeingültigen Gesetze wieder in Kraft gesetzt. Die Darstellung Summerhills in der Reportage war also nicht repräsentativ für das Leben in Summerhill.

Hinzu kommt, daß auch die Zeitungsartikel, die über Summerhill berichten, fast immer einen negativen Unterton aufweisen. In einem Satz wird häufig erwähnt, daß die Schüler und Schülerinnen rauchen, küssen, fluchen und zusammen nackt baden dürfen. Die Zeitungen berichten, als ob dort jeder tun und lassen könnte, was ihm gefällt, und es sich bei den Schülern und Schülerinnen um eine "Schar Wilder handle, denen Gesetz und Manieren fremd sind" (Dietrich 1982, 135). Die Hintergründe werden nicht genannt. Und daß es sehr wohl Gesetze gibt, die einem Kind unter 14 Jahren das Rauchen verbieten, wird verborgen gehalten.

Ferner bleibt anzubringen, daß ein zunehmender Bildungskonservatismus die Bildungsalternative Summerhill gefährdet, denn die Erwartungen der Eltern werden auch durch die -egoistische- Auffassung geprägt, daß ihre Kinder mit solch einem Wissen bedient werden müßten, welches ihre Karriere fördern kann. Die Gesellschaft fordert Titel, Zensuren, Zeugnisse und Prüfungsarbeiten, die den intellektuellen Status bestimmen. Diplome und akademische Titel sind fast unerläßlich, wenn ein Durchschnittsmensch angemessen leben möchte. Eliteschulen wie Eton haben daher stets einen regen Zulauf, nicht zuletzt auch, weil Schüler wie Prinz William die Schule besuchen, was sicherlich für aufstiegsorientierte, statusbewußte Eltern von größter Bedeutung ist. Dieser Aspekt scheint den Schülern und Schülerinnen von Summerhill durchaus bewußt, wenn etwa ein ehemaliger Schüler schreibt, "daß nur wenige, auf künstlerischem Gebiet hochtalentierte Menschen heute noch existieren können, ohne vor diesem System zu kapitulieren" (Popenoe 1970, 81).